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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die orientalische Frage

österreichisch-französisch-englische Bündnis (3. Januar 1825), das deutlich seine
Spitze gegen Rußland kehrte, blieb ein wertloses Stück Papier, das über der
schon im September desselben Jahres gestifteten Heiligen Allianz rasch in
Vergessenheit geriet. -- Es ist kein Zufall, daß zweimal, in Paris und im
Haag, Nußland in dem Augenblick, wo es das Bedürfnis empfand, gegen die
ganze Welt alte Eroberungen zu sichern und neue vorzubereiten, die Idee des
Weltfriedens in den Vordergrund rückte, und es Ware ein dankbarer geschichts-
philosophischer Stoss, die Heilige Allianz Alexanders des Ersten und das Haager
Schiedsgericht Nikolaus des Zweiten von hier aus zu betrachten. Gewiß
wollte Rußland den Frieden, aber es war weit davon entfernt, ihn als etwas
andres zu betrachten, als eine Gewähr gegen jede Einmischung in seine Er¬
oberungspolitik. Schon Peter der Große hatte sich bemüht, sich zu diesem
Zweck eine Art schiedsrichterlichen Einflusses in den polnischen, deutschen und
skandinavischen Dingen zu verschaffen. Alexander der Erste erreichte dieses
Ziel. Es gab sich als der Schutzherr der nach Frankreich zurückgekehrten
Bourbonen, verfügte auch bald unumschränkt in den deutschen Angelegenheiten,
in der badischen und der bayrischen Sache, und zwang dadurch anch England
zum Beitritt zur Heiligen Allianz.

Für einen Augenblick schien der griechische Aufstand dieses Programm zu
stören, Nußland schien zwischen die "antirevolntionüre" Politik des Hofes und
die konfessionellen Sympathien des russischen Volks für die Griechen gestellt;
aber auch die griechische Sache diente mir dazu, die Machtstellung Rußlands
zu festigen. Die Politik des Petersburger Hofes war jeder Begeisterung für
fremde Interessen unfähig. Während Deutschland, England und Frankreich
vom Griechenfieber geschüttelt wurden, gab Rußland kaltblütig die Griechen
preis, nachdem es sie zuvor gegen die Pforte aufgereizt hatte. Und wie herr¬
lich nahm sich Nikolaus der Erste dabei aus, als er alle seine großen Sym¬
pathien für die Christen im Orient dem antirevolutionären Programm der
Heiligen Allianz zum Opfer brachte! Nesselrode hatte die damalige Politik
Rußlands in folgende diplomatische Formel gefaßt: "Rußland konnte so wenig
wie das übrige Europa in den Triumph einer Revolution willigen, und das
wäre die notwendige Folge eines vollständigen Sieges der Griechen gewesen?
noch auch in die Ausrottung eines christlichen Volkes, die notwendige Folge
eines Sieges der Türkei." Daß Rußland die griechische Revolution geschürt
hatte, ebenso wie es einige Jahre darauf die Serben und die Bulgaren zum
Aufstande reizte, verschwieg Nesselrode; die volle Wahrheit war, daß Rußlands
Bestreben dahin zielte, die Türkei durch Revolutionierung ihrer christlichen
Untertanen fortgesetzt zu schwächen, ohne jedoch diesen Luft und Licht zu einer
kräftigen selbständigen Entwicklung zu geben, mit einem Wort, die neuen auf
der Balkanhalbinsel entstehenden staatsrechtlichen Gebilde sollten von Petersburg
abhängig und willenlose Werkzeuge in der Hand der russischen Politik sein,
was umso leichter schien, als die orientalischen Christen konfessionell nach
Petersburg gravitierten. Es entspricht durchaus dieser Tendenz der russischen
Politik, daß sie seit Peter dein Großen mit eiserner Konsequenz an der Auf¬
fassung festgehalten hat, daß in ihren Händeln mit der Pforte jede Dazwischen-


