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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

schwachen Trostgründen über das Unerhörte hinwegzutäuschen versuchten, die sich
an die Mutmaßung klammerten, die Nachricht könne falsch sein, oder der Konvent
würde sich mit der Tatsache der Verurteilung begnügen und die Todesstrafe in
Verbannung umwandeln. Andre sprachen die Hoffnung aus, daß sich die bessern
Elemente der Pariser Bevölkerung angesichts eines so unmenschlichen, aller Ge¬
rechtigkeit hohnsprechenden Urteils ermannen und den König noch in letzter Stunde
mit Gewalt den Händen seiner Feinde entreißen würden. Ach, die Leute, die so
sprachen, wußten nicht, daß drei Jahre genügt hatten, aus der Einwohnerschaft der
getreuen Stadt Paris eine Meute blutgieriger Wölfe zu machen!

Marigny, der, wie immer, das Günstigste für das Wahrscheinlichste hielt, war
davon überzeugt, daß die Revolution, indem sie Ludwig den Sechzehnten dem
Schafott zu überliefern gedachte, sich selbst das Todesurteil gesprochen habe. Der
Konvent war in zwei sich auf das heftigste bekämpfende Parteien gespalten; eine
nur geringe Stimmenmehrheit hatte die Entscheidung herbeigeführt -- was konnte
näher liegen, als daß die gemäßigtere Minorität das Urteil anfocht und seine Auf¬
hebung durchsetzte? Wäre der Einfluß der extremen Republikaner erst gebrochen,
so würden sich anch die königstreuen Elemente wieder an das Licht wagen, und dann
müsse es leicht sein, die große Masse, die sich längst wieder nach Ruhe sehne, und
die, schon aus dem Bedürfnis nach Abwechslung, ihre demokratischen Tyrannen ge¬
stürzt zu sehen wünsche, zu einem Kampfe gegen die Revolution zu organisieren.
Jetzt hieß es also: Alle Mann an Bord!

Der arme Marquis von Marigny! Er machte die abenteuerlichsten Pläne,
seinen königlichen Herrn zu retten, er berechnete immer wieder von neuem den
Tag und die Stunde, wo er in Paris eintreffen könnte, und ahnte nicht, daß der
Mann, dem all sein Denken und Sorgen galt, nur noch der Geschichte angehörte,
und daß die sterblichen Reste Ludwigs längst unter einer Schicht ungelöschten Kalks
ans dem Kirchhof von Sainte Madeleine ruhten!

Seinem Vorsatze getreu, reiste der alte Aristokrat am Morgen des 25. Januar
weiter, verbrachte die Nacht schlaflos auf einer Bank in der Gaststube der Post-
halterei und wartete sehnsüchtig auf die Ankunft der Post, die ihn nach Frankreich
bringen sollte.

Frankreich! Vaterland! Trotz der Stürme, die dort drüben tobten, für
Marigny das schönste Land der Erde! Da lagen die sanft gewellten Hügel, mit
frischem Schnee bedeckt, im Scheine der Wintermorgensonne, die Hügel, die er
einst im warmen Abendgolde eines Ottobertags gesehen hatte, als er^ an Mar-
guerites Seite in der bequemen Reisekutsche die Straße nach Deutschland hinab-
fnhrend, hier von der Heimat Abschied genommen hatte. Wie anders sah die
Landschaft heute aus! Mit wie andern Gefühlen schaute der Reisende heute zu
den Bergen Lothringens hinüber!

Er war, um nach der Post auszuspähen, ein paar hundert Schritte weit zu
eiuer Anhöhe emporgestiegen, von der sich das enge Moseltal bis nach Sierk hin
überblicken ließ. Als er dort stand und durch das kleine Perspektiv im Knopfe
seines spanischen Rohrs die schwarzen Trümmer der lothringischen Herzogsburg be¬
trachtete, die das französische Grenzstädtchen zu beherrschen schienen, kam die er¬
wartete Kutsche hinter einem Bergvvrsprnng zum Vorschein, rasselte durch die
schmale Dorfgasse und hielt vor dem PostHause. Marigny begab sich, so schnell er
vermochte, dorthin zurück und bemerkte schon von weitem, daß sich eine Anzahl
Menschen lebhaft redend und gestikulierend um den, wie es schien, betrunkncn
Postillon versammelt hatte, und daß aus den Häusern ringsumher noch andre
herbeiliefen und um der Erörterung teilnahmen. Eine bange Ahnung beflügelte
seine Füße.

Was ist geschehn? fragte er die Leute.

Der König ist tot, sagte einer von ihnen.

