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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Machtmittel als die Wirkungen des Wachstums der in dem Begriff der Kultur
zusammengefaßten Erscheinungen halfen. Der Kampf zwischen Heinrich dem Vierten
und Gregor dem Siebenten drehte sich im wesentlichen um die unklare Stellung
der Bischöfe, die zugleich kaiserliche Verwaltungsbeamte großen Stils waren. Die
Kämpfe der Staufer mit den Päpsten wurden vornehmlich durch die Territorial¬
politik beider Mächte in Italien veranlaßt. Erst in den Streit Kaiser Ludwigs
des Bayern mit der Kurie im vierzehnten Jahrhundert mischten sich dogmatisch-
religiöse Meinungen ein. Die Selbständigkeit errang aber natürlich zuerst der
Staat, dem die Schaffung eines weltlichen Beamtenstandes am schnellsten gelang.
Das war Frankreich, dem die starke Beimischung römischer Elemente dazu half,
und so siegte Philipp der Vierte schon am Beginn des vierzehnten Jahrhunderts
rasch und nachdrücklich.

Jedoch nicht allein in der Verwaltung beruhte die Überlegenheit der Kirche,
sie war auch materiell die größte Macht und wissenschaftlich die einzige. Die Geld¬
wirtschaft mußte sich erst ausbreiten, um dem Staat die Haltung von Beamten in
einem klaren Dienstverhältnis zu ermöglichen, ihn materiell zu kräftigen, und es
bedürfte einer ebenso langen Bewegung, daß eine weltliche Bildung reifen konnte.
Wie sich die Bezeichnung elsro aus olsrivnZ umgewandelt,hat, ist das Wort eine
kleine Erinnerung an jene alten Zeiten.

Von dem Mark der Kirche genährt, wuchs der Staat so zur Mündigkeit heran.
Als er über einen eignen Beamtenstand mit Sicherheit verfügte und ausreichende
Finanzmittel besaß, als die weltliche Bildung die geistliche überflügelte, da war der
Staat als Macht der Kirche gewachsen. Und wo man zudem die kirchliche Lehre
innerlich genügend verarbeitet hatte, da bedürfte es nur des rechten Mannes am
rechten Platze, auch ihre Änderung und Vertiefung zu begründen, sowie die Reinigung
der sie umschließenden Formen von Unreligiösem herbeizuführen.

Es ist die Voraussetzung und das Ergebnis dieser Kämpfe, die nur dann
aufhören könnten, wenn etwa jemals einer der beiden Kämpfer unterginge: sowohl
der Staat wie die römische Kirche sind Organisationen der menschlichen Gesellschaft,
gehn aber von einander entgegengesetzten Ideen aus. Der Staat will dem Menschen
die Existenz sichern, die Kirche will seine religiösen Bedürfnisse befriedigen. Von
beiden Punkten gelangt man zu Verbänden, deren übereinstimmendes Wesen ist, zu
herrschen. Ihre Verschiedenheit liegt in den Mitteln, die sie hierzu anwenden, und
darin, daß der Staat dem Einzelnen ein großes inneres Gebiet freiläßt, ihm eine
"Burgfreiheit der Persönlichkeit" einräumt, während die römische Kirche wenigstens
in der Theorie, und wo sie es vermag, auch in der Praxis den ganzen Menschen
umspannt und ihn völlig für sich in Anspruch nimmt. Man übertreibt, wenn man
die katholische Kirche gar nicht als "religiöses Shstem" anerkennt, sondern sie schlecht¬
weg für ein "religiös maskiertes System" erklären will (so Paul de Lagarde,
Deutsche Schriften Seite 90). Da nun beides, das Leben in dieser Welt und ihre
Beherrschung wie die transcendente Richtung ini Menschen gegründet sind, so kommt
es darauf nu, wie sich diese Bedürfnisse in einer gegebnen Zeit zueinander ver-
hlaten, welches von ihnen überwiegt. Hiervon hängt es ab, wie sich die beiden
Organisationen in einem Volke gestalten.

Will man den Versuch machen, ihre Leistungen miteinander zu vergleichen
und danach ein Werturteil zu fällen, so wird man auf Grund der Erfahrungen
sagen dürfen, daß der Staat überlegen ist. Denn er schützt, kräftig ausgebildet,
den Menschen ihr Dasein und erlaubt ihnen damit auch ihren geistigen und reli¬
giösen Bestrebungen nachzugehn. Die Kirche dagegen, deren Bau gleichsam von
oben beginnt und in der Lust schwebt, hat es noch nie verstanden und muß es
eines ihrer Idee nach gering schätzen, dem Menschen das Leben sicher und behag¬
lich einzurichten. "Staat-Kirche" und "Kirchen-Staat" wollen alles auf einmal
sein und tun und bleiben deshalb hinter dem Staat und hinter der Kirche zurück,
die sich nur der Verfolgung ihrer wahren und reinen Idee widmen.

