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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die mittelalterliche Religionsanschauung und ihre Beziehungen zur Gegenwart

hat die Unterlagen dafür zerstört. Graf Khuen-Hedervary ist bei der alten
liberalen Partei keineswegs beliebt, und er wurde, als seine Ministerkandidatur
nach dem Sturz des Kabinetts Weckerle auftauchte, mit Entrüstung abgelehnt.
Aber er ist ein gewandter Diplomat, und es kann ihm schon zugetraut werden,
daß er in dem Parteienwirrwarr, den die einer Versöhnungspolitik im großen
Stile nicht gewachsene Persönlichkeit Szells hinterlassen hat, Fuß zu fassen
verstehn wird. Er ist im übrigen ein getreuer Anhänger des Kaisers und
vielleicht bloß zum Platzhalter ausersehen. Die Demission des österreichischen
Ministeriums ist in der Hauptsache als Schachzug zu Gunsten der Krone
gegenüber Ungarn aufzufassen. Die formelle Berechtigung dazu war voll¬
kommen gegeben, da das Ministerium Körber in Österreich der tschechischen
Obstruktion dasselbe Rekrutengcsetz abgerungen hatte, das nun vor der un-
garischen Obstrnktion zurückgezogen worden war. Dafür gebührte ihm eine
öffentliche Rechtfertigung und Genugtuung. Diese ist dnrch ein ungemein
gnädiges Handschreiben des Monarchen erfolgt, das nach allem Anschein nur
so lange verzögert wurde, bis die gewünschte Wirkung in Ungarn eingetreten
war. Daß das Ministerium Körber weder wegen der Obstruktion der Tschechen
noch der Magyaren zurücktreten werde, ließ sich voraussehen. Graf Khuen-
Hedervary scheint auch in Ungarn sein Ziel zu erreichen. Er oder sein Nach¬
folger braucht ja den Magyaren bloß die Auflösung des Abgeordnetenhauses
und wirklich "reine Wahlen" in Aussicht zu stellen, um sie gefügig zu machen.




Die mittelalterliche Religionsanschauung und ihre
Beziehungen zur Gegenwart
(Schluß)

^ALS>legen das Ende des Mittelalters zeigt sich immer mehr die Un¬
möglichkeit, die Oberhoheit, die im Namen des Christentums und
der Religion beansprucht wird, aufrecht zu erhalte". Die große
Einigung, die in den Plänen der großen Päpste Gestalt an-
!nahm, wo die ganze Welt der Kirche Untertan sein sollte, ja
es in der Tat nahezu war, zeigt sich schließlich als das, was sie war:
als eine künstlich gemachte und darum nur scheinbare Einheit. Ist die Blüte¬
zeit des Mittelalters charakterisiert durch ein immer stärkeres Gravitieren nach
Rom als geistigem Mittelpunkte, so sind die Zeiten des Verfalls charakterisiert
durch das Bestreben nach Freimachung des gefesselten Lebens.

Es ist eine alte Erfahrung, daß das, was sein Recht nicht zuerkannt
bekommt, sich sein Recht selbst nimmt und dann gewöhnlich mehr nimmt, als
sein Recht. So ist der letzte Rückschlag des Mvnchslebens und priesterlichen
Cölibnts eine immer ärger werdende Sittenlosigkeit. Was Wissenschaft und
Kunst betrifft, konnte es eine Zeit lang scheinen, als wäre die Herrscherstelluug
der Religion auf beiden Gebieten vollständig anerkannt. Insbesondre war


Die mittelalterliche Religionsanschauung und ihre Beziehungen zur Gegenwart

hat die Unterlagen dafür zerstört. Graf Khuen-Hedervary ist bei der alten
liberalen Partei keineswegs beliebt, und er wurde, als seine Ministerkandidatur
nach dem Sturz des Kabinetts Weckerle auftauchte, mit Entrüstung abgelehnt.
Aber er ist ein gewandter Diplomat, und es kann ihm schon zugetraut werden,
daß er in dem Parteienwirrwarr, den die einer Versöhnungspolitik im großen
Stile nicht gewachsene Persönlichkeit Szells hinterlassen hat, Fuß zu fassen
verstehn wird. Er ist im übrigen ein getreuer Anhänger des Kaisers und
vielleicht bloß zum Platzhalter ausersehen. Die Demission des österreichischen
Ministeriums ist in der Hauptsache als Schachzug zu Gunsten der Krone
gegenüber Ungarn aufzufassen. Die formelle Berechtigung dazu war voll¬
kommen gegeben, da das Ministerium Körber in Österreich der tschechischen
Obstruktion dasselbe Rekrutengcsetz abgerungen hatte, das nun vor der un-
garischen Obstrnktion zurückgezogen worden war. Dafür gebührte ihm eine
öffentliche Rechtfertigung und Genugtuung. Diese ist dnrch ein ungemein
gnädiges Handschreiben des Monarchen erfolgt, das nach allem Anschein nur
so lange verzögert wurde, bis die gewünschte Wirkung in Ungarn eingetreten
war. Daß das Ministerium Körber weder wegen der Obstruktion der Tschechen
noch der Magyaren zurücktreten werde, ließ sich voraussehen. Graf Khuen-
Hedervary scheint auch in Ungarn sein Ziel zu erreichen. Er oder sein Nach¬
folger braucht ja den Magyaren bloß die Auflösung des Abgeordnetenhauses
und wirklich „reine Wahlen" in Aussicht zu stellen, um sie gefügig zu machen.