Die orientalische Frage

österreichisch-französisch-englische Bündnis (3. Januar 1825), das deutlich seine
Spitze gegen Rußland kehrte, blieb ein wertloses Stück Papier, das über der
schon im September desselben Jahres gestifteten Heiligen Allianz rasch in
Vergessenheit geriet. — Es ist kein Zufall, daß zweimal, in Paris und im
Haag, Nußland in dem Augenblick, wo es das Bedürfnis empfand, gegen die
ganze Welt alte Eroberungen zu sichern und neue vorzubereiten, die Idee des
Weltfriedens in den Vordergrund rückte, und es Ware ein dankbarer geschichts-
philosophischer Stoss, die Heilige Allianz Alexanders des Ersten und das Haager
Schiedsgericht Nikolaus des Zweiten von hier aus zu betrachten. Gewiß
wollte Rußland den Frieden, aber es war weit davon entfernt, ihn als etwas
andres zu betrachten, als eine Gewähr gegen jede Einmischung in seine Er¬
oberungspolitik. Schon Peter der Große hatte sich bemüht, sich zu diesem
Zweck eine Art schiedsrichterlichen Einflusses in den polnischen, deutschen und
skandinavischen Dingen zu verschaffen. Alexander der Erste erreichte dieses
Ziel. Es gab sich als der Schutzherr der nach Frankreich zurückgekehrten
Bourbonen, verfügte auch bald unumschränkt in den deutschen Angelegenheiten,
in der badischen und der bayrischen Sache, und zwang dadurch anch England
zum Beitritt zur Heiligen Allianz.

Für einen Augenblick schien der griechische Aufstand dieses Programm zu
stören, Nußland schien zwischen die „antirevolntionüre" Politik des Hofes und
die konfessionellen Sympathien des russischen Volks für die Griechen gestellt;
aber auch die griechische Sache diente mir dazu, die Machtstellung Rußlands
zu festigen. Die Politik des Petersburger Hofes war jeder Begeisterung für
fremde Interessen unfähig. Während Deutschland, England und Frankreich
vom Griechenfieber geschüttelt wurden, gab Rußland kaltblütig die Griechen
preis, nachdem es sie zuvor gegen die Pforte aufgereizt hatte. Und wie herr¬
lich nahm sich Nikolaus der Erste dabei aus, als er alle seine großen Sym¬
pathien für die Christen im Orient dem antirevolutionären Programm der
Heiligen Allianz zum Opfer brachte! Nesselrode hatte die damalige Politik
Rußlands in folgende diplomatische Formel gefaßt: „Rußland konnte so wenig
wie das übrige Europa in den Triumph einer Revolution willigen, und das
wäre die notwendige Folge eines vollständigen Sieges der Griechen gewesen?
noch auch in die Ausrottung eines christlichen Volkes, die notwendige Folge
eines Sieges der Türkei." Daß Rußland die griechische Revolution geschürt
hatte, ebenso wie es einige Jahre darauf die Serben und die Bulgaren zum
Aufstande reizte, verschwieg Nesselrode; die volle Wahrheit war, daß Rußlands
Bestreben dahin zielte, die Türkei durch Revolutionierung ihrer christlichen
Untertanen fortgesetzt zu schwächen, ohne jedoch diesen Luft und Licht zu einer
kräftigen selbständigen Entwicklung zu geben, mit einem Wort, die neuen auf
der Balkanhalbinsel entstehenden staatsrechtlichen Gebilde sollten von Petersburg
abhängig und willenlose Werkzeuge in der Hand der russischen Politik sein,
was umso leichter schien, als die orientalischen Christen konfessionell nach
Petersburg gravitierten. Es entspricht durchaus dieser Tendenz der russischen
Politik, daß sie seit Peter dein Großen mit eiserner Konsequenz an der Auf¬
fassung festgehalten hat, daß in ihren Händeln mit der Pforte jede Dazwischen-


