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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die orientalische Frage

mische Begehrlichkeit in einem wüsten Durcheinander, Hier sind noch keine
Ansätze zu einer kräftigen, dauernden Gestaltung der Dinge vorhanden, einer¬
seits weil der serbische Volksstamm politisch weit hinter dem rumänischen und
dein bulgarischen zurücksteht, andrerseits weil hier unmittelbar eine Großmacht
beteiligt ist, in der sich selbst ein Gärungsprozeß vollzieht, den zum Teil die¬
selben Ursachen hervorgerufen haben, die bei dem Zersetzungsprozesse der Türkei
wirksam sind.

Man hat dem gegenwärtigen Leiter des Auswärtigen Amts in Wien,
dem Grafen Goluchowski, häufig den Vorwurf gemacht, daß er sich durch das
Abkommen vom Jahre 1897 mit Rußland habe unnötigerweise die Hände
binden lassen, da Rußland durch die sich damals in Ostasien vorbereitenden
Umwälzungen im europäischen Orient ohnehin zur Passivität verurteilt, mithin
für Österreich-Ungarn die Gelegenheit günstig gewesen sei, Rußland auf der
Balkauhnlbiusel den Raug abzulaufen. Der Versäumnisse des Grafen Go¬
luchowski und seiner jede irgendwelche Verantwortung in sich fassende Tat
scheuenden Politik sind gewiß viele, aber in diesem Punkt irrt die Kritik, da
die Vorfrage, ob Österreich-Ungarn wirklich imstande gewesen wäre, die durch
die ostasiatischen Verwicklungen veranlaßte Passivität Rußlands im Westen in
der angedeuteten Weise auszunutzen, verneint werden muß. -- Es ist richtig,
daß die Entwicklung Bulgarieus und die Auflösung des chinesischen Reichs
die Balkanpolitik Rußlands scheinbar konservativ gemacht haben. Nußland
will gegenwärtig aus den schon erläuterten Gründen keine territorialen Ver-
änderungen ans der Balkanhalbinsel, und darum strebte es, als sich die -uake-
douischeu Unruhen regelmäßig alljährlich einstellten und die Dinge in Ost¬
asien reiften, eine Annäherung an Österreich-Ungarn und einen Vertrag an,
worin beide Mächte übereinkämen, jede territoriale Veränderung ans der
Balkanhalbinsel zu verhindern. Das entsprach vollkommen der Richtung der
russischen Politik seit dem Berliner Frieden; wenn man aber behauptet, daß
Österreich-Ungarn aus diesem Abkommen keinen Vorteil gezogen habe, so ver¬
gißt mau, daß Italien seit der Vermählung des gegenwärtigen Königs mit
einer Tochter des Fürsten von Montenegro mit Eifer alte vermeintliche An¬
sprüche auf die Ostküste der Adria geltend macht und sich in die Stellung
eines legitimen Teilhabers an der türkischen Erbschaft zu drängen sucht. Daß
sich König Viktor Emanuel der Zweite nach seiner Thronbesteigung zuerst am
Zarenhof vorstellte, bewies, daß Italien begonnen hatte, tätige Orientpolitik
zu machen; die kühle Ablehnung, die es dabei in Petersburg faud, war aber
die Frucht des österreichisch-russischen Abkommens vom Jahre 1897. Wenn man
nun berücksichtigt, daß Österreich-Ungarn einen russischen Marsch ans Kon-
stcintinvpel nicht mehr zu fürchten hat, dann sprach, vom Standpunkte der
Wiener Politik aus betrachtet, jedenfalls alles für den Abschluß des Überein¬
kommens vom Jahre 1897, da andrerseits wohl ein Einvernehmen Rußlands
mit Italien in der orientalischen Frage erfolgt, und dadurch, ganz abgesehen
von der Rückwirkung auf die gesamte europäische Konstellation, Österreich-
Ungarn gerade wegen der orientalischen Frage in eine recht üble Lage ge¬
kommen wäre.

