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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die mittelalterliche Religionsanschauung und ihre Beziehungen zur Gegenwart

das Leben in unvereinbare Gegensätze spaltete. Übrigens können wir etwas
von mittelalterlichen Dualismus auch noch auf dem Gebiete der Sittlichkeit
spüren, z. B, wenn man die Gebote der allgemeinen Moral als etwas unter¬
geordnetes gering schätzt und eine höhere Sittlichkeit für die "Kinder Gottes"
nnfzustellen sucht, die in der Enthaltsamkeit von dem besteht, was durch be¬
sondre Bestimmungen als Sünde beurteilt wird. Dieser protestantische Aske-
tismus ist allerdings nur eine verblaßte Kopie des mittelalterlichen, doch der
Geist ist derselbe.

Ebenso lebt die Tendenz weiter, im Namen der Religion unbedingte
Unterwerfung aller Äußerungen des menschlichen Lebens unter die Kirche zu
fordern, denn die römische Kirche ist auch heute uoch eine Großmacht und hat
auch heute noch nicht ihre mittelalterlichen Pläne aufgegeben. Allerdings sieht
es nicht danach ans, als würde der Staat sich seiner Selbständigkeit gegen¬
über der Kirche entäußern wollen; aber sie hat keineswegs ihr altes Ideal
fahren lassen: die Herrschaft über den Staat. Und dieses Ideal ist kein leeres
Traumbild, sondern arbeitet mit all der Kraft, die in einem religiösen Glauben
liegt. Die römische Kirche ist eine politische Macht von größter Bedeutung,
und sie versteht es, sich klug der Zeit anzupassen, sodaß sie ebensogut in den
parlamentarischen protestantischen Monarchien und in demokratischen Republiken
"einzugreifen" vermag wie ehedem im christlich-römischen Kaisertum. Ja sie
gibt auch die Hoffnung nicht ans, falls sich sozialistische Stantsformen ver¬
wirklichen würden, auch dann ihre Rolle zu spielen. In unsern Tagen erst
hat sie das Verdammungsurteil über die freie Forschung und über alle Ten¬
denzen ausgesprochen, die ihrem Ideal widerstreiten. In dem 1864 heraus¬
gegebnen Syllabus werden nicht nnr die dem Christentum und der Kirche
feindlichen Bestrebungen der Neuzeit verdammt, souderu auch das Verlangen
nach Freiheit des Glaubens und des Kultus, der Presse und der Wissenschaft,
sowie der Unabhängigkeit der weltlichen Macht von der geistlichen als ketzerisch
verurteilt. Dies bedeutet so viel, als das; alle Grundsätze des modernen
Staats- und Gesellschaftslebens mit dem mittelalterlichen Bann belegt werden.
Und daß die römische Kirche keineswegs gewillt ist, ihre aus dem Mittelalter
stammenden Grundsätze aufzugeben, daß sie durchaus uicht sich "bessern" will --
dafür ist die Annahme des Unfehlbarkeitsdogmas ein klarer Beweis. Denn
in diesem Dogma ist die Bestätigung alles dessen ausgesprochen, was in ver¬
gangnen Zeiten vom Stuhle Petri verordnet wurde. Man darf sich in dieser
Beziehung uicht täuschen lassen von möglicherweise vorkommenden Zugeständ¬
nissen uach entgegengesetzter Richtung; denn es kann ja erlaubt sein, ans
Politik derlei Zugeständnisse zu machen -- wenn man uur von seinen Grund¬
sätze" nicht abweicht.

