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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

die Worte fort: der König ist tot. Mehr vermochte er nicht in sich aufzunehmen.
Er bemerkte nicht, wie die Pferde losgeschirrt und in den Stall geleitet wurden,
wie man andre herbeiführte und zu beiden Seiten der Deichsel aufstellte, er schenkte
dem Postknechte keine Beachtung, der sein Gepäck aus dem Hause schleppte und
sich anschickte, den schweren Koffer aufzuladen, und erwachte erst aus seinem traum¬
haften Zustande, als ihm der PostHalter die Hand auf die Schulter legte und ihn
fragte, ob er vor der Abreise noch ein Frühstück zu sich zu nehmen wünsche.

Abreise? Wohin?

Nach Diedenhofen.

Richtig! Ich hatte ja einen Platz belegt. Aber ich werde nicht mitfahren.
Lassen Sie mein Gepäck wieder ins Haus bringen. Es hat keinen Zweck mehr,
nach Paris zu reisen. Der König ist tot --

Mausetot! bestätigte der Postillon, der seine Verpflichtung, auf das Wohl der
Russin zu trinken, offenbar sehr ernst genommen hatte, und infolgedessen nur mit
Unterstützung des Knechts auf den Kutschbock klettern konnte.

Marigny maß den Landsmann mit einem Blicke voll Abscheu und begab sich
langsam in das Gastzimmer zurück, wo er die alte Dame zwischen ihren Koffern,
Kisten und Schachteln hinter einem Glase Punsch sitzen fand. Sie war entzückt,
als sie vernahm, daß sie einen Reisegefährten bekommen sollte, und noch entzückter,
als dieser sich ihr als Mnrgnis vou Mariguy zu erkennen gab.

Bis zur Abfahrt des Trierer Wagens hatte man noch eine Stunde Zeit, und
die Gräfin glaubte sich und ihrem neuen Bekannten diese Frist nicht besser ver¬
kürzen zu können als dadurch, daß sie ihm so ausführlich wie möglich über die
Pariser Ereignisse der letzten Wochen berichtete. Der alte Herr hörte schweigend
zu oder gab sich wenigstens den Anschein, als ob er es täte. In Wirklichkeit war
ihm das, was die Dame zu berichten wußte, ziemlich gleichgiltig, und nicht einmal
ihre Schilderung von Verhör und Verurteilung Ludwigs des Sechzehnten vermochte
ihn als etwas der Vergangenheit Angehörendes sonderlich zu erregen. Der König
war tot -- dieses Eine wog so schwer, war so ungeheuerlich, daß alles andre
daneben verblassen mußte. Nur als die Russin erzählte, auch der Herzog von
Orleans habe für den Tod seines königlichen Vetters gestimmt, ballte Marigny die
Faust, beruhigte sich aber sogleich wieder und murmelte nnr: Er hat wie ein Orleans
gehandelt. Die Orleans sind von jeher Schurken gewesen.

Die Dame hatte diese augenblickliche Bewegung des Zuhörers wohl bemerkt
und schwieg, um ihm Zeit zu lassen, seinen Zorn zu verwinden. Wie erstaunte
sie, als er plötzlich mit umflorter Stimme die Worte an sie richtete: Madame, Sie
sind Russin, nicht wahr? Man hat mir so oft die russische Kohlsuppe gerühmt.
Könnten Sie mir nicht sagen, wie dieses Gericht zubereitet wird?

Die Gräfin sah ihr Gegenüber einen Augenblick ratlos an. Sie mochte arg¬
wöhnen, daß es mit seinem Kopfe nicht ganz richtig bestellt sei. Da sie aber in
seinen Zügen nichts Verstörtes zu entdecken vermochte, entgegnete sie: Kohlsuppe
ist etwas sehr Gutes. Ich glaube nicht, daß es auf der Welt irgend etwas gibt,
was sich damit vergleichen ließe. Sie ist das Lieblingsgericht der Kaiserin wie
des ärmsten Bauern oder Leibeignen. Aber, wie man sie kocht, weiß ich nicht.
Das überläßt man bei nus der Dienerschaft. Und dann erzählte sie von ihrem
Gute bei Tschndowo, das sie seit vier Jahren nicht gesehen hätte, und von Wassilis,
ihrem älteste" Sohne, der es bewirtschafte, von Dmitrij, ihrem zweiten, der Rat
im Admiralitätskollegium sei und die Gewehrfabrik in Tula leite, und von ihrem
dritten, der zu keinem Berufe Lust gehabt habe, aber ganz ausgezeichnet Violine
spiele. Zuletzt kam sie aus ihre Leute, auf den Kutscher Iwan, der vierundachtzig
Jahre zähle und im letzten Sommer zum fünften male geheiratet habe, auf den
Jäger Boris Feodorowitsch, der ihrem Manne bei einer Bärenjagd das Leben ge¬
rettet, und ans die Kammerfrau Tatjaua, die nach französischen Mvdekupferu die
herrlichste" Kleider anzufertigen verstehe. Und je lebhafter sie vou den Zuständen
ihrer Heimat, die sie bald wiederzusehen hoffte, sprach, desto mehr röteten sich


Der Marquis von Marigny

die Worte fort: der König ist tot. Mehr vermochte er nicht in sich aufzunehmen.
Er bemerkte nicht, wie die Pferde losgeschirrt und in den Stall geleitet wurden,
wie man andre herbeiführte und zu beiden Seiten der Deichsel aufstellte, er schenkte
dem Postknechte keine Beachtung, der sein Gepäck aus dem Hause schleppte und
sich anschickte, den schweren Koffer aufzuladen, und erwachte erst aus seinem traum¬
haften Zustande, als ihm der PostHalter die Hand auf die Schulter legte und ihn
fragte, ob er vor der Abreise noch ein Frühstück zu sich zu nehmen wünsche.

