Verhandlung? Nur um festzustellen, ob nicht am Ende doch die Einsicht vor¬ handen war?" Die fehlt ausnahmslos immer! Welcher unterrichtete Manu wird es für hinreichende Einsicht halten, wenn das Kind die zehn Gebote herplappern kann! Auch ein Schuldbewußtsein, wie es sogar dem Hunde nicht fehlt, genügt noch nicht zur strafrichterlichen Verurteilung; ein solches Schuld¬ bewußtsein hat auch dus dreijährige Kind, wenn es schon die Rute hat fürchten lernen. Und die Hauptsache: die Widerstandskraft gegen Versuchungen, die oft in heroischer Stärke nötig sein würde, der gefestigte Charakter, diese Hauptsache kann beim Durchschnittsmenschen vor dem zwanzigsten Jahre nicht vorhanden sein. Erst in dem Alter, wo sein Körper vollendet ist, und wo er für fähig erachtet wird, staatsbürgerliche Rechte auszuüben, kann er in vollem Maße für seine Handlungen selbst verantwortlich gemacht werden; bis dahin sollten seine Verfehlungen niemals kriminell, sondern immer nur disziplinarisch gestraft werden; der Unmündige gehört nicht vor den Strafrichter, sondern vor den Vater, Lehrer, Brodherrn oder Vormund, und wenn sich der Staat seiner annimmt, so soll er es nicht als Strafrichter, sondern als Obervormund tun. Der Strafprozeß stellt den Angeklagten und den Staat als zwei Parteien ein¬ ander gegenüber, die gleichberechtigt sind, wenn auch die bei weitem stärkere der Staat ist. Der Angeklagte wird vorgefordert, weil er den stillschweigenden Vertrag, der zwischen beiden besteht, gebrochen hat. Wie lächerlich, einen dummen Jungen, ein albernes Mädchen, ein wehrloses Kind der Staatsgewalt, und einer so riesenhaften, wie die heutige ist, als Duellanten gegenüberzu¬ stellen! Wie widerlich wirken schon die Formen eines solchen Duells!
Was den dritten Zweck der Kriminaljustiz, den Schutz des Publikums, betrifft, so beleuchtet Aschaffenburg die Art, wie er heute erstrebt und erreicht wird, mit einigen Fällen, von denen wir nur einen anführen wollen. "Vor mir liegt die Strafliste eines vierzigjährigen Mannes, der zur Zeit seine achte Strafe verbüßt, sämtlich erkannt wegen unzüchtiger Angriffe auf Kinder uuter vierzehn Jahren. Die erste Strafe von sechs Monaten füllt in das Jahr 1886, die letzte auf den Juni 1901. Also in fünfzehn Jahren mußte derselbe Mensch achtmal wegen desselben Verbrechens mit zusammen nenn Jahren Gefängnis und Zuchthaus bestraft werden; oft liegt zwischen zwei Straftaten gerade nur die Zeit, während deren der Aufenthalt in der Strafanstalt die Begehung eines neuen solchen Verbrechens unmöglich machte. In kurzem wird er entlassen; wie mag das erste der Kinder heißen, die ihm dann zur Beute fallen werden?" Man braucht nur einen einzigen solchen typischen Fall ins Auge zu fassen, wenn man die Unvernunft der heutigen Praxis ein¬ sehen will. Kraepelin hat zuerst das entscheidende und erlösende Wort aus¬ gesprochen, und Aschaffenburg eignet es sich an: das Strafmaß muß abgeschafft, der Verbrecher muß nach seiner Individualität behandelt werden, die, falls nicht seine offenbare Gutartigkeit die bedingte Verurteilung möglich macht, erst in der Strafanstalt erkannt werden kann. Sind nur Mängel vorhanden, die leicht gehoben werden können, so wird er nach kurzer Behandlung ent¬ lassen. Bedarf er einer bessern Ausrüstung zum Lebenskampf, so wird ihm diese durch Schulung in der Arbeit, die zugleich sittliche Erziehung ist, gewährt.
