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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die Arisis in Ungarn

hatte sich niber Szell in seiner Vertrauensstellung zur Krone geschadet. Kaiser
Franz Joseph gibt, wie auch dieser Fall gezeigt hat, in Einzelheiten gern nach,
aber er ist in Hoheitsfragen empfindlich, und die Theorien, mit denen der
ungarische Ministerpräsident dein Stnndpuukt der äußerste" Linken so nahe
gekommen war, verträgt er nicht. Herr von Szell sollte das bald bitter em¬
pfinden, namentlich bei den Ausgleichs- und deu Zolltarifverhandluugen.
Dr. von Körber war ihm sachlich und diplomatisch ohnehin überlegen, und in
allen kritischen Fällen fand er, ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern, daß
die Krone den österreichischen Auffassungen mehr zuneigte als den ungarischen.
In Ungarn merkte man das, und trotz aller großen Worte in deu Zeitungen
begann der Nimbus Szells zu schwinden. Die Verhandlungen rückten nicht
vorwärts, die zeitweilig auftauchenden Gerüchte, daß Herr von Szell seine
Demission geben werde, schreckten in Österreich nicht und machten nicht einmal
in Ungarn mehr deu gewünschten Eindruck. Als der ungarische Minister-
Präsident in der ersten Sitzung des Abgeordnetenhauses nach Pfingsten, am
15. Mai 1902, erklärte, der neue Ausgleich dürfe nicht schlechter sein als
der gegenwärtige, übrigens sei das selbständige ungarische Zollgebiet so weit
vorbereitet, daß jederzeit binnen drei Wochen die vollständige Lostrennung von
Österreich durchgeführt werden könne, so rief das wohl im Wiener Abgeordnctcn-
hnuse ziemliche Aufregung hervor, doch hielt mau auch da die Erklärung nur
für ein taktisches Manöver, und zwar auch uoch, als Graf Apponyi in einer
großen Rede in Jaszberenyi kurz darauf in der Ausgleichs- und Zolltariffrage
unbedingt für Szell Stellung nahm. Als aber dünn 1)r. von Körber am
30. Mui im Herrenhnuse eine geharnischte Rede über das Verhältnis zu
Ungarn hielt, die in den Worten gipfelte: "Wir wollen Gemeinschaft und
Freundschaft aufrecht erhalten, wollen jedoch nicht die Hand zu einer Gemein¬
schaft bieten, die uns uicht zur Ruhe kommen läßt und wirklich fast keine Ge¬
meinschaft ist," und trotz dieser bisher Ungarn gegenüber ganz ungewöhnlichen
Äußerung im Amte blieb, da verstand man auch jenseits der Leitha, daß die
schönen Tage des Herrn von Szell vorüber seien. Man hatte mir noch nötig,
sich seiner mit guter Manier zu entledigen. Das hatte aber wegen der ge¬
eigneten Nachfolgerschaft zunächst noch seine Schwierigkeiten. Inzwischen be¬
gannen sich die Verhältnisse auch nach einer andern Richtung hin zuzuspitzen.

Seitdem den Ungarn durch den Ausgleich von 1867 mehr als die halbe
Selbständigkeit unerwartet zugefallen ist, geht ihr Sinnen und Trachten auf
eine selbständige ungarische Armee, die nur dem König von Ungarn den Eid
der Treue geleistet hat. Dieses Bestreben trat sofort nach dem Abschluß des
dualistischen Ausgleichs hervor, da man aber die gute Stimmung der Ungarn
bis nach dem deutsch-französischen Kriege für die damaligen politischen Pläne
zur Wiedergewinnung der Stellung in Deutschland nicht verderben wollte, zog
man die Entscheidung hin. In den Delegationen von 1868 wurde die Sache
angeregt, aber nicht zum Austrag gebracht. Der General Grivieie, der dort
die Einheitlichkeit der Armee energisch vertrat und sich dadurch die erbitterte
Gegnerschaft der Magyaren zugezogen hatte, wurde abberufen und durch einen
Uugnrn, den General Ghyezy, einen Bruder des Führers der staatsrechtlich


