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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

der Umgang mit meinem nur einige Jahre ältern Vetter Eduard Sobbe und mit
dessen Schwester Antonie, einem sehr hübschen, fein erzognen, jungen Mädchen, die
ländliche Freiheit und das Bewußtsein, nicht lästig zu fallen, sondern von der
gütigen Taute mit besondrer Liebe gehegt zu werden, das alles verlieh dem Aufent¬
halte in Gernrode einen noch heute unvergessenen, poetischen Zauber. Ganz gro߬
artig war die Hochzeit meiner Cousine Antonie Sobbe mit dem Gutsbesitzer Franz
Hogrefe. Sie wurde kurz nach der Hochzeit meiner ältesten Schwester und mit
nicht geringerm Anfwnnde auf dem Stubenberge bei Gernrode gefeiert. Mit mir
war eine Anzahl gleichaltriger, entfernter Vettern da, und wir haben uns in dem
Hochzeitstrubel sehr unnütz gemacht und viel Unfug getrieben. Obwohl ich noch
ein kleiner Junge war, machte doch die Traurede in der Kirche einen tiefen Ein¬
druck auf mich. Ja ich kann sagen, das; dies der erste religiöse Eindruck war, den
ich empfangen habe. Der Trantext war aus dem Buche Ruth, Kapitel 1, Vers 16 .
und 17 entnommen: "Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst,
da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo
du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue
mir dies und das, der Tod muß mich und dich scheide"." Ich habe diesen Text
und diese Traurede nie wieder vergessen. Die schöne Braut weinte bei der Trauung
bittere Tränen. Sie kam mir, weil sie so weit von dem schönen Gernrode weg-
ziehn sollte, äußerst bedauernswert vor. Sie ist aber in Ostpreußen sehr glücklich
geworden. Ihr Mann war später konservativer Abgeordneter und ist viel später
als seiue Frau, nämlich erst im Jahre 1896 gestorben. Wir sind uns aber selt¬
samerweise im spätern Leben nie näher getreten.

Zu solchen Festlichkeiten fuhr unsre zweite Mutter mit uns. Der Vater blieb,
wenn er es schicklicherweise irgend einrichten konnte, lieber zuhause. Ganz hat er
die Schatten der Vergangenheit niemals mehr verwunden. Je länger, desto mehr
entzog er sich der Geselligkeit außer dem Hause. ZuHanse aber konnte er zu Zeiten
wieder heiter und fröhlich sein. Er hatte ein treffliches Gedächtnis und wußte un-
gemein lebendig und anschaulich zu erzählen.

Am meisten interessierten uns Jungen seine Erzählungen aus der Franzosen-
zeit. An einem Sonntagmorgen des Jahres 1806 -- so schilderte er das erste
Eintreffen der Franzosen in Quedlinburg -- war ein nahe bei unserm .ftause
wohnender Schneider Kampf, wegen seiner Statur der kleine Kampf genannt,°nach
dein etwa eine Meile westwärts gelegnen Dorfe Warnstedt gegangen, um einem
seiner dortigen Kunden einen neuen Anzug hinaufzutragen. Noch ehe er Warnstedt
erreicht gehabt, hatte er gesehen, daß fremde Truppen ihm entgegemnarschierteu.
Bevor diese seiner habhaft werden konnten, hatte der kleine Kampf flugs kehrt ge¬
macht und war über Hals und Kopf nach Quedlinburg zurückgerannt. In den
Straßen der Stadt hatte er durch den Ruf "Die Franzosen kommen!" die Ein-
wohnerschaft mobil gemacht und in Bestürzung versetzt. Im ersten Schreck hatten
viele Bürger ihre Häuser verschlossen und verrammelt, Geld und Wertsachen
zusammengerafft und sie, so gut es in der Eile hatte gehn wollen, in den Kellern
oder auf den Hausboden versteckt. In der Tat kamen denn auch die ersten
französischen Soldaten dem Schneider Kampf auf dem Fuße nach und drangen in
kleinen Trupps marodierend in die Hänser ein. Die verschlossenen Hanstüren
wurden mit Äxten eingeschlagen, und bald standen anch in unsrer guten Stube
Franzosen vor meinem Großvater und verlangten drohend als I'arAvnt. Mein Gro߬
vater hatte vorsorglich einige Geldrollen voll Groschen und kleinen, sogenannten Silber¬
sechsern zurückbehalten. Davon gab er einige den kauderwelschenden französischen
Soldaten. Sie zerbrachen die Rollen, und als sie die winzigen Münzen sahen,
warfen sie diese auf den Fußboden und drangen mit den Worten: "Nix, Bauer,
nix, as I'ÄiZoiit" oder risn ä'^rZsut auf meinen Großvater ein. In diesem
kritischen Augenblick ertönte in den Straßen der französische Generalmarsch, dessen
Melodie mein Vater uns mit dem untergelegten Texte vorsang: "Kamerad komm,


Aus der Jugendzeit

der Umgang mit meinem nur einige Jahre ältern Vetter Eduard Sobbe und mit
dessen Schwester Antonie, einem sehr hübschen, fein erzognen, jungen Mädchen, die
ländliche Freiheit und das Bewußtsein, nicht lästig zu fallen, sondern von der
gütigen Taute mit besondrer Liebe gehegt zu werden, das alles verlieh dem Aufent¬
halte in Gernrode einen noch heute unvergessenen, poetischen Zauber. Ganz gro߬
artig war die Hochzeit meiner Cousine Antonie Sobbe mit dem Gutsbesitzer Franz
Hogrefe. Sie wurde kurz nach der Hochzeit meiner ältesten Schwester und mit
nicht geringerm Anfwnnde auf dem Stubenberge bei Gernrode gefeiert. Mit mir
war eine Anzahl gleichaltriger, entfernter Vettern da, und wir haben uns in dem
Hochzeitstrubel sehr unnütz gemacht und viel Unfug getrieben. Obwohl ich noch
ein kleiner Junge war, machte doch die Traurede in der Kirche einen tiefen Ein¬
druck auf mich. Ja ich kann sagen, das; dies der erste religiöse Eindruck war, den
ich empfangen habe. Der Trantext war aus dem Buche Ruth, Kapitel 1, Vers 16 .
und 17 entnommen: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst,
da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo
du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue
mir dies und das, der Tod muß mich und dich scheide»." Ich habe diesen Text
und diese Traurede nie wieder vergessen. Die schöne Braut weinte bei der Trauung
bittere Tränen. Sie kam mir, weil sie so weit von dem schönen Gernrode weg-
ziehn sollte, äußerst bedauernswert vor. Sie ist aber in Ostpreußen sehr glücklich
geworden. Ihr Mann war später konservativer Abgeordneter und ist viel später
als seiue Frau, nämlich erst im Jahre 1896 gestorben. Wir sind uns aber selt¬
samerweise im spätern Leben nie näher getreten.

Zu solchen Festlichkeiten fuhr unsre zweite Mutter mit uns. Der Vater blieb,
wenn er es schicklicherweise irgend einrichten konnte, lieber zuhause. Ganz hat er
die Schatten der Vergangenheit niemals mehr verwunden. Je länger, desto mehr
entzog er sich der Geselligkeit außer dem Hause. ZuHanse aber konnte er zu Zeiten
wieder heiter und fröhlich sein. Er hatte ein treffliches Gedächtnis und wußte un-
gemein lebendig und anschaulich zu erzählen.

Am meisten interessierten uns Jungen seine Erzählungen aus der Franzosen-
zeit. An einem Sonntagmorgen des Jahres 1806 — so schilderte er das erste
Eintreffen der Franzosen in Quedlinburg — war ein nahe bei unserm .ftause
wohnender Schneider Kampf, wegen seiner Statur der kleine Kampf genannt,°nach
dein etwa eine Meile westwärts gelegnen Dorfe Warnstedt gegangen, um einem
seiner dortigen Kunden einen neuen Anzug hinaufzutragen. Noch ehe er Warnstedt
erreicht gehabt, hatte er gesehen, daß fremde Truppen ihm entgegemnarschierteu.
Bevor diese seiner habhaft werden konnten, hatte der kleine Kampf flugs kehrt ge¬
macht und war über Hals und Kopf nach Quedlinburg zurückgerannt. In den
Straßen der Stadt hatte er durch den Ruf „Die Franzosen kommen!" die Ein-
wohnerschaft mobil gemacht und in Bestürzung versetzt. Im ersten Schreck hatten
viele Bürger ihre Häuser verschlossen und verrammelt, Geld und Wertsachen
zusammengerafft und sie, so gut es in der Eile hatte gehn wollen, in den Kellern
oder auf den Hausboden versteckt. In der Tat kamen denn auch die ersten
französischen Soldaten dem Schneider Kampf auf dem Fuße nach und drangen in
kleinen Trupps marodierend in die Hänser ein. Die verschlossenen Hanstüren
wurden mit Äxten eingeschlagen, und bald standen anch in unsrer guten Stube
Franzosen vor meinem Großvater und verlangten drohend als I'arAvnt. Mein Gro߬
vater hatte vorsorglich einige Geldrollen voll Groschen und kleinen, sogenannten Silber¬
sechsern zurückbehalten. Davon gab er einige den kauderwelschenden französischen
Soldaten. Sie zerbrachen die Rollen, und als sie die winzigen Münzen sahen,
warfen sie diese auf den Fußboden und drangen mit den Worten: „Nix, Bauer,
nix, as I'ÄiZoiit" oder risn ä'^rZsut auf meinen Großvater ein. In diesem
kritischen Augenblick ertönte in den Straßen der französische Generalmarsch, dessen
Melodie mein Vater uns mit dem untergelegten Texte vorsang: „Kamerad komm,


