Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die orientalische Frage

Konkurrenz wirken steigernd, die Vermehrung der Zahl der "Minderwertigen,"
der Schwächlinge hemmend; insofern können Roheitsdelikte unter Umstünden als
Zeichen der wirtschaftlichen und körperlichen Volksgesundheit angesehen werden,
während die Vergehungen gegen das Eigentum zusammen mit Landstreichertum
und einer übermäßigen Zahl von Prostituierten Symptome der wirtschaftlichen
Erkrankung des Volkskörpers sind. Nur als Symptom einer solchen Er¬
krankung, also eines sehr ernstlichen Übels, sind die heutige Kriminalität und
ihr Wachstum bedenklich, trotz ihrer großen Zahlen (710564 Kriminalfälle im
Jahre 1899); bei mehr als fünfzig Millionen Einwohnern sind eben alle sta¬
tistischen Zahlen groß. An und für sich bedeutet die heutige Kriminalität, ver¬
glichen mit den Sicherheitszustäuden aller frühern Zeiten, den erfreulichsten
Fortschritt; wir verdanken ihn einerseits der Aufklärung, andrerseits den mo¬
dernen Kommunikatiousmitteln, die den Staat zu einer Präzisionsmaschine
gemacht haben. Leider scheint aber auch der sehr viel weniger erfreuliche Fort¬
schritt der sozialen Erkrankung in unserm Vaterlande unabwendbar zu sein.
Einhalt könnte ihm nnr getan werden, wenn es gelänge, die Gelegenheiten
zu produktiver Arbeit im allgemeinen zu vervielfältigen, besonders aber den
kleinen Grundbesitz im richtigen Verhältnis zur Volkszunahme fortwährend zu
vermehren, so dem Wachstum der proletarischen Schicht zu steuern, die "Minder¬
wertige" schafft und sie noch dazu der Existenzunsicherheit preisgibt und des mo¬
ralischen Halts beraubt, endlich die atvmisierten Massen in das ländliche und
das kleinstädtische Gemeindeleben wieder einzugliedern. Sollte dessen vollständiger
Untergang unabänderlich verhängt sein, so können wir uns von seinem zu¬
künftigen Ersatz durch Neuorganisationen schon deshalb um so weniger eine
Vorstellung machen und an seiner Herbeiführung mit Bewußtsein arbeiten, weil
die Neubildungen, die Zukunftskeime zu enthalten scheinen: Kartelle, Jndustrie-
feudalitüt und das wiederbelebte Innungswesen auf der einen, Gewerkvereine
und Sozialdemokratie auf der andern Seite, in feindlichem Gegensatz zu einander
stehn und einander mit grimmigem Haß bekämpfen.




Die orientalische Frage
Julius Patzelt i von n
(Fortsetzung)

er Friede vou Kütschük-Kainardschi war für Österreich eine ebenso
schwere Niederlage wie für die Türkei; leider war Joseph der
Zweite mit seiner sprunghafter und sehr oberflächlichen Politik
nicht der Mann, Nußland wieder aus der Stellung zu drängen,
die es 1774 besetzt hatte, zumal da auch die Blindheit Frankreichs
und die deutsche Frage störend wirkten. Ein Versuch Josephs (1777), das
alte österreichisch-französische Bündnis inniger und zum Schutze der Türke:
auszugestalten, scheiterte an der Apathie Frankreichs, indem man in Paris