Montag früh, zehn Uhr und fünfundzwanzig Minuten, fügte der Postillon
hinzu, indem er sein Gesicht zu einem Grinsen verzog und mit der flachen Hand


Der Marquis von Marigny

schwachen Trostgründen über das Unerhörte hinwegzutäuschen versuchten, die sich
an die Mutmaßung klammerten, die Nachricht könne falsch sein, oder der Konvent
würde sich mit der Tatsache der Verurteilung begnügen und die Todesstrafe in
Verbannung umwandeln. Andre sprachen die Hoffnung aus, daß sich die bessern
Elemente der Pariser Bevölkerung angesichts eines so unmenschlichen, aller Ge¬
rechtigkeit hohnsprechenden Urteils ermannen und den König noch in letzter Stunde
mit Gewalt den Händen seiner Feinde entreißen würden. Ach, die Leute, die so
sprachen, wußten nicht, daß drei Jahre genügt hatten, aus der Einwohnerschaft der
getreuen Stadt Paris eine Meute blutgieriger Wölfe zu machen!

Marigny, der, wie immer, das Günstigste für das Wahrscheinlichste hielt, war
davon überzeugt, daß die Revolution, indem sie Ludwig den Sechzehnten dem
Schafott zu überliefern gedachte, sich selbst das Todesurteil gesprochen habe. Der
Konvent war in zwei sich auf das heftigste bekämpfende Parteien gespalten; eine
nur geringe Stimmenmehrheit hatte die Entscheidung herbeigeführt — was konnte
näher liegen, als daß die gemäßigtere Minorität das Urteil anfocht und seine Auf¬
hebung durchsetzte? Wäre der Einfluß der extremen Republikaner erst gebrochen,
so würden sich anch die königstreuen Elemente wieder an das Licht wagen, und dann
müsse es leicht sein, die große Masse, die sich längst wieder nach Ruhe sehne, und
die, schon aus dem Bedürfnis nach Abwechslung, ihre demokratischen Tyrannen ge¬
stürzt zu sehen wünsche, zu einem Kampfe gegen die Revolution zu organisieren.
Jetzt hieß es also: Alle Mann an Bord!

Der arme Marquis von Marigny! Er machte die abenteuerlichsten Pläne,
seinen königlichen Herrn zu retten, er berechnete immer wieder von neuem den
Tag und die Stunde, wo er in Paris eintreffen könnte, und ahnte nicht, daß der
Mann, dem all sein Denken und Sorgen galt, nur noch der Geschichte angehörte,
und daß die sterblichen Reste Ludwigs längst unter einer Schicht ungelöschten Kalks
ans dem Kirchhof von Sainte Madeleine ruhten!

Seinem Vorsatze getreu, reiste der alte Aristokrat am Morgen des 25. Januar
weiter, verbrachte die Nacht schlaflos auf einer Bank in der Gaststube der Post-
halterei und wartete sehnsüchtig auf die Ankunft der Post, die ihn nach Frankreich
bringen sollte.

Frankreich! Vaterland! Trotz der Stürme, die dort drüben tobten, für
Marigny das schönste Land der Erde! Da lagen die sanft gewellten Hügel, mit
frischem Schnee bedeckt, im Scheine der Wintermorgensonne, die Hügel, die er
einst im warmen Abendgolde eines Ottobertags gesehen hatte, als er^ an Mar-
guerites Seite in der bequemen Reisekutsche die Straße nach Deutschland hinab-
fnhrend, hier von der Heimat Abschied genommen hatte. Wie anders sah die
Landschaft heute aus! Mit wie andern Gefühlen schaute der Reisende heute zu
den Bergen Lothringens hinüber!

Er war, um nach der Post auszuspähen, ein paar hundert Schritte weit zu
eiuer Anhöhe emporgestiegen, von der sich das enge Moseltal bis nach Sierk hin
überblicken ließ. Als er dort stand und durch das kleine Perspektiv im Knopfe
seines spanischen Rohrs die schwarzen Trümmer der lothringischen Herzogsburg be¬
trachtete, die das französische Grenzstädtchen zu beherrschen schienen, kam die er¬
wartete Kutsche hinter einem Bergvvrsprnng zum Vorschein, rasselte durch die
schmale Dorfgasse und hielt vor dem PostHause. Marigny begab sich, so schnell er
vermochte, dorthin zurück und bemerkte schon von weitem, daß sich eine Anzahl
Menschen lebhaft redend und gestikulierend um den, wie es schien, betrunkncn
Postillon versammelt hatte, und daß aus den Häusern ringsumher noch andre
herbeiliefen und um der Erörterung teilnahmen. Eine bange Ahnung beflügelte
seine Füße.

Was ist geschehn? fragte er die Leute.

Der König ist tot, sagte einer von ihnen.