Die mittelalterliche Religionsanschauung und ihre
Beziehungen zur Gegenwart
(Schluß)

^ALS>legen das Ende des Mittelalters zeigt sich immer mehr die Un¬
möglichkeit, die Oberhoheit, die im Namen des Christentums und
der Religion beansprucht wird, aufrecht zu erhalte». Die große
Einigung, die in den Plänen der großen Päpste Gestalt an-
!nahm, wo die ganze Welt der Kirche Untertan sein sollte, ja
es in der Tat nahezu war, zeigt sich schließlich als das, was sie war:
als eine künstlich gemachte und darum nur scheinbare Einheit. Ist die Blüte¬
zeit des Mittelalters charakterisiert durch ein immer stärkeres Gravitieren nach
Rom als geistigem Mittelpunkte, so sind die Zeiten des Verfalls charakterisiert
durch das Bestreben nach Freimachung des gefesselten Lebens.

Es ist eine alte Erfahrung, daß das, was sein Recht nicht zuerkannt
bekommt, sich sein Recht selbst nimmt und dann gewöhnlich mehr nimmt, als
sein Recht. So ist der letzte Rückschlag des Mvnchslebens und priesterlichen
Cölibnts eine immer ärger werdende Sittenlosigkeit. Was Wissenschaft und
Kunst betrifft, konnte es eine Zeit lang scheinen, als wäre die Herrscherstelluug
der Religion auf beiden Gebieten vollständig anerkannt. Insbesondre war


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[0228] Die mittelalterliche Religionsanschauung und ihre Beziehungen zur Gegenwart hat die Unterlagen dafür zerstört. Graf Khuen-Hedervary ist bei der alten liberalen Partei keineswegs beliebt, und er wurde, als seine Ministerkandidatur nach dem Sturz des Kabinetts Weckerle auftauchte, mit Entrüstung abgelehnt. Aber er ist ein gewandter Diplomat, und es kann ihm schon zugetraut werden, daß er in dem Parteienwirrwarr, den die einer Versöhnungspolitik im großen Stile nicht gewachsene Persönlichkeit Szells hinterlassen hat, Fuß zu fassen verstehn wird. Er ist im übrigen ein getreuer Anhänger des Kaisers und vielleicht bloß zum Platzhalter ausersehen. Die Demission des österreichischen Ministeriums ist in der Hauptsache als Schachzug zu Gunsten der Krone gegenüber Ungarn aufzufassen. Die formelle Berechtigung dazu war voll¬ kommen gegeben, da das Ministerium Körber in Österreich der tschechischen Obstruktion dasselbe Rekrutengcsetz abgerungen hatte, das nun vor der un- garischen Obstrnktion zurückgezogen worden war. Dafür gebührte ihm eine öffentliche Rechtfertigung und Genugtuung. Diese ist dnrch ein ungemein gnädiges Handschreiben des Monarchen erfolgt, das nach allem Anschein nur so lange verzögert wurde, bis die gewünschte Wirkung in Ungarn eingetreten war. Daß das Ministerium Körber weder wegen der Obstruktion der Tschechen noch der Magyaren zurücktreten werde, ließ sich voraussehen. Graf Khuen- Hedervary scheint auch in Ungarn sein Ziel zu erreichen. Er oder sein Nach¬ folger braucht ja den Magyaren bloß die Auflösung des Abgeordnetenhauses und wirklich „reine Wahlen" in Aussicht zu stellen, um sie gefügig zu machen. Die mittelalterliche Religionsanschauung und ihre Beziehungen zur Gegenwart (Schluß) ^ALS>legen das Ende des Mittelalters zeigt sich immer mehr die Un¬ möglichkeit, die Oberhoheit, die im Namen des Christentums und der Religion beansprucht wird, aufrecht zu erhalte». Die große Einigung, die in den Plänen der großen Päpste Gestalt an- !nahm, wo die ganze Welt der Kirche Untertan sein sollte, ja es in der Tat nahezu war, zeigt sich schließlich als das, was sie war: als eine künstlich gemachte und darum nur scheinbare Einheit. Ist die Blüte¬ zeit des Mittelalters charakterisiert durch ein immer stärkeres Gravitieren nach Rom als geistigem Mittelpunkte, so sind die Zeiten des Verfalls charakterisiert durch das Bestreben nach Freimachung des gefesselten Lebens. Es ist eine alte Erfahrung, daß das, was sein Recht nicht zuerkannt bekommt, sich sein Recht selbst nimmt und dann gewöhnlich mehr nimmt, als sein Recht. So ist der letzte Rückschlag des Mvnchslebens und priesterlichen Cölibnts eine immer ärger werdende Sittenlosigkeit. Was Wissenschaft und Kunst betrifft, konnte es eine Zeit lang scheinen, als wäre die Herrscherstelluug der Religion auf beiden Gebieten vollständig anerkannt. Insbesondre war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/228>, abgerufen am 24.11.2024.