Abreise? Wohin?

Nach Diedenhofen.

Richtig! Ich hatte ja einen Platz belegt. Aber ich werde nicht mitfahren.
Lassen Sie mein Gepäck wieder ins Haus bringen. Es hat keinen Zweck mehr,
nach Paris zu reisen. Der König ist tot —

Mausetot! bestätigte der Postillon, der seine Verpflichtung, auf das Wohl der
Russin zu trinken, offenbar sehr ernst genommen hatte, und infolgedessen nur mit
Unterstützung des Knechts auf den Kutschbock klettern konnte.

Marigny maß den Landsmann mit einem Blicke voll Abscheu und begab sich
langsam in das Gastzimmer zurück, wo er die alte Dame zwischen ihren Koffern,
Kisten und Schachteln hinter einem Glase Punsch sitzen fand. Sie war entzückt,
als sie vernahm, daß sie einen Reisegefährten bekommen sollte, und noch entzückter,
als dieser sich ihr als Mnrgnis vou Mariguy zu erkennen gab.

Bis zur Abfahrt des Trierer Wagens hatte man noch eine Stunde Zeit, und
die Gräfin glaubte sich und ihrem neuen Bekannten diese Frist nicht besser ver¬
kürzen zu können als dadurch, daß sie ihm so ausführlich wie möglich über die
Pariser Ereignisse der letzten Wochen berichtete. Der alte Herr hörte schweigend
zu oder gab sich wenigstens den Anschein, als ob er es täte. In Wirklichkeit war
ihm das, was die Dame zu berichten wußte, ziemlich gleichgiltig, und nicht einmal
ihre Schilderung von Verhör und Verurteilung Ludwigs des Sechzehnten vermochte
ihn als etwas der Vergangenheit Angehörendes sonderlich zu erregen. Der König
war tot — dieses Eine wog so schwer, war so ungeheuerlich, daß alles andre
daneben verblassen mußte. Nur als die Russin erzählte, auch der Herzog von
Orleans habe für den Tod seines königlichen Vetters gestimmt, ballte Marigny die
Faust, beruhigte sich aber sogleich wieder und murmelte nnr: Er hat wie ein Orleans
gehandelt. Die Orleans sind von jeher Schurken gewesen.

Die Dame hatte diese augenblickliche Bewegung des Zuhörers wohl bemerkt
und schwieg, um ihm Zeit zu lassen, seinen Zorn zu verwinden. Wie erstaunte
sie, als er plötzlich mit umflorter Stimme die Worte an sie richtete: Madame, Sie
sind Russin, nicht wahr? Man hat mir so oft die russische Kohlsuppe gerühmt.
Könnten Sie mir nicht sagen, wie dieses Gericht zubereitet wird?

Die Gräfin sah ihr Gegenüber einen Augenblick ratlos an. Sie mochte arg¬
wöhnen, daß es mit seinem Kopfe nicht ganz richtig bestellt sei. Da sie aber in
seinen Zügen nichts Verstörtes zu entdecken vermochte, entgegnete sie: Kohlsuppe
ist etwas sehr Gutes. Ich glaube nicht, daß es auf der Welt irgend etwas gibt,
was sich damit vergleichen ließe. Sie ist das Lieblingsgericht der Kaiserin wie
des ärmsten Bauern oder Leibeignen. Aber, wie man sie kocht, weiß ich nicht.
Das überläßt man bei nus der Dienerschaft. Und dann erzählte sie von ihrem
Gute bei Tschndowo, das sie seit vier Jahren nicht gesehen hätte, und von Wassilis,
ihrem älteste» Sohne, der es bewirtschafte, von Dmitrij, ihrem zweiten, der Rat
im Admiralitätskollegium sei und die Gewehrfabrik in Tula leite, und von ihrem
dritten, der zu keinem Berufe Lust gehabt habe, aber ganz ausgezeichnet Violine
spiele. Zuletzt kam sie aus ihre Leute, auf den Kutscher Iwan, der vierundachtzig
Jahre zähle und im letzten Sommer zum fünften male geheiratet habe, auf den
Jäger Boris Feodorowitsch, der ihrem Manne bei einer Bärenjagd das Leben ge¬
rettet, und ans die Kammerfrau Tatjaua, die nach französischen Mvdekupferu die
herrlichste» Kleider anzufertigen verstehe. Und je lebhafter sie vou den Zuständen
ihrer Heimat, die sie bald wiederzusehen hoffte, sprach, desto mehr röteten sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/317>, abgerufen am 01.09.2024.