Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Bas französische Layrcutlz

Orakel nur dann etwas gelten, wenn die Not drängt, hat sie uns aufs deut¬
lichste offenbart.

Somit haben sich alle Darsteller bemüht, dein Chor gegenüber, der das
antike Schicksal vertritt, die menschliche Freiheit und überhaupt den mensch¬
lichen Charakter der Helden zu betonen. Man fühlt, daß es Mouuet-Sully
gelungen ist, seine Mitarbeiter immer mehr für seine philosophische und psycho¬
logische Auffassung des Dramas zu gewinnen. Darin liegt meines Erachtens
die tiefe literarische und philosophische Bedeutung der letzten Vorstellungen.

Aber auch im einzelnen haben es die Darsteller verstanden, ans dem
römischen Podium den Geist der antiken Tragödie zu neuem Leben zu er¬
wecken. Nur wer den Festspielen in Orange beigewohnt hat, wird sich wirk¬
lich eine antike Aufführung vergegenwärtige können. Wie im großen Theater
zu Athen am Südabhange der Akropolis, so auch hier in Orange ans dein
felsigen AbHange des Sankt Eutropeberges erheben sich die Sitzplätze immer
höher und höher, dicht gefüllt von Tausenden und aber Tausenden:


Von Menschen wimmelnd wächst der Ban
In weiter stets geschweiftem Bogen
Hinauf bis in des Himmels Blau.

Wie zur Blütezeit Athens macht die unter freiem Himmel nmphitheatralisch
gruppierte Menge einen imposanten Eindruck. Am Fuße des ungeheuern
Postszeninms erhebt sich das neueingerichtete Podium. Hinter nrnlten Granat¬
bäumen und dichtbelaubten Feigenbäumen sitzt das Orchester der Loinvclio
?ra,irhg.i3s nnter Laurent Troemes ausgezeichneter Leitung, unsichtbar wie in
Bayreuth. Mit ihren großartigen Säulentrümmern und dem üppigen Pflanzen-
wuchs der südlichen Gegenden hat die Bühne ein prächtiges Aussehen. Sie
versetzt uns auf die Kadmeia zu Theben. In der Mitte des Podiums erhebt
sich der Köuigspnlast des Ödipns mit der breiten Königspforte. Auf dem
Platze vor dem Gebäude ist das Volk um den Altar versammelt. Mit Öl¬
zweigen in den Händen knieen Knaben, Jünglinge und Greise auf den Altar-
stufen. Rechts und links erheben sich die Ruinen der römischen Nebengebäude,
bei denen der Halbzirkel der Znschanersitze endigt. Dort zeigt die Dekoration
die Straße nach der Stadt, hier deutet sie den Weg in die Fremde an. Das
Mitteltor des Palastes öffnet sich, und Mouuet-Smith, im Schmuck seiner
königlichen Würde, tritt langsam und majestätisch hervor -- und nun ent¬
wickelt sich vor unsern Angen eine Handlung, so ergreifend und tragisch, wie
man sie in keinem modernen Drama, außer in Raciues "Feindlichen Brüdern"
und Schillers "Braut von Messina," finden kann. Nur in Orange habe ich
wirklich gefühlt, wie sehr der alte thebanische Mythus des Ödipus, der ohne
Wissen seinen Vater ermordet, seine eigne Mutter heiratet und sich endlich
in seiner Verzweiflung die Angen nnssticht, zur tragischen Darstellung geeignet
war. Niemals hat ein Schattspieler besser als Mounet-Sully die eigentümliche
Kunst des Sophokles verstanden, die eben darin besteht, daß erst nach und
nach der Schleier von der unseligen Vergangenheit des Königs enthüllt wird
und mit tragischer Ironie das Geheimnis von Ödipus selbst entdeckt wird,


Bas französische Layrcutlz

Orakel nur dann etwas gelten, wenn die Not drängt, hat sie uns aufs deut¬
lichste offenbart.