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[0303] Aus der Jugendzeit der Umgang mit meinem nur einige Jahre ältern Vetter Eduard Sobbe und mit dessen Schwester Antonie, einem sehr hübschen, fein erzognen, jungen Mädchen, die ländliche Freiheit und das Bewußtsein, nicht lästig zu fallen, sondern von der gütigen Taute mit besondrer Liebe gehegt zu werden, das alles verlieh dem Aufent¬ halte in Gernrode einen noch heute unvergessenen, poetischen Zauber. Ganz gro߬ artig war die Hochzeit meiner Cousine Antonie Sobbe mit dem Gutsbesitzer Franz Hogrefe. Sie wurde kurz nach der Hochzeit meiner ältesten Schwester und mit nicht geringerm Anfwnnde auf dem Stubenberge bei Gernrode gefeiert. Mit mir war eine Anzahl gleichaltriger, entfernter Vettern da, und wir haben uns in dem Hochzeitstrubel sehr unnütz gemacht und viel Unfug getrieben. Obwohl ich noch ein kleiner Junge war, machte doch die Traurede in der Kirche einen tiefen Ein¬ druck auf mich. Ja ich kann sagen, das; dies der erste religiöse Eindruck war, den ich empfangen habe. Der Trantext war aus dem Buche Ruth, Kapitel 1, Vers 16 . und 17 entnommen: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, der Tod muß mich und dich scheide»." Ich habe diesen Text und diese Traurede nie wieder vergessen. Die schöne Braut weinte bei der Trauung bittere Tränen. Sie kam mir, weil sie so weit von dem schönen Gernrode weg- ziehn sollte, äußerst bedauernswert vor. Sie ist aber in Ostpreußen sehr glücklich geworden. Ihr Mann war später konservativer Abgeordneter und ist viel später als seiue Frau, nämlich erst im Jahre 1896 gestorben. Wir sind uns aber selt¬ samerweise im spätern Leben nie näher getreten. Zu solchen Festlichkeiten fuhr unsre zweite Mutter mit uns. Der Vater blieb, wenn er es schicklicherweise irgend einrichten konnte, lieber zuhause. Ganz hat er die Schatten der Vergangenheit niemals mehr verwunden. Je länger, desto mehr entzog er sich der Geselligkeit außer dem Hause. ZuHanse aber konnte er zu Zeiten wieder heiter und fröhlich sein. Er hatte ein treffliches Gedächtnis und wußte un- gemein lebendig und anschaulich zu erzählen. Am meisten interessierten uns Jungen seine Erzählungen aus der Franzosen- zeit. An einem Sonntagmorgen des Jahres 1806 — so schilderte er das erste Eintreffen der Franzosen in Quedlinburg — war ein nahe bei unserm .ftause wohnender Schneider Kampf, wegen seiner Statur der kleine Kampf genannt,°nach dein etwa eine Meile westwärts gelegnen Dorfe Warnstedt gegangen, um einem seiner dortigen Kunden einen neuen Anzug hinaufzutragen. Noch ehe er Warnstedt erreicht gehabt, hatte er gesehen, daß fremde Truppen ihm entgegemnarschierteu. Bevor diese seiner habhaft werden konnten, hatte der kleine Kampf flugs kehrt ge¬ macht und war über Hals und Kopf nach Quedlinburg zurückgerannt. In den Straßen der Stadt hatte er durch den Ruf „Die Franzosen kommen!" die Ein- wohnerschaft mobil gemacht und in Bestürzung versetzt. Im ersten Schreck hatten viele Bürger ihre Häuser verschlossen und verrammelt, Geld und Wertsachen zusammengerafft und sie, so gut es in der Eile hatte gehn wollen, in den Kellern oder auf den Hausboden versteckt. In der Tat kamen denn auch die ersten französischen Soldaten dem Schneider Kampf auf dem Fuße nach und drangen in kleinen Trupps marodierend in die Hänser ein. Die verschlossenen Hanstüren wurden mit Äxten eingeschlagen, und bald standen anch in unsrer guten Stube Franzosen vor meinem Großvater und verlangten drohend als I'arAvnt. Mein Gro߬ vater hatte vorsorglich einige Geldrollen voll Groschen und kleinen, sogenannten Silber¬ sechsern zurückbehalten. Davon gab er einige den kauderwelschenden französischen Soldaten. Sie zerbrachen die Rollen, und als sie die winzigen Münzen sahen, warfen sie diese auf den Fußboden und drangen mit den Worten: „Nix, Bauer, nix, as I'ÄiZoiit" oder risn ä'^rZsut auf meinen Großvater ein. In diesem kritischen Augenblick ertönte in den Straßen der französische Generalmarsch, dessen Melodie mein Vater uns mit dem untergelegten Texte vorsang: „Kamerad komm,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/303>, abgerufen am 25.11.2024.