In abgeschwächter Form hat sich der Gedanke von der unmittelbaren
Herrschaft der Kirche über alles menschliche Geistesleben anch innerhalb des
Protestantismus in neuerer Zeit geltend gemacht. Der alte Dualismus lebt
eben heute noch in der Vorstellung mancher Leute. Doch in der Zeit des
jagenden Fortschritts auf allen Gebieten lassen sich die Geister nicht mehr in
Fesseln legen, und sowohl von protestantischer als von katholischer Seite wird


Die mittelalterliche Religionsanschauung und ihre Beziehungen zur Gegenwart

das Leben in unvereinbare Gegensätze spaltete. Übrigens können wir etwas
von mittelalterlichen Dualismus auch noch auf dem Gebiete der Sittlichkeit
spüren, z. B, wenn man die Gebote der allgemeinen Moral als etwas unter¬
geordnetes gering schätzt und eine höhere Sittlichkeit für die „Kinder Gottes"
nnfzustellen sucht, die in der Enthaltsamkeit von dem besteht, was durch be¬
sondre Bestimmungen als Sünde beurteilt wird. Dieser protestantische Aske-
tismus ist allerdings nur eine verblaßte Kopie des mittelalterlichen, doch der
Geist ist derselbe.

Ebenso lebt die Tendenz weiter, im Namen der Religion unbedingte
Unterwerfung aller Äußerungen des menschlichen Lebens unter die Kirche zu
fordern, denn die römische Kirche ist auch heute uoch eine Großmacht und hat
auch heute noch nicht ihre mittelalterlichen Pläne aufgegeben. Allerdings sieht
es nicht danach ans, als würde der Staat sich seiner Selbständigkeit gegen¬
über der Kirche entäußern wollen; aber sie hat keineswegs ihr altes Ideal
fahren lassen: die Herrschaft über den Staat. Und dieses Ideal ist kein leeres
Traumbild, sondern arbeitet mit all der Kraft, die in einem religiösen Glauben
liegt. Die römische Kirche ist eine politische Macht von größter Bedeutung,
und sie versteht es, sich klug der Zeit anzupassen, sodaß sie ebensogut in den
parlamentarischen protestantischen Monarchien und in demokratischen Republiken
„einzugreifen" vermag wie ehedem im christlich-römischen Kaisertum. Ja sie
gibt auch die Hoffnung nicht ans, falls sich sozialistische Stantsformen ver¬
wirklichen würden, auch dann ihre Rolle zu spielen. In unsern Tagen erst
hat sie das Verdammungsurteil über die freie Forschung und über alle Ten¬
denzen ausgesprochen, die ihrem Ideal widerstreiten. In dem 1864 heraus¬
gegebnen Syllabus werden nicht nnr die dem Christentum und der Kirche
feindlichen Bestrebungen der Neuzeit verdammt, souderu auch das Verlangen
nach Freiheit des Glaubens und des Kultus, der Presse und der Wissenschaft,
sowie der Unabhängigkeit der weltlichen Macht von der geistlichen als ketzerisch
verurteilt. Dies bedeutet so viel, als das; alle Grundsätze des modernen
Staats- und Gesellschaftslebens mit dem mittelalterlichen Bann belegt werden.
Und daß die römische Kirche keineswegs gewillt ist, ihre aus dem Mittelalter
stammenden Grundsätze aufzugeben, daß sie durchaus uicht sich „bessern" will —
dafür ist die Annahme des Unfehlbarkeitsdogmas ein klarer Beweis. Denn
in diesem Dogma ist die Bestätigung alles dessen ausgesprochen, was in ver¬
gangnen Zeiten vom Stuhle Petri verordnet wurde. Man darf sich in dieser
Beziehung uicht täuschen lassen von möglicherweise vorkommenden Zugeständ¬
nissen uach entgegengesetzter Richtung; denn es kann ja erlaubt sein, ans
Politik derlei Zugeständnisse zu machen — wenn man uur von seinen Grund¬
sätze» nicht abweicht.