Wer nüchtern überlegt, wird also nicht zweifelhaft sein können, welcher Ver-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Machtmittel als die Wirkungen des Wachstums der in dem Begriff der Kultur
zusammengefaßten Erscheinungen halfen. Der Kampf zwischen Heinrich dem Vierten
und Gregor dem Siebenten drehte sich im wesentlichen um die unklare Stellung
der Bischöfe, die zugleich kaiserliche Verwaltungsbeamte großen Stils waren. Die
Kämpfe der Staufer mit den Päpsten wurden vornehmlich durch die Territorial¬
politik beider Mächte in Italien veranlaßt. Erst in den Streit Kaiser Ludwigs
des Bayern mit der Kurie im vierzehnten Jahrhundert mischten sich dogmatisch-
religiöse Meinungen ein. Die Selbständigkeit errang aber natürlich zuerst der
Staat, dem die Schaffung eines weltlichen Beamtenstandes am schnellsten gelang.
Das war Frankreich, dem die starke Beimischung römischer Elemente dazu half,
und so siegte Philipp der Vierte schon am Beginn des vierzehnten Jahrhunderts
rasch und nachdrücklich.

Jedoch nicht allein in der Verwaltung beruhte die Überlegenheit der Kirche,
sie war auch materiell die größte Macht und wissenschaftlich die einzige. Die Geld¬
wirtschaft mußte sich erst ausbreiten, um dem Staat die Haltung von Beamten in
einem klaren Dienstverhältnis zu ermöglichen, ihn materiell zu kräftigen, und es
bedürfte einer ebenso langen Bewegung, daß eine weltliche Bildung reifen konnte.
Wie sich die Bezeichnung elsro aus olsrivnZ umgewandelt,hat, ist das Wort eine
kleine Erinnerung an jene alten Zeiten.

Von dem Mark der Kirche genährt, wuchs der Staat so zur Mündigkeit heran.
Als er über einen eignen Beamtenstand mit Sicherheit verfügte und ausreichende
Finanzmittel besaß, als die weltliche Bildung die geistliche überflügelte, da war der
Staat als Macht der Kirche gewachsen. Und wo man zudem die kirchliche Lehre
innerlich genügend verarbeitet hatte, da bedürfte es nur des rechten Mannes am
rechten Platze, auch ihre Änderung und Vertiefung zu begründen, sowie die Reinigung
der sie umschließenden Formen von Unreligiösem herbeizuführen.

Es ist die Voraussetzung und das Ergebnis dieser Kämpfe, die nur dann
aufhören könnten, wenn etwa jemals einer der beiden Kämpfer unterginge: sowohl
der Staat wie die römische Kirche sind Organisationen der menschlichen Gesellschaft,
gehn aber von einander entgegengesetzten Ideen aus. Der Staat will dem Menschen
die Existenz sichern, die Kirche will seine religiösen Bedürfnisse befriedigen. Von
beiden Punkten gelangt man zu Verbänden, deren übereinstimmendes Wesen ist, zu
herrschen. Ihre Verschiedenheit liegt in den Mitteln, die sie hierzu anwenden, und
darin, daß der Staat dem Einzelnen ein großes inneres Gebiet freiläßt, ihm eine
„Burgfreiheit der Persönlichkeit" einräumt, während die römische Kirche wenigstens
in der Theorie, und wo sie es vermag, auch in der Praxis den ganzen Menschen
umspannt und ihn völlig für sich in Anspruch nimmt. Man übertreibt, wenn man
die katholische Kirche gar nicht als „religiöses Shstem" anerkennt, sondern sie schlecht¬
weg für ein „religiös maskiertes System" erklären will (so Paul de Lagarde,
Deutsche Schriften Seite 90). Da nun beides, das Leben in dieser Welt und ihre
Beherrschung wie die transcendente Richtung ini Menschen gegründet sind, so kommt
es darauf nu, wie sich diese Bedürfnisse in einer gegebnen Zeit zueinander ver-
hlaten, welches von ihnen überwiegt. Hiervon hängt es ab, wie sich die beiden
Organisationen in einem Volke gestalten.

Will man den Versuch machen, ihre Leistungen miteinander zu vergleichen
und danach ein Werturteil zu fällen, so wird man auf Grund der Erfahrungen
sagen dürfen, daß der Staat überlegen ist. Denn er schützt, kräftig ausgebildet,
den Menschen ihr Dasein und erlaubt ihnen damit auch ihren geistigen und reli¬
giösen Bestrebungen nachzugehn. Die Kirche dagegen, deren Bau gleichsam von
oben beginnt und in der Lust schwebt, hat es noch nie verstanden und muß es
eines ihrer Idee nach gering schätzen, dem Menschen das Leben sicher und behag¬
lich einzurichten. „Staat-Kirche" und „Kirchen-Staat" wollen alles auf einmal
sein und tun und bleiben deshalb hinter dem Staat und hinter der Kirche zurück,
die sich nur der Verfolgung ihrer wahren und reinen Idee widmen.

