Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.Kann Deutschland reiten? auf welchem organischen Wege die Fehler wieder beseitigt werden können. Für den dentschen Reichstag gilt von Anbeginn an, schon im Nord¬ Als bei der Neugrüudung des Deutschen Reichs auch die Volksvertretung, Kann Deutschland reiten? auf welchem organischen Wege die Fehler wieder beseitigt werden können. Für den dentschen Reichstag gilt von Anbeginn an, schon im Nord¬ Als bei der Neugrüudung des Deutschen Reichs auch die Volksvertretung, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0021" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241235"/> <fw type="header" place="top"> Kann Deutschland reiten?</fw><lb/> <p xml:id="ID_50" prev="#ID_49"> auf welchem organischen Wege die Fehler wieder beseitigt werden können.<lb/> Denn wie die Mängel eines politischen Aufbaus, wenn er sich überhaupt<lb/> längere Zeit halt, ganz zweifellos nicht ohne tiefe geschichtliche Begründung<lb/> hineingelange siud, so darf man auch nie darauf rechnen, sie auf operativen<lb/> Wege zu entfernen, wenn mau nicht einen tiefen und gefährlichen Eingriff in<lb/> das Volksleben überhaupt wagen will. Dagegen wird sich oft geradezu eine<lb/> gesunde Entwicklung des Volksempsindens selbst gegen die falsche Anfpfropfung<lb/> auflehnen und den geschichtlich-logischen Weg zur Heilung schon wenigstens<lb/> tastend suchen, sodaß es uur insoweit einer Nachhilfe bedarf, als diesem<lb/> Drängen die Möglichkeit der Entwicklung geboten wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_51"> Für den dentschen Reichstag gilt von Anbeginn an, schon im Nord¬<lb/> deutschen Bunde, das gleiche, allgemeine und ungegliederte Wahlrecht. Sein<lb/> geschichtlicher Ursprung überhaupt ist aber natürlich nicht hier zu suchen; bei<lb/> der Gründung des Reichs lag diese Gabe des neunzehnten Jahrhunderts schon<lb/> voll entwickelt vor. Es ist gewiß kein Zufall, daß gerade die Franzosen die<lb/> neuste Geschichte mit den Ideen haben versorgen müssen, aus denen dieses<lb/> Danaergeschenk erwuchs. Von Anfang an sind die Lebensanschauungen der ger¬<lb/> manischen und der romanischen Völker weit verschieden gewesen. Im Franzosen-<lb/> tum haben die romanischen und vielleicht mehr noch die keltischen Ursprünge die<lb/> germanischen vollkommen überwunden. Zumal dem großen Klassenkampfe vom<lb/> Ende des vorletzten Jahrhunderts haben sie die Prägung gegeben. In dem<lb/> Ringen des dritten und des vierten Standes um Recht und Gleichstellung<lb/> verwechselte das überbrausende Frcmzosentum die schrankenlose Freiheit mit<lb/> der sittlichen Freiheit, und ans der Forderung der Menfchenrechte erwuchs<lb/> auch die des allgemeinen gleichen Wahlrechts. Es ist natürlich, daß diese<lb/> Errungenschaften des französischen Volks bei dem ungeheuerm Eindruck, den<lb/> die Revolution auf alle Nachbarvölker machen mußte, auch in Deutschland<lb/> Bedeutung gewannen, die Köpfe und Sinne beherrschten und ihren Einfluß<lb/> auf die politische Neugestaltung der deutschen Staaten in dieser oder jener<lb/> Richtung ausübten. So kamen sie denn, ucugeuährt durch die Revolution in<lb/> der Mitte des Jahrhunderts, die ja in Verknüpfung mit dem Ringen um den<lb/> jetzt verwirklichten Reichsgedankcn auftrat, auch zum Ausdruck in dein Reichs¬<lb/> wahlgesetze vom 12. April 1849. Doch sei schon hier hervorgehoben, daß sich<lb/> much 'in der damaligen Zeit, unter dem nahen Eindruck der Ereignisse an der<lb/> Wende und in der'ersten Hälfte des Jahrhunderts, gewichtige Stimmen, be¬<lb/> sonders allerdings in der Literatur, für eine andre Gestaltung des Wahlrechts<lb/> nusspracheu. Jedoch blieb das allgemeine, gleiche und ungegliederte Wahlrecht<lb/> eine liberale Forderung.</p><lb/> <p xml:id="ID_52" next="#ID_53"> Als bei der Neugrüudung des Deutschen Reichs auch die Volksvertretung,<lb/> zunächst im Norddeutschen Bunde, geregelt wurde, nahm Bismarck diese libe¬<lb/> rale Forderung zunächst wesentlich um deswillen in sein Programm auf, weil<lb/> er sich der Zustimmung aller Liberalgesinntcn im weitesten Umfange ver¬<lb/> sichern, das Reich anch nach außen als einen Hort freiheitlicher Anschauungen<lb/> erscheinen lassen wollte. Er bediente sich schlechthin des Reichswahlgesetzes<lb/> von 1849, Charakteristisch bleiben die Worte des großen Staatsmannes: Ich</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0021]
Kann Deutschland reiten?