Die Arisis in Ungarn

hatte sich niber Szell in seiner Vertrauensstellung zur Krone geschadet. Kaiser
Franz Joseph gibt, wie auch dieser Fall gezeigt hat, in Einzelheiten gern nach,
aber er ist in Hoheitsfragen empfindlich, und die Theorien, mit denen der
ungarische Ministerpräsident dein Stnndpuukt der äußerste» Linken so nahe
gekommen war, verträgt er nicht. Herr von Szell sollte das bald bitter em¬
pfinden, namentlich bei den Ausgleichs- und deu Zolltarifverhandluugen.
Dr. von Körber war ihm sachlich und diplomatisch ohnehin überlegen, und in
allen kritischen Fällen fand er, ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern, daß
die Krone den österreichischen Auffassungen mehr zuneigte als den ungarischen.
In Ungarn merkte man das, und trotz aller großen Worte in deu Zeitungen
begann der Nimbus Szells zu schwinden. Die Verhandlungen rückten nicht
vorwärts, die zeitweilig auftauchenden Gerüchte, daß Herr von Szell seine
Demission geben werde, schreckten in Österreich nicht und machten nicht einmal
in Ungarn mehr deu gewünschten Eindruck. Als der ungarische Minister-
Präsident in der ersten Sitzung des Abgeordnetenhauses nach Pfingsten, am
15. Mai 1902, erklärte, der neue Ausgleich dürfe nicht schlechter sein als
der gegenwärtige, übrigens sei das selbständige ungarische Zollgebiet so weit
vorbereitet, daß jederzeit binnen drei Wochen die vollständige Lostrennung von
Österreich durchgeführt werden könne, so rief das wohl im Wiener Abgeordnctcn-
hnuse ziemliche Aufregung hervor, doch hielt mau auch da die Erklärung nur
für ein taktisches Manöver, und zwar auch uoch, als Graf Apponyi in einer
großen Rede in Jaszberenyi kurz darauf in der Ausgleichs- und Zolltariffrage
unbedingt für Szell Stellung nahm. Als aber dünn 1)r. von Körber am
30. Mui im Herrenhnuse eine geharnischte Rede über das Verhältnis zu
Ungarn hielt, die in den Worten gipfelte: „Wir wollen Gemeinschaft und
Freundschaft aufrecht erhalten, wollen jedoch nicht die Hand zu einer Gemein¬
schaft bieten, die uns uicht zur Ruhe kommen läßt und wirklich fast keine Ge¬
meinschaft ist," und trotz dieser bisher Ungarn gegenüber ganz ungewöhnlichen
Äußerung im Amte blieb, da verstand man auch jenseits der Leitha, daß die
schönen Tage des Herrn von Szell vorüber seien. Man hatte mir noch nötig,
sich seiner mit guter Manier zu entledigen. Das hatte aber wegen der ge¬
eigneten Nachfolgerschaft zunächst noch seine Schwierigkeiten. Inzwischen be¬
gannen sich die Verhältnisse auch nach einer andern Richtung hin zuzuspitzen.

Seitdem den Ungarn durch den Ausgleich von 1867 mehr als die halbe
Selbständigkeit unerwartet zugefallen ist, geht ihr Sinnen und Trachten auf
eine selbständige ungarische Armee, die nur dem König von Ungarn den Eid
der Treue geleistet hat. Dieses Bestreben trat sofort nach dem Abschluß des
dualistischen Ausgleichs hervor, da man aber die gute Stimmung der Ungarn
bis nach dem deutsch-französischen Kriege für die damaligen politischen Pläne
zur Wiedergewinnung der Stellung in Deutschland nicht verderben wollte, zog
man die Entscheidung hin. In den Delegationen von 1868 wurde die Sache
angeregt, aber nicht zum Austrag gebracht. Der General Grivieie, der dort
die Einheitlichkeit der Armee energisch vertrat und sich dadurch die erbitterte
Gegnerschaft der Magyaren zugezogen hatte, wurde abberufen und durch einen
Uugnrn, den General Ghyezy, einen Bruder des Führers der staatsrechtlich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/221>, abgerufen am 25.11.2024.