Somit haben sich alle Darsteller bemüht, dein Chor gegenüber, der das
antike Schicksal vertritt, die menschliche Freiheit und überhaupt den mensch¬
lichen Charakter der Helden zu betonen. Man fühlt, daß es Mouuet-Sully
gelungen ist, seine Mitarbeiter immer mehr für seine philosophische und psycho¬
logische Auffassung des Dramas zu gewinnen. Darin liegt meines Erachtens
die tiefe literarische und philosophische Bedeutung der letzten Vorstellungen.

Aber auch im einzelnen haben es die Darsteller verstanden, ans dem
römischen Podium den Geist der antiken Tragödie zu neuem Leben zu er¬
wecken. Nur wer den Festspielen in Orange beigewohnt hat, wird sich wirk¬
lich eine antike Aufführung vergegenwärtige können. Wie im großen Theater
zu Athen am Südabhange der Akropolis, so auch hier in Orange ans dein
felsigen AbHange des Sankt Eutropeberges erheben sich die Sitzplätze immer
höher und höher, dicht gefüllt von Tausenden und aber Tausenden:


Von Menschen wimmelnd wächst der Ban
In weiter stets geschweiftem Bogen
Hinauf bis in des Himmels Blau.

Wie zur Blütezeit Athens macht die unter freiem Himmel nmphitheatralisch
gruppierte Menge einen imposanten Eindruck. Am Fuße des ungeheuern
Postszeninms erhebt sich das neueingerichtete Podium. Hinter nrnlten Granat¬
bäumen und dichtbelaubten Feigenbäumen sitzt das Orchester der Loinvclio
?ra,irhg.i3s nnter Laurent Troemes ausgezeichneter Leitung, unsichtbar wie in
Bayreuth. Mit ihren großartigen Säulentrümmern und dem üppigen Pflanzen-
wuchs der südlichen Gegenden hat die Bühne ein prächtiges Aussehen. Sie
versetzt uns auf die Kadmeia zu Theben. In der Mitte des Podiums erhebt
sich der Köuigspnlast des Ödipns mit der breiten Königspforte. Auf dem
Platze vor dem Gebäude ist das Volk um den Altar versammelt. Mit Öl¬
zweigen in den Händen knieen Knaben, Jünglinge und Greise auf den Altar-
stufen. Rechts und links erheben sich die Ruinen der römischen Nebengebäude,
bei denen der Halbzirkel der Znschanersitze endigt. Dort zeigt die Dekoration
die Straße nach der Stadt, hier deutet sie den Weg in die Fremde an. Das
Mitteltor des Palastes öffnet sich, und Mouuet-Smith, im Schmuck seiner
königlichen Würde, tritt langsam und majestätisch hervor — und nun ent¬
wickelt sich vor unsern Angen eine Handlung, so ergreifend und tragisch, wie
man sie in keinem modernen Drama, außer in Raciues „Feindlichen Brüdern"
und Schillers „Braut von Messina," finden kann. Nur in Orange habe ich
wirklich gefühlt, wie sehr der alte thebanische Mythus des Ödipus, der ohne
Wissen seinen Vater ermordet, seine eigne Mutter heiratet und sich endlich
in seiner Verzweiflung die Angen nnssticht, zur tragischen Darstellung geeignet
war. Niemals hat ein Schattspieler besser als Mounet-Sully die eigentümliche
Kunst des Sophokles verstanden, die eben darin besteht, daß erst nach und
nach der Schleier von der unseligen Vergangenheit des Königs enthüllt wird
und mit tragischer Ironie das Geheimnis von Ödipus selbst entdeckt wird,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0164" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241378"/>
          <fw type="header" place="top"> Bas französische Layrcutlz</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_672" prev="#ID_671"> Orakel nur dann etwas gelten, wenn die Not drängt, hat sie uns aufs deut¬<lb/>