Die orientalische Frage

Konkurrenz wirken steigernd, die Vermehrung der Zahl der „Minderwertigen,"
der Schwächlinge hemmend; insofern können Roheitsdelikte unter Umstünden als
Zeichen der wirtschaftlichen und körperlichen Volksgesundheit angesehen werden,
während die Vergehungen gegen das Eigentum zusammen mit Landstreichertum
und einer übermäßigen Zahl von Prostituierten Symptome der wirtschaftlichen
Erkrankung des Volkskörpers sind. Nur als Symptom einer solchen Er¬
krankung, also eines sehr ernstlichen Übels, sind die heutige Kriminalität und
ihr Wachstum bedenklich, trotz ihrer großen Zahlen (710564 Kriminalfälle im
Jahre 1899); bei mehr als fünfzig Millionen Einwohnern sind eben alle sta¬
tistischen Zahlen groß. An und für sich bedeutet die heutige Kriminalität, ver¬
glichen mit den Sicherheitszustäuden aller frühern Zeiten, den erfreulichsten
Fortschritt; wir verdanken ihn einerseits der Aufklärung, andrerseits den mo¬
dernen Kommunikatiousmitteln, die den Staat zu einer Präzisionsmaschine
gemacht haben. Leider scheint aber auch der sehr viel weniger erfreuliche Fort¬
schritt der sozialen Erkrankung in unserm Vaterlande unabwendbar zu sein.
Einhalt könnte ihm nnr getan werden, wenn es gelänge, die Gelegenheiten
zu produktiver Arbeit im allgemeinen zu vervielfältigen, besonders aber den
kleinen Grundbesitz im richtigen Verhältnis zur Volkszunahme fortwährend zu
vermehren, so dem Wachstum der proletarischen Schicht zu steuern, die „Minder¬
wertige" schafft und sie noch dazu der Existenzunsicherheit preisgibt und des mo¬
ralischen Halts beraubt, endlich die atvmisierten Massen in das ländliche und
das kleinstädtische Gemeindeleben wieder einzugliedern. Sollte dessen vollständiger
Untergang unabänderlich verhängt sein, so können wir uns von seinem zu¬
künftigen Ersatz durch Neuorganisationen schon deshalb um so weniger eine
Vorstellung machen und an seiner Herbeiführung mit Bewußtsein arbeiten, weil
die Neubildungen, die Zukunftskeime zu enthalten scheinen: Kartelle, Jndustrie-
feudalitüt und das wiederbelebte Innungswesen auf der einen, Gewerkvereine
und Sozialdemokratie auf der andern Seite, in feindlichem Gegensatz zu einander
stehn und einander mit grimmigem Haß bekämpfen.




Die orientalische Frage
Julius Patzelt i von n
(Fortsetzung)

er Friede vou Kütschük-Kainardschi war für Österreich eine ebenso
schwere Niederlage wie für die Türkei; leider war Joseph der
Zweite mit seiner sprunghafter und sehr oberflächlichen Politik
nicht der Mann, Nußland wieder aus der Stellung zu drängen,
die es 1774 besetzt hatte, zumal da auch die Blindheit Frankreichs
und die deutsche Frage störend wirkten. Ein Versuch Josephs (1777), das
alte österreichisch-französische Bündnis inniger und zum Schutze der Türke:
auszugestalten, scheiterte an der Apathie Frankreichs, indem man in Paris


