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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Böhmen

leiten aufputzen; Anastasius Grün dichtete slowenische Lieder, und daß man
alle polnischen Revolutionäre -- nicht bloß die für ihr erträumtes Glück starben,
sondern auch die gewerbetreibenden -- über die Maßen feierte, gehörte zum
stehenden Repertoire des Liberalismus. Daß der preußische Verfassungskonflikt
darum so erbittert wurde, weil Bismarck nicht dazu zu bringen war, den pol¬
nischen Aufstand zu unterstützen, ist noch in aller Erinnerung. Nun, heute
hat man die Bescherung.

Also, die Tschechen waren seit 1848 wieder da und sahen gar nicht danach
aus, als ob sie bald wieder in ihr früheres Nichts zurücksinken würden. Es
geschah ihnen auch nichts, denn Österreich hatte in Ungarn und Italien schwer
um seinen Bestand zu kämpfen und mußte froh sein, daß sie wieder eine loyale
Miene annahmen und den Kremsierer Reichstag beschickten. In dem Verfassungs¬
ausschuß, worin dort die österreichischen Völker zum erstenmal einander gegen¬
übertraten, erhob sich sofort der Streit um den historisch gewordnen Landes¬
verband und um die nach der ethnischen Siedelung abgegrenzten Provinzen mit
der Zweiteilung von Böhmen, Steiermark, Galizien und Tirol. Damals waren
die Tschechen noch bescheiden und traten für die nationale Abgrenzung der Pro¬
vinzen und die Zweiteilung ein, die Deutschen blieben bei der historischen Pro-
vinzialeinteilung des Staates. So waren die Deutschen gewissermaßen die Vor¬
kämpfer des historischen Stantsrechts, Palaeky und Rieger waren dagegen die
Wortführer des Rechts der Nationalitäten auf ein eignes nahezu staatliches
Dasein. Auch das Kurienwesen wurde zuerst von den Tschechen vertreten. In
dem heute vergessenen Kremsierer Verfassungsentwurf wurde schließlich ein Kom¬
promiß zwischen der ethnischen und der historischen Richtung von allen Nationen
einstimmig eingenommen, der dahin ging, daß die historische Provinzialcinteiluug
beibehalten werden solle, doch die großen Provinzen in mehrere möglichst national
gesonderte Kreise zu teilen seien, denen eine nahezu provinzielle Selbstverwaltung
gewährt werden sollte.

Der Kremsierer Reichstag und sein Werk verschwanden bei der herein¬
brechenden Reaktion spurlos, aber es mutet heute, nachdem mancherlei Ver-
fassnngsexperimente, Dualismus und Parlameutswirreu über Österreich hin¬
gerauscht sind, sonderbar an, daß genau dieselben Fragen der Länderautonvmie,
nationaler Zweiteilung, Kurier ?e. wieder zum Brennpunkt der innern Friedens¬
bestrebungen geworden sind wie damals, als die Völker Österreichs zum ersten¬
mal berufen worden waren, ihre Meinung über die zukünftige Gestaltung des
Staates zu äußern. Aber damals vertraten die Tschechen die Zweiteilung und
das Kurienwesen, heute tut das die Mehrzahl der Deutschen, und es ist keines¬
wegs eine Inkonsequenz in der Auffassung der österreichischen Politik oder
mangelnde Voraussicht bei den Deutschösterreichern, wenn jetzt der Standpunkt
zwischen ihnen und den Tschechen vollkommen gewechselt erscheint, man hat
einfach eine Folge des geänderten Machtgefühls vor sich. Damals fühlten sich
die Tschechen schwach, heute ist deu Deutschösterreichcrn, gerade je mehr sie sich
in ihren lautesten Schreiern mit ihren Vorfahren, die Österreich gründeten, und
den Siegern, die "die Wacht am Rhein" wirklich schlugen, gleichstellen möchten,
im Innern das Machtgefühl vollkommen geschwunden. Das Territorialprinzip


Böhmen

leiten aufputzen; Anastasius Grün dichtete slowenische Lieder, und daß man
alle polnischen Revolutionäre — nicht bloß die für ihr erträumtes Glück starben,
sondern auch die gewerbetreibenden — über die Maßen feierte, gehörte zum
stehenden Repertoire des Liberalismus. Daß der preußische Verfassungskonflikt
darum so erbittert wurde, weil Bismarck nicht dazu zu bringen war, den pol¬
nischen Aufstand zu unterstützen, ist noch in aller Erinnerung. Nun, heute
hat man die Bescherung.

Also, die Tschechen waren seit 1848 wieder da und sahen gar nicht danach
aus, als ob sie bald wieder in ihr früheres Nichts zurücksinken würden. Es
geschah ihnen auch nichts, denn Österreich hatte in Ungarn und Italien schwer
um seinen Bestand zu kämpfen und mußte froh sein, daß sie wieder eine loyale
Miene annahmen und den Kremsierer Reichstag beschickten. In dem Verfassungs¬
ausschuß, worin dort die österreichischen Völker zum erstenmal einander gegen¬
übertraten, erhob sich sofort der Streit um den historisch gewordnen Landes¬
verband und um die nach der ethnischen Siedelung abgegrenzten Provinzen mit
der Zweiteilung von Böhmen, Steiermark, Galizien und Tirol. Damals waren
die Tschechen noch bescheiden und traten für die nationale Abgrenzung der Pro¬
vinzen und die Zweiteilung ein, die Deutschen blieben bei der historischen Pro-
vinzialeinteilung des Staates. So waren die Deutschen gewissermaßen die Vor¬
kämpfer des historischen Stantsrechts, Palaeky und Rieger waren dagegen die
Wortführer des Rechts der Nationalitäten auf ein eignes nahezu staatliches
Dasein. Auch das Kurienwesen wurde zuerst von den Tschechen vertreten. In
dem heute vergessenen Kremsierer Verfassungsentwurf wurde schließlich ein Kom¬
promiß zwischen der ethnischen und der historischen Richtung von allen Nationen
einstimmig eingenommen, der dahin ging, daß die historische Provinzialcinteiluug
beibehalten werden solle, doch die großen Provinzen in mehrere möglichst national
gesonderte Kreise zu teilen seien, denen eine nahezu provinzielle Selbstverwaltung
gewährt werden sollte.

Der Kremsierer Reichstag und sein Werk verschwanden bei der herein¬
brechenden Reaktion spurlos, aber es mutet heute, nachdem mancherlei Ver-
fassnngsexperimente, Dualismus und Parlameutswirreu über Österreich hin¬
gerauscht sind, sonderbar an, daß genau dieselben Fragen der Länderautonvmie,
nationaler Zweiteilung, Kurier ?e. wieder zum Brennpunkt der innern Friedens¬
bestrebungen geworden sind wie damals, als die Völker Österreichs zum ersten¬
mal berufen worden waren, ihre Meinung über die zukünftige Gestaltung des
Staates zu äußern. Aber damals vertraten die Tschechen die Zweiteilung und
das Kurienwesen, heute tut das die Mehrzahl der Deutschen, und es ist keines¬
wegs eine Inkonsequenz in der Auffassung der österreichischen Politik oder
mangelnde Voraussicht bei den Deutschösterreichern, wenn jetzt der Standpunkt
zwischen ihnen und den Tschechen vollkommen gewechselt erscheint, man hat
einfach eine Folge des geänderten Machtgefühls vor sich. Damals fühlten sich
die Tschechen schwach, heute ist deu Deutschösterreichcrn, gerade je mehr sie sich
in ihren lautesten Schreiern mit ihren Vorfahren, die Österreich gründeten, und
den Siegern, die „die Wacht am Rhein" wirklich schlugen, gleichstellen möchten,
im Innern das Machtgefühl vollkommen geschwunden. Das Territorialprinzip


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/349>, abgerufen am 25.11.2024.