lichste offenbart.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_673"> Somit haben sich alle Darsteller bemüht, dein Chor gegenüber, der das<lb/>
antike Schicksal vertritt, die menschliche Freiheit und überhaupt den mensch¬<lb/>
lichen Charakter der Helden zu betonen. Man fühlt, daß es Mouuet-Sully<lb/>
gelungen ist, seine Mitarbeiter immer mehr für seine philosophische und psycho¬<lb/>
logische Auffassung des Dramas zu gewinnen. Darin liegt meines Erachtens<lb/>
die tiefe literarische und philosophische Bedeutung der letzten Vorstellungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_674"> Aber auch im einzelnen haben es die Darsteller verstanden, ans dem<lb/>
römischen Podium den Geist der antiken Tragödie zu neuem Leben zu er¬<lb/>
wecken. Nur wer den Festspielen in Orange beigewohnt hat, wird sich wirk¬<lb/>
lich eine antike Aufführung vergegenwärtige können. Wie im großen Theater<lb/>
zu Athen am Südabhange der Akropolis, so auch hier in Orange ans dein<lb/>
felsigen AbHange des Sankt Eutropeberges erheben sich die Sitzplätze immer<lb/>
höher und höher, dicht gefüllt von Tausenden und aber Tausenden:</p><lb/>
          <quote> Von Menschen wimmelnd wächst der Ban<lb/>
In weiter stets geschweiftem Bogen<lb/>
Hinauf bis in des Himmels Blau.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_675" next="#ID_676"> Wie zur Blütezeit Athens macht die unter freiem Himmel nmphitheatralisch<lb/>
gruppierte Menge einen imposanten Eindruck. Am Fuße des ungeheuern<lb/>
Postszeninms erhebt sich das neueingerichtete Podium. Hinter nrnlten Granat¬<lb/>
bäumen und dichtbelaubten Feigenbäumen sitzt das Orchester der Loinvclio<lb/>
?ra,irhg.i3s nnter Laurent Troemes ausgezeichneter Leitung, unsichtbar wie in<lb/>
Bayreuth. Mit ihren großartigen Säulentrümmern und dem üppigen Pflanzen-<lb/>
wuchs der südlichen Gegenden hat die Bühne ein prächtiges Aussehen. Sie<lb/>
versetzt uns auf die Kadmeia zu Theben. In der Mitte des Podiums erhebt<lb/>
sich der Köuigspnlast des Ödipns mit der breiten Königspforte. Auf dem<lb/>
Platze vor dem Gebäude ist das Volk um den Altar versammelt. Mit Öl¬<lb/>
zweigen in den Händen knieen Knaben, Jünglinge und Greise auf den Altar-<lb/>
stufen. Rechts und links erheben sich die Ruinen der römischen Nebengebäude,<lb/>
bei denen der Halbzirkel der Znschanersitze endigt. Dort zeigt die Dekoration<lb/>
die Straße nach der Stadt, hier deutet sie den Weg in die Fremde an. Das<lb/>
Mitteltor des Palastes öffnet sich, und Mouuet-Smith, im Schmuck seiner<lb/>
königlichen Würde, tritt langsam und majestätisch hervor &#x2014; und nun ent¬<lb/>
wickelt sich vor unsern Angen eine Handlung, so ergreifend und tragisch, wie<lb/>
man sie in keinem modernen Drama, außer in Raciues &#x201E;Feindlichen Brüdern"<lb/>
und Schillers &#x201E;Braut von Messina," finden kann. Nur in Orange habe ich<lb/>
wirklich gefühlt, wie sehr der alte thebanische Mythus des Ödipus, der ohne<lb/>
Wissen seinen Vater ermordet, seine eigne Mutter heiratet und sich endlich<lb/>
in seiner Verzweiflung die Angen nnssticht, zur tragischen Darstellung geeignet<lb/>
war. Niemals hat ein Schattspieler besser als Mounet-Sully die eigentümliche<lb/>
Kunst des Sophokles verstanden, die eben darin besteht, daß erst nach und<lb/>
nach der Schleier von der unseligen Vergangenheit des Königs enthüllt wird<lb/>