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0210" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241424"/>
          <fw type="header" place="top"> Die orientalische Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_883" prev="#ID_882"> Konkurrenz wirken steigernd, die Vermehrung der Zahl der &#x201E;Minderwertigen,"<lb/>
der Schwächlinge hemmend; insofern können Roheitsdelikte unter Umstünden als<lb/>
Zeichen der wirtschaftlichen und körperlichen Volksgesundheit angesehen werden,<lb/>
während die Vergehungen gegen das Eigentum zusammen mit Landstreichertum<lb/>
und einer übermäßigen Zahl von Prostituierten Symptome der wirtschaftlichen<lb/>
Erkrankung des Volkskörpers sind. Nur als Symptom einer solchen Er¬<lb/>
krankung, also eines sehr ernstlichen Übels, sind die heutige Kriminalität und<lb/>
ihr Wachstum bedenklich, trotz ihrer großen Zahlen (710564 Kriminalfälle im<lb/>
Jahre 1899); bei mehr als fünfzig Millionen Einwohnern sind eben alle sta¬<lb/>
tistischen Zahlen groß. An und für sich bedeutet die heutige Kriminalität, ver¬<lb/>
glichen mit den Sicherheitszustäuden aller frühern Zeiten, den erfreulichsten<lb/>
Fortschritt; wir verdanken ihn einerseits der Aufklärung, andrerseits den mo¬<lb/>
dernen Kommunikatiousmitteln, die den Staat zu einer Präzisionsmaschine<lb/>
gemacht haben. Leider scheint aber auch der sehr viel weniger erfreuliche Fort¬<lb/>
schritt der sozialen Erkrankung in unserm Vaterlande unabwendbar zu sein.<lb/>
Einhalt könnte ihm nnr getan werden, wenn es gelänge, die Gelegenheiten<lb/>
zu produktiver Arbeit im allgemeinen zu vervielfältigen, besonders aber den<lb/>
kleinen Grundbesitz im richtigen Verhältnis zur Volkszunahme fortwährend zu<lb/>
vermehren, so dem Wachstum der proletarischen Schicht zu steuern, die &#x201E;Minder¬<lb/>
wertige" schafft und sie noch dazu der Existenzunsicherheit preisgibt und des mo¬<lb/>
ralischen Halts beraubt, endlich die atvmisierten Massen in das ländliche und<lb/>
das kleinstädtische Gemeindeleben wieder einzugliedern. Sollte dessen vollständiger<lb/>
Untergang unabänderlich verhängt sein, so können wir uns von seinem zu¬<lb/>
künftigen Ersatz durch Neuorganisationen schon deshalb um so weniger eine<lb/>
Vorstellung machen und an seiner Herbeiführung mit Bewußtsein arbeiten, weil<lb/>
die Neubildungen, die Zukunftskeime zu enthalten scheinen: Kartelle, Jndustrie-<lb/>
feudalitüt und das wiederbelebte Innungswesen auf der einen, Gewerkvereine<lb/>
und Sozialdemokratie auf der andern Seite, in feindlichem Gegensatz zu einander<lb/>
stehn und einander mit grimmigem Haß bekämpfen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die orientalische Frage<lb/><lb/>
<note type="byline"> Julius Patzelt i</note> von n<lb/>
(Fortsetzung)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_884" next="#ID_885"> er Friede vou Kütschük-Kainardschi war für Österreich eine ebenso<lb/>
schwere Niederlage wie für die Türkei; leider war Joseph der<lb/>
Zweite mit seiner sprunghafter und sehr oberflächlichen Politik<lb/>
nicht der Mann, Nußland wieder aus der Stellung zu drängen,<lb/>
die es 1774 besetzt hatte, zumal da auch die Blindheit Frankreichs<lb/>
und die deutsche Frage störend wirkten. Ein Versuch Josephs (1777), das<lb/>
alte österreichisch-französische Bündnis inniger und zum Schutze der Türke:<lb/>
auszugestalten, scheiterte an der Apathie Frankreichs, indem man in Paris</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0210] Die orientalische Frage Konkurrenz wirken steigernd, die Vermehrung der Zahl der „Minderwertigen," der Schwächlinge hemmend; insofern können Roheitsdelikte unter Umstünden als Zeichen der wirtschaftlichen und körperlichen Volksgesundheit angesehen werden, während die Vergehungen gegen das Eigentum zusammen mit Landstreichertum und einer übermäßigen Zahl von Prostituierten Symptome der wirtschaftlichen Erkrankung des Volkskörpers sind. Nur als Symptom einer solchen Er¬ krankung, also eines sehr ernstlichen Übels, sind die heutige Kriminalität und ihr Wachstum bedenklich, trotz ihrer großen Zahlen (710564 Kriminalfälle im Jahre 1899); bei mehr als fünfzig Millionen Einwohnern sind eben alle sta¬ tistischen Zahlen groß. An und für sich bedeutet die heutige Kriminalität, ver¬ glichen mit den Sicherheitszustäuden aller frühern Zeiten, den erfreulichsten Fortschritt; wir verdanken ihn einerseits der Aufklärung, andrerseits den mo¬ dernen Kommunikatiousmitteln, die den Staat zu einer Präzisionsmaschine gemacht haben. Leider scheint aber auch der sehr viel weniger erfreuliche Fort¬ schritt der sozialen Erkrankung in unserm Vaterlande unabwendbar zu sein. Einhalt könnte ihm nnr getan werden, wenn es gelänge, die Gelegenheiten zu produktiver Arbeit im allgemeinen zu vervielfältigen, besonders aber den kleinen Grundbesitz im richtigen Verhältnis zur Volkszunahme fortwährend zu vermehren, so dem Wachstum der proletarischen Schicht zu steuern, die „Minder¬ wertige" schafft und sie noch dazu der Existenzunsicherheit preisgibt und des mo¬ ralischen Halts beraubt, endlich die atvmisierten Massen in das ländliche und das kleinstädtische Gemeindeleben wieder einzugliedern. Sollte dessen vollständiger Untergang unabänderlich verhängt sein, so können wir uns von seinem zu¬ künftigen Ersatz durch Neuorganisationen schon deshalb um so weniger eine Vorstellung machen und an seiner Herbeiführung mit Bewußtsein arbeiten, weil die Neubildungen, die Zukunftskeime zu enthalten scheinen: Kartelle, Jndustrie- feudalitüt und das wiederbelebte Innungswesen auf der einen, Gewerkvereine und Sozialdemokratie auf der andern Seite, in feindlichem Gegensatz zu einander stehn und einander mit grimmigem Haß bekämpfen. Die orientalische Frage Julius Patzelt i von n (Fortsetzung) er Friede vou Kütschük-Kainardschi war für Österreich eine ebenso schwere Niederlage wie für die Türkei; leider war Joseph der Zweite mit seiner sprunghafter und sehr oberflächlichen Politik nicht der Mann, Nußland wieder aus der Stellung zu drängen, die es 1774 besetzt hatte, zumal da auch die Blindheit Frankreichs und die deutsche Frage störend wirkten. Ein Versuch Josephs (1777), das alte österreichisch-französische Bündnis inniger und zum Schutze der Türke: auszugestalten, scheiterte an der Apathie Frankreichs, indem man in Paris

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/210
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/210>, abgerufen am 27.11.2024.