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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Das verbrechen und seine Bekämpfung

Jahre abgeurteilt wird. Über die fortwährende Zunahme der Kriminalität,
namentlich der Jugendlichen, haben schon längst alle Zeitungen berichtet.
Aschaffenburg bemerkt einem Optimisten gegenüber: "Ich muß gestehn, daß
ich von "Milderung des beängstigenden Eindrucks unsrer Kriminalstatistik bei
näherm Zusehen" nichts verspürt habe und anch nicht versteh" kann, wodurch
sie begründet werden könnte. Die Statistik zeigt einen Zudrang sozial Ge¬
fährlicher, der bei den Erwachsnen ein wellig abgenommen, bei den Jugend¬
lichen aber zugenommen hat; sie beweist, daß mit dem ersten, bestimmt aber
mit dem dritten oder vierten Urteil auch die Hoffnung vernichtet ist, den Ver¬
brecher seiner traurigen Laufbahn zu entreißen; sie lehrt endlich, daß der
Sturz in den Abgrund meist in sehr kurzer Zeit erfolgt, und daß unser Straf-
shstem dem wachsenden Verderben keinen Einhalt zu tun vermag."

Nach dem wachsenden Verderben würde sich ein wiedererstnndner Mensch
des siebzehnten Jahrhunderts sehr verwundert umschauen, wenn er statt ver¬
ödeter und verbrannter Dörfer unsre wohlangebauten Fluren, unsre stattlichen
Schlosser, Villen und Bauernhäuser sähe, und als Schmuck unsrer Städte nicht
Kränze vou Hexeubraudpfühlen, von Galgen mit baumelnden Leichen und von
Rabensteinen mit faulenden menschlichen Gliedern und Totcngebeinen, sondern
Gartenanlagen voll heiter promenierender Leute und fröhlich spielender Kinder.
Aber diese vergangnen Zeiten dürfen nur nicht zum Vergleich heranziehn; die
"ach furchtbaren Kämpfen und Leiden errungne wohlgefügte bürgerliche Ord¬
nung ist eben einer der zweifellosen Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts,
die wir um keinen Preis gefährden lassen dürfen. Das filigranartig feine Ge¬
webe dieser Ordnung könnte nicht einen Monat bestehn, wenn die ungeheuern
Massen unsrer heutigen Bevölkerungen wieder mit Mordwaffe und Henkerbeil
gegeneinander zu wüten anfangen wollten. Deswegen muß man die Ursachen
steigender Kriminalität als Symptome drohenden Rückfalls in die überwnndnen
Zustände und noch aus einem andern Grunde scharf ins Auge fassen. "Die
Unehrlichkeit ist ein ungemein empfindlicher Gradmesser für die wirtschaftliche
Lage," bemerkt Aschaffenburg. Aber wir müssen hinzufügen, daß dieser Grad¬
messer nicht ausreicht; es müßte eine Statistik der Bettler, Landstreicher und
Prostituierten hinzukommen, und es müßten auch die vielen tausend gezählt
werden, die die Schwierigkeit des Erwerbs bei ungenügender Ausrüstung für
den Erwerb über die Grenze schwemmt. Nachdem man schon lange in Italien
über deutsche Vagabunden geklagt hatte, fäugt man nun in Konstantinopel zu
klagen an, und in England ist die Überflutung Londons mit deutsche" (und
aus Halbasien stammenden jüdischen) Proletariern ein Gegenstand ernster po¬
litischer Erwägungen geworden. Amerika, Australien, Südafrika weigern sich,
>was ferner mittellose und "minderwertige" europäische Allswandrer anfznnehmeii,
und so wird denn die Zunahme des Vagabundcutums und der Eigcutums-
berbrechen mit unsrer wirtschaftlichen Entwicklung gleichen Schritt halten. Was
die Roheitsdelikte betrifft, so wirken einander bei stetem Volkswachstum und
fortschreitender Industrialisierung zwei Ursacheugruppeu entgegen: die Lockerung
und die Auflösung des Gemeinde- und Familienverbands, die Selbstäudigmachuug
der Jugendlichen, die Erschwerung des Fortkommens durch Verschärfung der


Grenzboten III 1903 26
Das verbrechen und seine Bekämpfung

Jahre abgeurteilt wird. Über die fortwährende Zunahme der Kriminalität,
namentlich der Jugendlichen, haben schon längst alle Zeitungen berichtet.
Aschaffenburg bemerkt einem Optimisten gegenüber: „Ich muß gestehn, daß
ich von »Milderung des beängstigenden Eindrucks unsrer Kriminalstatistik bei
näherm Zusehen« nichts verspürt habe und anch nicht versteh« kann, wodurch
sie begründet werden könnte. Die Statistik zeigt einen Zudrang sozial Ge¬
fährlicher, der bei den Erwachsnen ein wellig abgenommen, bei den Jugend¬
lichen aber zugenommen hat; sie beweist, daß mit dem ersten, bestimmt aber
mit dem dritten oder vierten Urteil auch die Hoffnung vernichtet ist, den Ver¬
brecher seiner traurigen Laufbahn zu entreißen; sie lehrt endlich, daß der
Sturz in den Abgrund meist in sehr kurzer Zeit erfolgt, und daß unser Straf-
shstem dem wachsenden Verderben keinen Einhalt zu tun vermag."

Nach dem wachsenden Verderben würde sich ein wiedererstnndner Mensch
des siebzehnten Jahrhunderts sehr verwundert umschauen, wenn er statt ver¬
ödeter und verbrannter Dörfer unsre wohlangebauten Fluren, unsre stattlichen
Schlosser, Villen und Bauernhäuser sähe, und als Schmuck unsrer Städte nicht
Kränze vou Hexeubraudpfühlen, von Galgen mit baumelnden Leichen und von
Rabensteinen mit faulenden menschlichen Gliedern und Totcngebeinen, sondern
Gartenanlagen voll heiter promenierender Leute und fröhlich spielender Kinder.
Aber diese vergangnen Zeiten dürfen nur nicht zum Vergleich heranziehn; die
»ach furchtbaren Kämpfen und Leiden errungne wohlgefügte bürgerliche Ord¬
nung ist eben einer der zweifellosen Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts,
die wir um keinen Preis gefährden lassen dürfen. Das filigranartig feine Ge¬
webe dieser Ordnung könnte nicht einen Monat bestehn, wenn die ungeheuern
Massen unsrer heutigen Bevölkerungen wieder mit Mordwaffe und Henkerbeil
gegeneinander zu wüten anfangen wollten. Deswegen muß man die Ursachen
steigender Kriminalität als Symptome drohenden Rückfalls in die überwnndnen
Zustände und noch aus einem andern Grunde scharf ins Auge fassen. „Die
Unehrlichkeit ist ein ungemein empfindlicher Gradmesser für die wirtschaftliche
Lage," bemerkt Aschaffenburg. Aber wir müssen hinzufügen, daß dieser Grad¬
messer nicht ausreicht; es müßte eine Statistik der Bettler, Landstreicher und
Prostituierten hinzukommen, und es müßten auch die vielen tausend gezählt
werden, die die Schwierigkeit des Erwerbs bei ungenügender Ausrüstung für
den Erwerb über die Grenze schwemmt. Nachdem man schon lange in Italien
über deutsche Vagabunden geklagt hatte, fäugt man nun in Konstantinopel zu
klagen an, und in England ist die Überflutung Londons mit deutsche« (und
aus Halbasien stammenden jüdischen) Proletariern ein Gegenstand ernster po¬
litischer Erwägungen geworden. Amerika, Australien, Südafrika weigern sich,
>was ferner mittellose und „minderwertige" europäische Allswandrer anfznnehmeii,
und so wird denn die Zunahme des Vagabundcutums und der Eigcutums-
berbrechen mit unsrer wirtschaftlichen Entwicklung gleichen Schritt halten. Was
die Roheitsdelikte betrifft, so wirken einander bei stetem Volkswachstum und
fortschreitender Industrialisierung zwei Ursacheugruppeu entgegen: die Lockerung
und die Auflösung des Gemeinde- und Familienverbands, die Selbstäudigmachuug
der Jugendlichen, die Erschwerung des Fortkommens durch Verschärfung der


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[0209] Das verbrechen und seine Bekämpfung Jahre abgeurteilt wird. Über die fortwährende Zunahme der Kriminalität, namentlich der Jugendlichen, haben schon längst alle Zeitungen berichtet. Aschaffenburg bemerkt einem Optimisten gegenüber: „Ich muß gestehn, daß ich von »Milderung des beängstigenden Eindrucks unsrer Kriminalstatistik bei näherm Zusehen« nichts verspürt habe und anch nicht versteh« kann, wodurch sie begründet werden könnte. Die Statistik zeigt einen Zudrang sozial Ge¬ fährlicher, der bei den Erwachsnen ein wellig abgenommen, bei den Jugend¬ lichen aber zugenommen hat; sie beweist, daß mit dem ersten, bestimmt aber mit dem dritten oder vierten Urteil auch die Hoffnung vernichtet ist, den Ver¬ brecher seiner traurigen Laufbahn zu entreißen; sie lehrt endlich, daß der Sturz in den Abgrund meist in sehr kurzer Zeit erfolgt, und daß unser Straf- shstem dem wachsenden Verderben keinen Einhalt zu tun vermag." Nach dem wachsenden Verderben würde sich ein wiedererstnndner Mensch des siebzehnten Jahrhunderts sehr verwundert umschauen, wenn er statt ver¬ ödeter und verbrannter Dörfer unsre wohlangebauten Fluren, unsre stattlichen Schlosser, Villen und Bauernhäuser sähe, und als Schmuck unsrer Städte nicht Kränze vou Hexeubraudpfühlen, von Galgen mit baumelnden Leichen und von Rabensteinen mit faulenden menschlichen Gliedern und Totcngebeinen, sondern Gartenanlagen voll heiter promenierender Leute und fröhlich spielender Kinder. Aber diese vergangnen Zeiten dürfen nur nicht zum Vergleich heranziehn; die »ach furchtbaren Kämpfen und Leiden errungne wohlgefügte bürgerliche Ord¬ nung ist eben einer der zweifellosen Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts, die wir um keinen Preis gefährden lassen dürfen. Das filigranartig feine Ge¬ webe dieser Ordnung könnte nicht einen Monat bestehn, wenn die ungeheuern Massen unsrer heutigen Bevölkerungen wieder mit Mordwaffe und Henkerbeil gegeneinander zu wüten anfangen wollten. Deswegen muß man die Ursachen steigender Kriminalität als Symptome drohenden Rückfalls in die überwnndnen Zustände und noch aus einem andern Grunde scharf ins Auge fassen. „Die Unehrlichkeit ist ein ungemein empfindlicher Gradmesser für die wirtschaftliche Lage," bemerkt Aschaffenburg. Aber wir müssen hinzufügen, daß dieser Grad¬ messer nicht ausreicht; es müßte eine Statistik der Bettler, Landstreicher und Prostituierten hinzukommen, und es müßten auch die vielen tausend gezählt werden, die die Schwierigkeit des Erwerbs bei ungenügender Ausrüstung für den Erwerb über die Grenze schwemmt. Nachdem man schon lange in Italien über deutsche Vagabunden geklagt hatte, fäugt man nun in Konstantinopel zu klagen an, und in England ist die Überflutung Londons mit deutsche« (und aus Halbasien stammenden jüdischen) Proletariern ein Gegenstand ernster po¬ litischer Erwägungen geworden. Amerika, Australien, Südafrika weigern sich, >was ferner mittellose und „minderwertige" europäische Allswandrer anfznnehmeii, und so wird denn die Zunahme des Vagabundcutums und der Eigcutums- berbrechen mit unsrer wirtschaftlichen Entwicklung gleichen Schritt halten. Was die Roheitsdelikte betrifft, so wirken einander bei stetem Volkswachstum und fortschreitender Industrialisierung zwei Ursacheugruppeu entgegen: die Lockerung und die Auflösung des Gemeinde- und Familienverbands, die Selbstäudigmachuug der Jugendlichen, die Erschwerung des Fortkommens durch Verschärfung der Grenzboten III 1903 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/209>, abgerufen am 23.11.2024.