und mit tragischer Ironie das Geheimnis von Ödipus selbst entdeckt wird,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0164] Bas französische Layrcutlz Orakel nur dann etwas gelten, wenn die Not drängt, hat sie uns aufs deut¬ lichste offenbart. Somit haben sich alle Darsteller bemüht, dein Chor gegenüber, der das antike Schicksal vertritt, die menschliche Freiheit und überhaupt den mensch¬ lichen Charakter der Helden zu betonen. Man fühlt, daß es Mouuet-Sully gelungen ist, seine Mitarbeiter immer mehr für seine philosophische und psycho¬ logische Auffassung des Dramas zu gewinnen. Darin liegt meines Erachtens die tiefe literarische und philosophische Bedeutung der letzten Vorstellungen. Aber auch im einzelnen haben es die Darsteller verstanden, ans dem römischen Podium den Geist der antiken Tragödie zu neuem Leben zu er¬ wecken. Nur wer den Festspielen in Orange beigewohnt hat, wird sich wirk¬ lich eine antike Aufführung vergegenwärtige können. Wie im großen Theater zu Athen am Südabhange der Akropolis, so auch hier in Orange ans dein felsigen AbHange des Sankt Eutropeberges erheben sich die Sitzplätze immer höher und höher, dicht gefüllt von Tausenden und aber Tausenden: Von Menschen wimmelnd wächst der Ban In weiter stets geschweiftem Bogen Hinauf bis in des Himmels Blau. Wie zur Blütezeit Athens macht die unter freiem Himmel nmphitheatralisch gruppierte Menge einen imposanten Eindruck. Am Fuße des ungeheuern Postszeninms erhebt sich das neueingerichtete Podium. Hinter nrnlten Granat¬ bäumen und dichtbelaubten Feigenbäumen sitzt das Orchester der Loinvclio ?ra,irhg.i3s nnter Laurent Troemes ausgezeichneter Leitung, unsichtbar wie in Bayreuth. Mit ihren großartigen Säulentrümmern und dem üppigen Pflanzen- wuchs der südlichen Gegenden hat die Bühne ein prächtiges Aussehen. Sie versetzt uns auf die Kadmeia zu Theben. In der Mitte des Podiums erhebt sich der Köuigspnlast des Ödipns mit der breiten Königspforte. Auf dem Platze vor dem Gebäude ist das Volk um den Altar versammelt. Mit Öl¬ zweigen in den Händen knieen Knaben, Jünglinge und Greise auf den Altar- stufen. Rechts und links erheben sich die Ruinen der römischen Nebengebäude, bei denen der Halbzirkel der Znschanersitze endigt. Dort zeigt die Dekoration die Straße nach der Stadt, hier deutet sie den Weg in die Fremde an. Das Mitteltor des Palastes öffnet sich, und Mouuet-Smith, im Schmuck seiner königlichen Würde, tritt langsam und majestätisch hervor — und nun ent¬ wickelt sich vor unsern Angen eine Handlung, so ergreifend und tragisch, wie man sie in keinem modernen Drama, außer in Raciues „Feindlichen Brüdern" und Schillers „Braut von Messina," finden kann. Nur in Orange habe ich wirklich gefühlt, wie sehr der alte thebanische Mythus des Ödipus, der ohne Wissen seinen Vater ermordet, seine eigne Mutter heiratet und sich endlich in seiner Verzweiflung die Angen nnssticht, zur tragischen Darstellung geeignet war. Niemals hat ein Schattspieler besser als Mounet-Sully die eigentümliche Kunst des Sophokles verstanden, die eben darin besteht, daß erst nach und nach der Schleier von der unseligen Vergangenheit des Königs enthüllt wird und mit tragischer Ironie das Geheimnis von Ödipus selbst entdeckt wird,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/164
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/164>, abgerufen am 01.09.2024.