Durch die Vereinfachung der Aufgaben seiner auswärtigen Politik ist es


Die orientalische Frage

mische Begehrlichkeit in einem wüsten Durcheinander, Hier sind noch keine
Ansätze zu einer kräftigen, dauernden Gestaltung der Dinge vorhanden, einer¬
seits weil der serbische Volksstamm politisch weit hinter dem rumänischen und
dein bulgarischen zurücksteht, andrerseits weil hier unmittelbar eine Großmacht
beteiligt ist, in der sich selbst ein Gärungsprozeß vollzieht, den zum Teil die¬
selben Ursachen hervorgerufen haben, die bei dem Zersetzungsprozesse der Türkei
wirksam sind.

Man hat dem gegenwärtigen Leiter des Auswärtigen Amts in Wien,
dem Grafen Goluchowski, häufig den Vorwurf gemacht, daß er sich durch das
Abkommen vom Jahre 1897 mit Rußland habe unnötigerweise die Hände
binden lassen, da Rußland durch die sich damals in Ostasien vorbereitenden
Umwälzungen im europäischen Orient ohnehin zur Passivität verurteilt, mithin
für Österreich-Ungarn die Gelegenheit günstig gewesen sei, Rußland auf der
Balkauhnlbiusel den Raug abzulaufen. Der Versäumnisse des Grafen Go¬
luchowski und seiner jede irgendwelche Verantwortung in sich fassende Tat
scheuenden Politik sind gewiß viele, aber in diesem Punkt irrt die Kritik, da
die Vorfrage, ob Österreich-Ungarn wirklich imstande gewesen wäre, die durch
die ostasiatischen Verwicklungen veranlaßte Passivität Rußlands im Westen in
der angedeuteten Weise auszunutzen, verneint werden muß. — Es ist richtig,
daß die Entwicklung Bulgarieus und die Auflösung des chinesischen Reichs
die Balkanpolitik Rußlands scheinbar konservativ gemacht haben. Nußland
will gegenwärtig aus den schon erläuterten Gründen keine territorialen Ver-
änderungen ans der Balkanhalbinsel, und darum strebte es, als sich die -uake-
douischeu Unruhen regelmäßig alljährlich einstellten und die Dinge in Ost¬
asien reiften, eine Annäherung an Österreich-Ungarn und einen Vertrag an,
worin beide Mächte übereinkämen, jede territoriale Veränderung ans der
Balkanhalbinsel zu verhindern. Das entsprach vollkommen der Richtung der
russischen Politik seit dem Berliner Frieden; wenn man aber behauptet, daß
Österreich-Ungarn aus diesem Abkommen keinen Vorteil gezogen habe, so ver¬
gißt mau, daß Italien seit der Vermählung des gegenwärtigen Königs mit
einer Tochter des Fürsten von Montenegro mit Eifer alte vermeintliche An¬
sprüche auf die Ostküste der Adria geltend macht und sich in die Stellung
eines legitimen Teilhabers an der türkischen Erbschaft zu drängen sucht. Daß
sich König Viktor Emanuel der Zweite nach seiner Thronbesteigung zuerst am
Zarenhof vorstellte, bewies, daß Italien begonnen hatte, tätige Orientpolitik
zu machen; die kühle Ablehnung, die es dabei in Petersburg faud, war aber
die Frucht des österreichisch-russischen Abkommens vom Jahre 1897. Wenn man
nun berücksichtigt, daß Österreich-Ungarn einen russischen Marsch ans Kon-
stcintinvpel nicht mehr zu fürchten hat, dann sprach, vom Standpunkte der
Wiener Politik aus betrachtet, jedenfalls alles für den Abschluß des Überein¬
kommens vom Jahre 1897, da andrerseits wohl ein Einvernehmen Rußlands
mit Italien in der orientalischen Frage erfolgt, und dadurch, ganz abgesehen
von der Rückwirkung auf die gesamte europäische Konstellation, Österreich-
Ungarn gerade wegen der orientalischen Frage in eine recht üble Lage ge¬
kommen wäre.

Durch die Vereinfachung der Aufgaben seiner auswärtigen Politik ist es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/339>, abgerufen am 24.11.2024.