Das verbrechen und seine Bekämpfung
Verhandlung? Nur um festzustellen, ob nicht am Ende doch die Einsicht vor¬ handen war?" Die fehlt ausnahmslos immer! Welcher unterrichtete Manu wird es für hinreichende Einsicht halten, wenn das Kind die zehn Gebote herplappern kann! Auch ein Schuldbewußtsein, wie es sogar dem Hunde nicht fehlt, genügt noch nicht zur strafrichterlichen Verurteilung; ein solches Schuld¬ bewußtsein hat auch dus dreijährige Kind, wenn es schon die Rute hat fürchten lernen. Und die Hauptsache: die Widerstandskraft gegen Versuchungen, die oft in heroischer Stärke nötig sein würde, der gefestigte Charakter, diese Hauptsache kann beim Durchschnittsmenschen vor dem zwanzigsten Jahre nicht vorhanden sein. Erst in dem Alter, wo sein Körper vollendet ist, und wo er für fähig erachtet wird, staatsbürgerliche Rechte auszuüben, kann er in vollem Maße für seine Handlungen selbst verantwortlich gemacht werden; bis dahin sollten seine Verfehlungen niemals kriminell, sondern immer nur disziplinarisch gestraft werden; der Unmündige gehört nicht vor den Strafrichter, sondern vor den Vater, Lehrer, Brodherrn oder Vormund, und wenn sich der Staat seiner annimmt, so soll er es nicht als Strafrichter, sondern als Obervormund tun. Der Strafprozeß stellt den Angeklagten und den Staat als zwei Parteien ein¬ ander gegenüber, die gleichberechtigt sind, wenn auch die bei weitem stärkere der Staat ist. Der Angeklagte wird vorgefordert, weil er den stillschweigenden Vertrag, der zwischen beiden besteht, gebrochen hat. Wie lächerlich, einen dummen Jungen, ein albernes Mädchen, ein wehrloses Kind der Staatsgewalt, und einer so riesenhaften, wie die heutige ist, als Duellanten gegenüberzu¬ stellen! Wie widerlich wirken schon die Formen eines solchen Duells!
Was den dritten Zweck der Kriminaljustiz, den Schutz des Publikums, betrifft, so beleuchtet Aschaffenburg die Art, wie er heute erstrebt und erreicht wird, mit einigen Fällen, von denen wir nur einen anführen wollen. „Vor mir liegt die Strafliste eines vierzigjährigen Mannes, der zur Zeit seine achte Strafe verbüßt, sämtlich erkannt wegen unzüchtiger Angriffe auf Kinder uuter vierzehn Jahren. Die erste Strafe von sechs Monaten füllt in das Jahr 1886, die letzte auf den Juni 1901. Also in fünfzehn Jahren mußte derselbe Mensch achtmal wegen desselben Verbrechens mit zusammen nenn Jahren Gefängnis und Zuchthaus bestraft werden; oft liegt zwischen zwei Straftaten gerade nur die Zeit, während deren der Aufenthalt in der Strafanstalt die Begehung eines neuen solchen Verbrechens unmöglich machte. In kurzem wird er entlassen; wie mag das erste der Kinder heißen, die ihm dann zur Beute fallen werden?" Man braucht nur einen einzigen solchen typischen Fall ins Auge zu fassen, wenn man die Unvernunft der heutigen Praxis ein¬ sehen will. Kraepelin hat zuerst das entscheidende und erlösende Wort aus¬ gesprochen, und Aschaffenburg eignet es sich an: das Strafmaß muß abgeschafft, der Verbrecher muß nach seiner Individualität behandelt werden, die, falls nicht seine offenbare Gutartigkeit die bedingte Verurteilung möglich macht, erst in der Strafanstalt erkannt werden kann. Sind nur Mängel vorhanden, die leicht gehoben werden können, so wird er nach kurzer Behandlung ent¬ lassen. Bedarf er einer bessern Ausrüstung zum Lebenskampf, so wird ihm diese durch Schulung in der Arbeit, die zugleich sittliche Erziehung ist, gewährt.
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Verhandlung? Nur um festzustellen, ob nicht am Ende doch die Einsicht vor¬
handen war?" Die fehlt ausnahmslos immer! Welcher unterrichtete Manu
wird es für hinreichende Einsicht halten, wenn das Kind die zehn Gebote
herplappern kann! Auch ein Schuldbewußtsein, wie es sogar dem Hunde nicht
fehlt, genügt noch nicht zur strafrichterlichen Verurteilung; ein solches Schuld¬
bewußtsein hat auch dus dreijährige Kind, wenn es schon die Rute hat
fürchten lernen. Und die Hauptsache: die Widerstandskraft gegen Versuchungen,
die oft in heroischer Stärke nötig sein würde, der gefestigte Charakter, diese
Hauptsache kann beim Durchschnittsmenschen vor dem zwanzigsten Jahre nicht
vorhanden sein. Erst in dem Alter, wo sein Körper vollendet ist, und wo er
für fähig erachtet wird, staatsbürgerliche Rechte auszuüben, kann er in vollem
Maße für seine Handlungen selbst verantwortlich gemacht werden; bis dahin
sollten seine Verfehlungen niemals kriminell, sondern immer nur disziplinarisch
gestraft werden; der Unmündige gehört nicht vor den Strafrichter, sondern vor
den Vater, Lehrer, Brodherrn oder Vormund, und wenn sich der Staat seiner
annimmt, so soll er es nicht als Strafrichter, sondern als Obervormund tun.
Der Strafprozeß stellt den Angeklagten und den Staat als zwei Parteien ein¬
ander gegenüber, die gleichberechtigt sind, wenn auch die bei weitem stärkere
der Staat ist. Der Angeklagte wird vorgefordert, weil er den stillschweigenden
Vertrag, der zwischen beiden besteht, gebrochen hat. Wie lächerlich, einen
dummen Jungen, ein albernes Mädchen, ein wehrloses Kind der Staatsgewalt,
und einer so riesenhaften, wie die heutige ist, als Duellanten gegenüberzu¬
stellen! Wie widerlich wirken schon die Formen eines solchen Duells!
Was den dritten Zweck der Kriminaljustiz, den Schutz des Publikums,
betrifft, so beleuchtet Aschaffenburg die Art, wie er heute erstrebt und erreicht
wird, mit einigen Fällen, von denen wir nur einen anführen wollen. „Vor
mir liegt die Strafliste eines vierzigjährigen Mannes, der zur Zeit seine achte
Strafe verbüßt, sämtlich erkannt wegen unzüchtiger Angriffe auf Kinder uuter
vierzehn Jahren. Die erste Strafe von sechs Monaten füllt in das Jahr 1886,
die letzte auf den Juni 1901. Also in fünfzehn Jahren mußte derselbe
Mensch achtmal wegen desselben Verbrechens mit zusammen nenn Jahren
Gefängnis und Zuchthaus bestraft werden; oft liegt zwischen zwei Straftaten
gerade nur die Zeit, während deren der Aufenthalt in der Strafanstalt die
Begehung eines neuen solchen Verbrechens unmöglich machte. In kurzem
wird er entlassen; wie mag das erste der Kinder heißen, die ihm dann zur
Beute fallen werden?" Man braucht nur einen einzigen solchen typischen
Fall ins Auge zu fassen, wenn man die Unvernunft der heutigen Praxis ein¬
sehen will. Kraepelin hat zuerst das entscheidende und erlösende Wort aus¬
gesprochen, und Aschaffenburg eignet es sich an: das Strafmaß muß abgeschafft,
der Verbrecher muß nach seiner Individualität behandelt werden, die, falls
nicht seine offenbare Gutartigkeit die bedingte Verurteilung möglich macht,
erst in der Strafanstalt erkannt werden kann. Sind nur Mängel vorhanden,
die leicht gehoben werden können, so wird er nach kurzer Behandlung ent¬
lassen. Bedarf er einer bessern Ausrüstung zum Lebenskampf, so wird ihm
diese durch Schulung in der Arbeit, die zugleich sittliche Erziehung ist, gewährt.
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/204>, abgerufen am 24.11.2024.
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