Montag früh, zehn Uhr und fünfundzwanzig Minuten, fügte der Postillon
hinzu, indem er sein Gesicht zu einem Grinsen verzog und mit der flachen Hand


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[0315] Der Marquis von Marigny schwachen Trostgründen über das Unerhörte hinwegzutäuschen versuchten, die sich an die Mutmaßung klammerten, die Nachricht könne falsch sein, oder der Konvent würde sich mit der Tatsache der Verurteilung begnügen und die Todesstrafe in Verbannung umwandeln. Andre sprachen die Hoffnung aus, daß sich die bessern Elemente der Pariser Bevölkerung angesichts eines so unmenschlichen, aller Ge¬ rechtigkeit hohnsprechenden Urteils ermannen und den König noch in letzter Stunde mit Gewalt den Händen seiner Feinde entreißen würden. Ach, die Leute, die so sprachen, wußten nicht, daß drei Jahre genügt hatten, aus der Einwohnerschaft der getreuen Stadt Paris eine Meute blutgieriger Wölfe zu machen! Marigny, der, wie immer, das Günstigste für das Wahrscheinlichste hielt, war davon überzeugt, daß die Revolution, indem sie Ludwig den Sechzehnten dem Schafott zu überliefern gedachte, sich selbst das Todesurteil gesprochen habe. Der Konvent war in zwei sich auf das heftigste bekämpfende Parteien gespalten; eine nur geringe Stimmenmehrheit hatte die Entscheidung herbeigeführt — was konnte näher liegen, als daß die gemäßigtere Minorität das Urteil anfocht und seine Auf¬ hebung durchsetzte? Wäre der Einfluß der extremen Republikaner erst gebrochen, so würden sich anch die königstreuen Elemente wieder an das Licht wagen, und dann müsse es leicht sein, die große Masse, die sich längst wieder nach Ruhe sehne, und die, schon aus dem Bedürfnis nach Abwechslung, ihre demokratischen Tyrannen ge¬ stürzt zu sehen wünsche, zu einem Kampfe gegen die Revolution zu organisieren. Jetzt hieß es also: Alle Mann an Bord! Der arme Marquis von Marigny! Er machte die abenteuerlichsten Pläne, seinen königlichen Herrn zu retten, er berechnete immer wieder von neuem den Tag und die Stunde, wo er in Paris eintreffen könnte, und ahnte nicht, daß der Mann, dem all sein Denken und Sorgen galt, nur noch der Geschichte angehörte, und daß die sterblichen Reste Ludwigs längst unter einer Schicht ungelöschten Kalks ans dem Kirchhof von Sainte Madeleine ruhten! Seinem Vorsatze getreu, reiste der alte Aristokrat am Morgen des 25. Januar weiter, verbrachte die Nacht schlaflos auf einer Bank in der Gaststube der Post- halterei und wartete sehnsüchtig auf die Ankunft der Post, die ihn nach Frankreich bringen sollte. Frankreich! Vaterland! Trotz der Stürme, die dort drüben tobten, für Marigny das schönste Land der Erde! Da lagen die sanft gewellten Hügel, mit frischem Schnee bedeckt, im Scheine der Wintermorgensonne, die Hügel, die er einst im warmen Abendgolde eines Ottobertags gesehen hatte, als er^ an Mar- guerites Seite in der bequemen Reisekutsche die Straße nach Deutschland hinab- fnhrend, hier von der Heimat Abschied genommen hatte. Wie anders sah die Landschaft heute aus! Mit wie andern Gefühlen schaute der Reisende heute zu den Bergen Lothringens hinüber! Er war, um nach der Post auszuspähen, ein paar hundert Schritte weit zu eiuer Anhöhe emporgestiegen, von der sich das enge Moseltal bis nach Sierk hin überblicken ließ. Als er dort stand und durch das kleine Perspektiv im Knopfe seines spanischen Rohrs die schwarzen Trümmer der lothringischen Herzogsburg be¬ trachtete, die das französische Grenzstädtchen zu beherrschen schienen, kam die er¬ wartete Kutsche hinter einem Bergvvrsprnng zum Vorschein, rasselte durch die schmale Dorfgasse und hielt vor dem PostHause. Marigny begab sich, so schnell er vermochte, dorthin zurück und bemerkte schon von weitem, daß sich eine Anzahl Menschen lebhaft redend und gestikulierend um den, wie es schien, betrunkncn Postillon versammelt hatte, und daß aus den Häusern ringsumher noch andre herbeiliefen und um der Erörterung teilnahmen. Eine bange Ahnung beflügelte seine Füße. Was ist geschehn? fragte er die Leute. Der König ist tot, sagte einer von ihnen. Montag früh, zehn Uhr und fünfundzwanzig Minuten, fügte der Postillon hinzu, indem er sein Gesicht zu einem Grinsen verzog und mit der flachen Hand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/315>, abgerufen am 25.11.2024.