In abgeschwächter Form hat sich der Gedanke von der unmittelbaren
Herrschaft der Kirche über alles menschliche Geistesleben anch innerhalb des
Protestantismus in neuerer Zeit geltend gemacht. Der alte Dualismus lebt
eben heute noch in der Vorstellung mancher Leute. Doch in der Zeit des
jagenden Fortschritts auf allen Gebieten lassen sich die Geister nicht mehr in
Fesseln legen, und sowohl von protestantischer als von katholischer Seite wird


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[0231] Die mittelalterliche Religionsanschauung und ihre Beziehungen zur Gegenwart das Leben in unvereinbare Gegensätze spaltete. Übrigens können wir etwas von mittelalterlichen Dualismus auch noch auf dem Gebiete der Sittlichkeit spüren, z. B, wenn man die Gebote der allgemeinen Moral als etwas unter¬ geordnetes gering schätzt und eine höhere Sittlichkeit für die „Kinder Gottes" nnfzustellen sucht, die in der Enthaltsamkeit von dem besteht, was durch be¬ sondre Bestimmungen als Sünde beurteilt wird. Dieser protestantische Aske- tismus ist allerdings nur eine verblaßte Kopie des mittelalterlichen, doch der Geist ist derselbe. Ebenso lebt die Tendenz weiter, im Namen der Religion unbedingte Unterwerfung aller Äußerungen des menschlichen Lebens unter die Kirche zu fordern, denn die römische Kirche ist auch heute uoch eine Großmacht und hat auch heute noch nicht ihre mittelalterlichen Pläne aufgegeben. Allerdings sieht es nicht danach ans, als würde der Staat sich seiner Selbständigkeit gegen¬ über der Kirche entäußern wollen; aber sie hat keineswegs ihr altes Ideal fahren lassen: die Herrschaft über den Staat. Und dieses Ideal ist kein leeres Traumbild, sondern arbeitet mit all der Kraft, die in einem religiösen Glauben liegt. Die römische Kirche ist eine politische Macht von größter Bedeutung, und sie versteht es, sich klug der Zeit anzupassen, sodaß sie ebensogut in den parlamentarischen protestantischen Monarchien und in demokratischen Republiken „einzugreifen" vermag wie ehedem im christlich-römischen Kaisertum. Ja sie gibt auch die Hoffnung nicht ans, falls sich sozialistische Stantsformen ver¬ wirklichen würden, auch dann ihre Rolle zu spielen. In unsern Tagen erst hat sie das Verdammungsurteil über die freie Forschung und über alle Ten¬ denzen ausgesprochen, die ihrem Ideal widerstreiten. In dem 1864 heraus¬ gegebnen Syllabus werden nicht nnr die dem Christentum und der Kirche feindlichen Bestrebungen der Neuzeit verdammt, souderu auch das Verlangen nach Freiheit des Glaubens und des Kultus, der Presse und der Wissenschaft, sowie der Unabhängigkeit der weltlichen Macht von der geistlichen als ketzerisch verurteilt. Dies bedeutet so viel, als das; alle Grundsätze des modernen Staats- und Gesellschaftslebens mit dem mittelalterlichen Bann belegt werden. Und daß die römische Kirche keineswegs gewillt ist, ihre aus dem Mittelalter stammenden Grundsätze aufzugeben, daß sie durchaus uicht sich „bessern" will — dafür ist die Annahme des Unfehlbarkeitsdogmas ein klarer Beweis. Denn in diesem Dogma ist die Bestätigung alles dessen ausgesprochen, was in ver¬ gangnen Zeiten vom Stuhle Petri verordnet wurde. Man darf sich in dieser Beziehung uicht täuschen lassen von möglicherweise vorkommenden Zugeständ¬ nissen uach entgegengesetzter Richtung; denn es kann ja erlaubt sein, ans Politik derlei Zugeständnisse zu machen — wenn man uur von seinen Grund¬ sätze» nicht abweicht. In abgeschwächter Form hat sich der Gedanke von der unmittelbaren Herrschaft der Kirche über alles menschliche Geistesleben anch innerhalb des Protestantismus in neuerer Zeit geltend gemacht. Der alte Dualismus lebt eben heute noch in der Vorstellung mancher Leute. Doch in der Zeit des jagenden Fortschritts auf allen Gebieten lassen sich die Geister nicht mehr in Fesseln legen, und sowohl von protestantischer als von katholischer Seite wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/231>, abgerufen am 25.11.2024.