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[0216] Die orientalische Frage österreichisch-französisch-englische Bündnis (3. Januar 1825), das deutlich seine Spitze gegen Rußland kehrte, blieb ein wertloses Stück Papier, das über der schon im September desselben Jahres gestifteten Heiligen Allianz rasch in Vergessenheit geriet. — Es ist kein Zufall, daß zweimal, in Paris und im Haag, Nußland in dem Augenblick, wo es das Bedürfnis empfand, gegen die ganze Welt alte Eroberungen zu sichern und neue vorzubereiten, die Idee des Weltfriedens in den Vordergrund rückte, und es Ware ein dankbarer geschichts- philosophischer Stoss, die Heilige Allianz Alexanders des Ersten und das Haager Schiedsgericht Nikolaus des Zweiten von hier aus zu betrachten. Gewiß wollte Rußland den Frieden, aber es war weit davon entfernt, ihn als etwas andres zu betrachten, als eine Gewähr gegen jede Einmischung in seine Er¬ oberungspolitik. Schon Peter der Große hatte sich bemüht, sich zu diesem Zweck eine Art schiedsrichterlichen Einflusses in den polnischen, deutschen und skandinavischen Dingen zu verschaffen. Alexander der Erste erreichte dieses Ziel. Es gab sich als der Schutzherr der nach Frankreich zurückgekehrten Bourbonen, verfügte auch bald unumschränkt in den deutschen Angelegenheiten, in der badischen und der bayrischen Sache, und zwang dadurch anch England zum Beitritt zur Heiligen Allianz. Für einen Augenblick schien der griechische Aufstand dieses Programm zu stören, Nußland schien zwischen die „antirevolntionüre" Politik des Hofes und die konfessionellen Sympathien des russischen Volks für die Griechen gestellt; aber auch die griechische Sache diente mir dazu, die Machtstellung Rußlands zu festigen. Die Politik des Petersburger Hofes war jeder Begeisterung für fremde Interessen unfähig. Während Deutschland, England und Frankreich vom Griechenfieber geschüttelt wurden, gab Rußland kaltblütig die Griechen preis, nachdem es sie zuvor gegen die Pforte aufgereizt hatte. Und wie herr¬ lich nahm sich Nikolaus der Erste dabei aus, als er alle seine großen Sym¬ pathien für die Christen im Orient dem antirevolutionären Programm der Heiligen Allianz zum Opfer brachte! Nesselrode hatte die damalige Politik Rußlands in folgende diplomatische Formel gefaßt: „Rußland konnte so wenig wie das übrige Europa in den Triumph einer Revolution willigen, und das wäre die notwendige Folge eines vollständigen Sieges der Griechen gewesen? noch auch in die Ausrottung eines christlichen Volkes, die notwendige Folge eines Sieges der Türkei." Daß Rußland die griechische Revolution geschürt hatte, ebenso wie es einige Jahre darauf die Serben und die Bulgaren zum Aufstande reizte, verschwieg Nesselrode; die volle Wahrheit war, daß Rußlands Bestreben dahin zielte, die Türkei durch Revolutionierung ihrer christlichen Untertanen fortgesetzt zu schwächen, ohne jedoch diesen Luft und Licht zu einer kräftigen selbständigen Entwicklung zu geben, mit einem Wort, die neuen auf der Balkanhalbinsel entstehenden staatsrechtlichen Gebilde sollten von Petersburg abhängig und willenlose Werkzeuge in der Hand der russischen Politik sein, was umso leichter schien, als die orientalischen Christen konfessionell nach Petersburg gravitierten. Es entspricht durchaus dieser Tendenz der russischen Politik, daß sie seit Peter dein Großen mit eiserner Konsequenz an der Auf¬ fassung festgehalten hat, daß in ihren Händeln mit der Pforte jede Dazwischen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/216>, abgerufen am 22.11.2024.