auf welchem organischen Wege die Fehler wieder beseitigt werden können.
Denn wie die Mängel eines politischen Aufbaus, wenn er sich überhaupt
längere Zeit halt, ganz zweifellos nicht ohne tiefe geschichtliche Begründung
hineingelange siud, so darf man auch nie darauf rechnen, sie auf operativen
Wege zu entfernen, wenn mau nicht einen tiefen und gefährlichen Eingriff in
das Volksleben überhaupt wagen will. Dagegen wird sich oft geradezu eine
gesunde Entwicklung des Volksempsindens selbst gegen die falsche Anfpfropfung
auflehnen und den geschichtlich-logischen Weg zur Heilung schon wenigstens
tastend suchen, sodaß es uur insoweit einer Nachhilfe bedarf, als diesem
Drängen die Möglichkeit der Entwicklung geboten wird.
Für den dentschen Reichstag gilt von Anbeginn an, schon im Nord¬
deutschen Bunde, das gleiche, allgemeine und ungegliederte Wahlrecht. Sein
geschichtlicher Ursprung überhaupt ist aber natürlich nicht hier zu suchen; bei
der Gründung des Reichs lag diese Gabe des neunzehnten Jahrhunderts schon
voll entwickelt vor. Es ist gewiß kein Zufall, daß gerade die Franzosen die
neuste Geschichte mit den Ideen haben versorgen müssen, aus denen dieses
Danaergeschenk erwuchs. Von Anfang an sind die Lebensanschauungen der ger¬
manischen und der romanischen Völker weit verschieden gewesen. Im Franzosen-
tum haben die romanischen und vielleicht mehr noch die keltischen Ursprünge die
germanischen vollkommen überwunden. Zumal dem großen Klassenkampfe vom
Ende des vorletzten Jahrhunderts haben sie die Prägung gegeben. In dem
Ringen des dritten und des vierten Standes um Recht und Gleichstellung
verwechselte das überbrausende Frcmzosentum die schrankenlose Freiheit mit
der sittlichen Freiheit, und ans der Forderung der Menfchenrechte erwuchs
auch die des allgemeinen gleichen Wahlrechts. Es ist natürlich, daß diese
Errungenschaften des französischen Volks bei dem ungeheuerm Eindruck, den
die Revolution auf alle Nachbarvölker machen mußte, auch in Deutschland
Bedeutung gewannen, die Köpfe und Sinne beherrschten und ihren Einfluß
auf die politische Neugestaltung der deutschen Staaten in dieser oder jener
Richtung ausübten. So kamen sie denn, ucugeuährt durch die Revolution in
der Mitte des Jahrhunderts, die ja in Verknüpfung mit dem Ringen um den
jetzt verwirklichten Reichsgedankcn auftrat, auch zum Ausdruck in dein Reichs¬
wahlgesetze vom 12. April 1849. Doch sei schon hier hervorgehoben, daß sich
much 'in der damaligen Zeit, unter dem nahen Eindruck der Ereignisse an der
Wende und in der'ersten Hälfte des Jahrhunderts, gewichtige Stimmen, be¬
sonders allerdings in der Literatur, für eine andre Gestaltung des Wahlrechts
nusspracheu. Jedoch blieb das allgemeine, gleiche und ungegliederte Wahlrecht
eine liberale Forderung.
Als bei der Neugrüudung des Deutschen Reichs auch die Volksvertretung,
zunächst im Norddeutschen Bunde, geregelt wurde, nahm Bismarck diese libe¬
rale Forderung zunächst wesentlich um deswillen in sein Programm auf, weil
er sich der Zustimmung aller Liberalgesinntcn im weitesten Umfange ver¬
sichern, das Reich anch nach außen als einen Hort freiheitlicher Anschauungen
erscheinen lassen wollte. Er bediente sich schlechthin des Reichswahlgesetzes
von 1849, Charakteristisch bleiben die Worte des großen Staatsmannes: Ich
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |