Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Kann Deutschland reiten?

England noch geblieben: Frankreichs Auch bei der Beurteilung Frankreichs
sind wir nur zu sehr geneigt, aus den schließlichen Ergebnissen der historischen
Entwicklung rückwärts die Verhältnisse zu verurteilen. Heute hört man, be¬
sonders in England, oft geringschätzige Urteile über die Fähigkeit der Fran¬
zosen zur Kolonisation, und doch lagen die Verhältnisse über See im acht¬
zehnten Jahrhundert für Frankreich günstiger als für Englaud. Fraukreich
hatte sich in Nordamerika die besten und die politisch wertvollsten Teile ge¬
sichert. Es hatte in Indien erfolgreich begonnen, sich ein großes Kolonial¬
reich zu schaffen, und Seelcy, der Historiker der englischen Kolonialpolitik,
spricht es offen aus, daß das, was Frankreich in Indien damals geleistet
habe, bessere Arbeit als die von England verrichtete gewesen sei. Auch in
der innern wirtschaftlichen Kultur steht Frankreich in der ersten Hälfte des
achtzehnten Jahrhunderts höher als England.^) Die ersten Anfänge einer
Großindustrie finden wir in Frankreich, nicht in England, und eng mit dieser
frühen Entwicklung hängt es wohl zusammen, daß der erste Ansturm gegen
den Merkantilismus von französischen Denkern ausgeht. Vor dem Schotten
Adam Smith schrieb der Franzose Turgot, und die englische Volkswirtschafts¬
lehre am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts ist ohne die Lehre der fran¬
zösischen Phhsiokraten unverständlich. In Frankreich fiel zuerst das Wort,
das dann fast hundert Jahre später zum Schibboleth der englischen Freihcmdels-
theoric wurde: latssgr tdirs, iNssgr passer.

(Schluß folgt)




Kann Deutschland reiten?

W^><<^V'
MMmeer den Stürme" der großen französischen Revolution ist das
neunzehnte Jahrhundert geboren worden. Ihre Ideenwelt hat
es noch jahrzehntelang beeinflußt, und so ist es das Jahrhundert
des Ringens der Völker um Mitbestimmung über ihre Geschicke
geworden. Aus allem Übermaß hat sich schließlich das allge¬
meine, gleiche und ungegliederte Wahlrecht als der höchste Ausdruck dieses
Strebens abgeklärt. Auch das junge Deutsche Reich wurde dieser Gabe des
Jahrhunderts teilhaftig. Und nun, wo das Jahrhundert dahingegangen ist,
da scheint es, als ob auch der Schimmer dieser seiner Errungenschaft mehr
und mehr verblassen wollte.

In immer weitere Kreise sehen wir die Zweifel an der Vollkommenheit
dieses Wahlrechts dringen; immer mehr befestigt sich bei den Leuten, denen
die Zukunft Deutschlands wahrhaft am Herzen liegt, die Überzeugung, daß
es so, ganz so wie es ist, auf die Dauer nicht aufrecht erhalten bleiben könne.



Z. N, man schützt die Produktion von Roheisen
in Frankreich 1740 nuf 26000 Tonnen, in England auf 20000 Tonnen
dagegen " " 1840 " 8V0 000 " " " " 1390000
Kann Deutschland reiten?

England noch geblieben: Frankreichs Auch bei der Beurteilung Frankreichs
sind wir nur zu sehr geneigt, aus den schließlichen Ergebnissen der historischen
Entwicklung rückwärts die Verhältnisse zu verurteilen. Heute hört man, be¬
sonders in England, oft geringschätzige Urteile über die Fähigkeit der Fran¬
zosen zur Kolonisation, und doch lagen die Verhältnisse über See im acht¬
zehnten Jahrhundert für Frankreich günstiger als für Englaud. Fraukreich
hatte sich in Nordamerika die besten und die politisch wertvollsten Teile ge¬
sichert. Es hatte in Indien erfolgreich begonnen, sich ein großes Kolonial¬
reich zu schaffen, und Seelcy, der Historiker der englischen Kolonialpolitik,
spricht es offen aus, daß das, was Frankreich in Indien damals geleistet
habe, bessere Arbeit als die von England verrichtete gewesen sei. Auch in
der innern wirtschaftlichen Kultur steht Frankreich in der ersten Hälfte des
achtzehnten Jahrhunderts höher als England.^) Die ersten Anfänge einer
Großindustrie finden wir in Frankreich, nicht in England, und eng mit dieser
frühen Entwicklung hängt es wohl zusammen, daß der erste Ansturm gegen
den Merkantilismus von französischen Denkern ausgeht. Vor dem Schotten
Adam Smith schrieb der Franzose Turgot, und die englische Volkswirtschafts¬
lehre am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts ist ohne die Lehre der fran¬
zösischen Phhsiokraten unverständlich. In Frankreich fiel zuerst das Wort,
das dann fast hundert Jahre später zum Schibboleth der englischen Freihcmdels-
theoric wurde: latssgr tdirs, iNssgr passer.

(Schluß folgt)




Kann Deutschland reiten?

W^><<^V'
MMmeer den Stürme» der großen französischen Revolution ist das
neunzehnte Jahrhundert geboren worden. Ihre Ideenwelt hat
es noch jahrzehntelang beeinflußt, und so ist es das Jahrhundert
des Ringens der Völker um Mitbestimmung über ihre Geschicke
geworden. Aus allem Übermaß hat sich schließlich das allge¬
meine, gleiche und ungegliederte Wahlrecht als der höchste Ausdruck dieses
Strebens abgeklärt. Auch das junge Deutsche Reich wurde dieser Gabe des
Jahrhunderts teilhaftig. Und nun, wo das Jahrhundert dahingegangen ist,
da scheint es, als ob auch der Schimmer dieser seiner Errungenschaft mehr
und mehr verblassen wollte.

In immer weitere Kreise sehen wir die Zweifel an der Vollkommenheit
dieses Wahlrechts dringen; immer mehr befestigt sich bei den Leuten, denen
die Zukunft Deutschlands wahrhaft am Herzen liegt, die Überzeugung, daß
es so, ganz so wie es ist, auf die Dauer nicht aufrecht erhalten bleiben könne.



Z. N, man schützt die Produktion von Roheisen
in Frankreich 1740 nuf 26000 Tonnen, in England auf 20000 Tonnen
dagegen „ „ 1840 „ 8V0 000 „ „ „ „ 1390000
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241232"/>
            <fw type="header" place="top"> Kann Deutschland reiten?</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_40" prev="#ID_39"> England noch geblieben: Frankreichs Auch bei der Beurteilung Frankreichs<lb/>
sind wir nur zu sehr geneigt, aus den schließlichen Ergebnissen der historischen<lb/>
Entwicklung rückwärts die Verhältnisse zu verurteilen. Heute hört man, be¬<lb/>
sonders in England, oft geringschätzige Urteile über die Fähigkeit der Fran¬<lb/>
zosen zur Kolonisation, und doch lagen die Verhältnisse über See im acht¬<lb/>
zehnten Jahrhundert für Frankreich günstiger als für Englaud. Fraukreich<lb/>
hatte sich in Nordamerika die besten und die politisch wertvollsten Teile ge¬<lb/>
sichert. Es hatte in Indien erfolgreich begonnen, sich ein großes Kolonial¬<lb/>
reich zu schaffen, und Seelcy, der Historiker der englischen Kolonialpolitik,<lb/>
spricht es offen aus, daß das, was Frankreich in Indien damals geleistet<lb/>
habe, bessere Arbeit als die von England verrichtete gewesen sei. Auch in<lb/>
der innern wirtschaftlichen Kultur steht Frankreich in der ersten Hälfte des<lb/>
achtzehnten Jahrhunderts höher als England.^) Die ersten Anfänge einer<lb/>
Großindustrie finden wir in Frankreich, nicht in England, und eng mit dieser<lb/>
frühen Entwicklung hängt es wohl zusammen, daß der erste Ansturm gegen<lb/>
den Merkantilismus von französischen Denkern ausgeht. Vor dem Schotten<lb/>
Adam Smith schrieb der Franzose Turgot, und die englische Volkswirtschafts¬<lb/>
lehre am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts ist ohne die Lehre der fran¬<lb/>
zösischen Phhsiokraten unverständlich. In Frankreich fiel zuerst das Wort,<lb/>
das dann fast hundert Jahre später zum Schibboleth der englischen Freihcmdels-<lb/>
theoric wurde: latssgr tdirs, iNssgr passer.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_41"> (Schluß folgt)</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Kann Deutschland reiten?</head><lb/>
          <p xml:id="ID_42"> W^&gt;&lt;&lt;^V'<lb/>
MMmeer den Stürme» der großen französischen Revolution ist das<lb/>
neunzehnte Jahrhundert geboren worden. Ihre Ideenwelt hat<lb/>
es noch jahrzehntelang beeinflußt, und so ist es das Jahrhundert<lb/>
des Ringens der Völker um Mitbestimmung über ihre Geschicke<lb/>
geworden. Aus allem Übermaß hat sich schließlich das allge¬<lb/>
meine, gleiche und ungegliederte Wahlrecht als der höchste Ausdruck dieses<lb/>
Strebens abgeklärt. Auch das junge Deutsche Reich wurde dieser Gabe des<lb/>
Jahrhunderts teilhaftig. Und nun, wo das Jahrhundert dahingegangen ist,<lb/>
da scheint es, als ob auch der Schimmer dieser seiner Errungenschaft mehr<lb/>
und mehr verblassen wollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_43" next="#ID_44"> In immer weitere Kreise sehen wir die Zweifel an der Vollkommenheit<lb/>
dieses Wahlrechts dringen; immer mehr befestigt sich bei den Leuten, denen<lb/>
die Zukunft Deutschlands wahrhaft am Herzen liegt, die Überzeugung, daß<lb/>
es so, ganz so wie es ist, auf die Dauer nicht aufrecht erhalten bleiben könne.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_2" place="foot"> Z. N, man schützt die Produktion von Roheisen<lb/><list><item> in Frankreich 1740 nuf 26000 Tonnen, in England auf  20000 Tonnen</item><item> dagegen &#x201E;    &#x201E;    1840 &#x201E;  8V0 000   &#x201E;   &#x201E;   &#x201E;   &#x201E; 1390000</item></list><lb/></note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0018] Kann Deutschland reiten? England noch geblieben: Frankreichs Auch bei der Beurteilung Frankreichs sind wir nur zu sehr geneigt, aus den schließlichen Ergebnissen der historischen Entwicklung rückwärts die Verhältnisse zu verurteilen. Heute hört man, be¬ sonders in England, oft geringschätzige Urteile über die Fähigkeit der Fran¬ zosen zur Kolonisation, und doch lagen die Verhältnisse über See im acht¬ zehnten Jahrhundert für Frankreich günstiger als für Englaud. Fraukreich hatte sich in Nordamerika die besten und die politisch wertvollsten Teile ge¬ sichert. Es hatte in Indien erfolgreich begonnen, sich ein großes Kolonial¬ reich zu schaffen, und Seelcy, der Historiker der englischen Kolonialpolitik, spricht es offen aus, daß das, was Frankreich in Indien damals geleistet habe, bessere Arbeit als die von England verrichtete gewesen sei. Auch in der innern wirtschaftlichen Kultur steht Frankreich in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts höher als England.^) Die ersten Anfänge einer Großindustrie finden wir in Frankreich, nicht in England, und eng mit dieser frühen Entwicklung hängt es wohl zusammen, daß der erste Ansturm gegen den Merkantilismus von französischen Denkern ausgeht. Vor dem Schotten Adam Smith schrieb der Franzose Turgot, und die englische Volkswirtschafts¬ lehre am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts ist ohne die Lehre der fran¬ zösischen Phhsiokraten unverständlich. In Frankreich fiel zuerst das Wort, das dann fast hundert Jahre später zum Schibboleth der englischen Freihcmdels- theoric wurde: latssgr tdirs, iNssgr passer. (Schluß folgt) Kann Deutschland reiten? W^><<^V' MMmeer den Stürme» der großen französischen Revolution ist das neunzehnte Jahrhundert geboren worden. Ihre Ideenwelt hat es noch jahrzehntelang beeinflußt, und so ist es das Jahrhundert des Ringens der Völker um Mitbestimmung über ihre Geschicke geworden. Aus allem Übermaß hat sich schließlich das allge¬ meine, gleiche und ungegliederte Wahlrecht als der höchste Ausdruck dieses Strebens abgeklärt. Auch das junge Deutsche Reich wurde dieser Gabe des Jahrhunderts teilhaftig. Und nun, wo das Jahrhundert dahingegangen ist, da scheint es, als ob auch der Schimmer dieser seiner Errungenschaft mehr und mehr verblassen wollte. In immer weitere Kreise sehen wir die Zweifel an der Vollkommenheit dieses Wahlrechts dringen; immer mehr befestigt sich bei den Leuten, denen die Zukunft Deutschlands wahrhaft am Herzen liegt, die Überzeugung, daß es so, ganz so wie es ist, auf die Dauer nicht aufrecht erhalten bleiben könne. Z. N, man schützt die Produktion von Roheisen in Frankreich 1740 nuf 26000 Tonnen, in England auf 20000 Tonnen dagegen „ „ 1840 „ 8V0 000 „ „ „ „ 1390000

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/18
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/18>, abgerufen am 27.07.2024.