Wer nüchtern überlegt, wird also nicht zweifelhaft sein können, welcher Ver-


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[0320] Maßgebliches und Unmaßgebliches Machtmittel als die Wirkungen des Wachstums der in dem Begriff der Kultur zusammengefaßten Erscheinungen halfen. Der Kampf zwischen Heinrich dem Vierten und Gregor dem Siebenten drehte sich im wesentlichen um die unklare Stellung der Bischöfe, die zugleich kaiserliche Verwaltungsbeamte großen Stils waren. Die Kämpfe der Staufer mit den Päpsten wurden vornehmlich durch die Territorial¬ politik beider Mächte in Italien veranlaßt. Erst in den Streit Kaiser Ludwigs des Bayern mit der Kurie im vierzehnten Jahrhundert mischten sich dogmatisch- religiöse Meinungen ein. Die Selbständigkeit errang aber natürlich zuerst der Staat, dem die Schaffung eines weltlichen Beamtenstandes am schnellsten gelang. Das war Frankreich, dem die starke Beimischung römischer Elemente dazu half, und so siegte Philipp der Vierte schon am Beginn des vierzehnten Jahrhunderts rasch und nachdrücklich. Jedoch nicht allein in der Verwaltung beruhte die Überlegenheit der Kirche, sie war auch materiell die größte Macht und wissenschaftlich die einzige. Die Geld¬ wirtschaft mußte sich erst ausbreiten, um dem Staat die Haltung von Beamten in einem klaren Dienstverhältnis zu ermöglichen, ihn materiell zu kräftigen, und es bedürfte einer ebenso langen Bewegung, daß eine weltliche Bildung reifen konnte. Wie sich die Bezeichnung elsro aus olsrivnZ umgewandelt,hat, ist das Wort eine kleine Erinnerung an jene alten Zeiten. Von dem Mark der Kirche genährt, wuchs der Staat so zur Mündigkeit heran. Als er über einen eignen Beamtenstand mit Sicherheit verfügte und ausreichende Finanzmittel besaß, als die weltliche Bildung die geistliche überflügelte, da war der Staat als Macht der Kirche gewachsen. Und wo man zudem die kirchliche Lehre innerlich genügend verarbeitet hatte, da bedürfte es nur des rechten Mannes am rechten Platze, auch ihre Änderung und Vertiefung zu begründen, sowie die Reinigung der sie umschließenden Formen von Unreligiösem herbeizuführen. Es ist die Voraussetzung und das Ergebnis dieser Kämpfe, die nur dann aufhören könnten, wenn etwa jemals einer der beiden Kämpfer unterginge: sowohl der Staat wie die römische Kirche sind Organisationen der menschlichen Gesellschaft, gehn aber von einander entgegengesetzten Ideen aus. Der Staat will dem Menschen die Existenz sichern, die Kirche will seine religiösen Bedürfnisse befriedigen. Von beiden Punkten gelangt man zu Verbänden, deren übereinstimmendes Wesen ist, zu herrschen. Ihre Verschiedenheit liegt in den Mitteln, die sie hierzu anwenden, und darin, daß der Staat dem Einzelnen ein großes inneres Gebiet freiläßt, ihm eine „Burgfreiheit der Persönlichkeit" einräumt, während die römische Kirche wenigstens in der Theorie, und wo sie es vermag, auch in der Praxis den ganzen Menschen umspannt und ihn völlig für sich in Anspruch nimmt. Man übertreibt, wenn man die katholische Kirche gar nicht als „religiöses Shstem" anerkennt, sondern sie schlecht¬ weg für ein „religiös maskiertes System" erklären will (so Paul de Lagarde, Deutsche Schriften Seite 90). Da nun beides, das Leben in dieser Welt und ihre Beherrschung wie die transcendente Richtung ini Menschen gegründet sind, so kommt es darauf nu, wie sich diese Bedürfnisse in einer gegebnen Zeit zueinander ver- hlaten, welches von ihnen überwiegt. Hiervon hängt es ab, wie sich die beiden Organisationen in einem Volke gestalten. Will man den Versuch machen, ihre Leistungen miteinander zu vergleichen und danach ein Werturteil zu fällen, so wird man auf Grund der Erfahrungen sagen dürfen, daß der Staat überlegen ist. Denn er schützt, kräftig ausgebildet, den Menschen ihr Dasein und erlaubt ihnen damit auch ihren geistigen und reli¬ giösen Bestrebungen nachzugehn. Die Kirche dagegen, deren Bau gleichsam von oben beginnt und in der Lust schwebt, hat es noch nie verstanden und muß es eines ihrer Idee nach gering schätzen, dem Menschen das Leben sicher und behag¬ lich einzurichten. „Staat-Kirche" und „Kirchen-Staat" wollen alles auf einmal sein und tun und bleiben deshalb hinter dem Staat und hinter der Kirche zurück, die sich nur der Verfolgung ihrer wahren und reinen Idee widmen. Wer nüchtern überlegt, wird also nicht zweifelhaft sein können, welcher Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/320>, abgerufen am 26.11.2024.