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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die mittelalterliche Religionscmschanuug und ihre Beziehungen zur Gegenwart

charakteristischer Ausdruck, ebenso wie die Bezeichnungen ,.allerchristlichster König,"
"Seine katholische Majestät" u, a.

So wurde das Eheleben durch die Weihe der Kirche zu sakramentaler
Giltigkeit erhoben. Überhaupt besteht die religiöse Praxis in einer Serie sakra¬
mentaler Weiheakte, die das ganze Leben umspannen. Jedes Land, jede Stadt,
jede Gilde und ^unse. jeder Beruf, jedes Haus bekam im Mittelalter semen
eignen Heiligen; die Vergnügungen des Volks, das Thenterwesen. ja sogar
das moralisch Zweideutige und Verwerfliche (Zweikampf, Diebs- und Rüuber-
hnndwery wurden und werden noch, insbesondre in den romanischen Ländern,
unter den religiösen Kultus gestellt.

Es liegt wohl die Frage nahe: Wie ist es möglich, daß etwas von Gott
"Abgewandtes" auf solche Weise geheiligt werdeu kaun? Die Sache setzt
natürlich einen mechanischen Gedmilengang voraus. Es handelt sich hierbei
uicht um die Reinheit des Herzens. Die religiöse Weihe ist etwas, was ohne
Reinheit des Herzens erteilt wurde und wird. Es handelt sich dabei nicht
um eine sittliche Veränderung des Menschenlebens. Man dachte und denkt
sich wohl hie und da noch die Weihe der Kirche als eine Art Zaubern, weiße
Magie, unter deren Einfluß das Böse, Dämonische, natürlich Unreine ent¬
weicht. Lx exn-L ovsriM wirkt der Kirche sakramentale Kraft in der Weihe
überall. Man beschränkt sich darum auch uicht auf das Gebiet des persön¬
lichen Lebens; die Weihen erstrecken sich auf das Wasser im Brunnen, die
Waffen des Kriegers usw. Die Bedingung sür die Erteilung dieser Sanktion
an das menschliche Leben ist jedoch, daß dieses sich in all seinen Formen
der Kirche als der religiösen, alles beherrschenden Autorität unbedingt unter¬
wirft. Wird diese Unterwerfung verweigert, und will sich eine Lebensform
losmachen ihr gegenüber zur Selbständigkeit oder Gleichberechtigung mit ihr,um nicht zu sagen zur Oberhoheit über sie, so wird der Segen in der religiösen
Sanktion entzogen, und mit seinen. Gegensatze, dem Bann, alles belegt, was
MI von der Kirche und ihren Geboten'loszumachen sucht. Und die Geschichte
g . daß auch kaiserliche Macht bisweilen zu schwach war. diesen Bann lange
d > 5?^ ab Aquino vertritt in seiner Lehre dieselbe Anschauung,on praktisch durch Gregor den Siebente., zur Geltung gebracht wurde: Ein
H-urst. der von dem wahren Glauben abfällt verliert dadurch die Gewalt über
M.e Untertanen, und der Papst hat das Recht, diese von ihren. Untertanen-
" /^ueide zu entbinden. In der Form des Interdikts traf der Bannalle Äußerungen des Lebens von der Wiee bis um Grabe.

gzWir haben nun gesehen, daß einerseits die religiöse Anschauung im Mittel-
alter, wenn es die Äußerungen des humanen Lebens zu beurteilen galt, d.e
asketische war, die schlechterdings einen Gegensatz zwischen Religion und allen,
andern Leben enthält; andrerseits. wie diese Anschauung infolge ihrer UnHalt¬
barkeit und Undnrchführbarkeit unaufhörlich in ihr Gegenteil umschlägt dadurch,
daß mau in das Gebiet des religiösen Lebens Politik hineinträgt oder Wissen¬
schaft und Kunst. oder daß man das ganze Menschenleben unter die Zucht und
Weihe der religiösen Autorität zu zwingen sucht. Mechanische Sonderung und
mechanische Verewigung gehen nebeneinander, doch keine von beiden kann die


Die mittelalterliche Religionscmschanuug und ihre Beziehungen zur Gegenwart

charakteristischer Ausdruck, ebenso wie die Bezeichnungen ,.allerchristlichster König,"
„Seine katholische Majestät" u, a.

So wurde das Eheleben durch die Weihe der Kirche zu sakramentaler
Giltigkeit erhoben. Überhaupt besteht die religiöse Praxis in einer Serie sakra¬
mentaler Weiheakte, die das ganze Leben umspannen. Jedes Land, jede Stadt,
jede Gilde und ^unse. jeder Beruf, jedes Haus bekam im Mittelalter semen
eignen Heiligen; die Vergnügungen des Volks, das Thenterwesen. ja sogar
das moralisch Zweideutige und Verwerfliche (Zweikampf, Diebs- und Rüuber-
hnndwery wurden und werden noch, insbesondre in den romanischen Ländern,
unter den religiösen Kultus gestellt.

Es liegt wohl die Frage nahe: Wie ist es möglich, daß etwas von Gott
„Abgewandtes" auf solche Weise geheiligt werdeu kaun? Die Sache setzt
natürlich einen mechanischen Gedmilengang voraus. Es handelt sich hierbei
uicht um die Reinheit des Herzens. Die religiöse Weihe ist etwas, was ohne
Reinheit des Herzens erteilt wurde und wird. Es handelt sich dabei nicht
um eine sittliche Veränderung des Menschenlebens. Man dachte und denkt
sich wohl hie und da noch die Weihe der Kirche als eine Art Zaubern, weiße
Magie, unter deren Einfluß das Böse, Dämonische, natürlich Unreine ent¬
weicht. Lx exn-L ovsriM wirkt der Kirche sakramentale Kraft in der Weihe
überall. Man beschränkt sich darum auch uicht auf das Gebiet des persön¬
lichen Lebens; die Weihen erstrecken sich auf das Wasser im Brunnen, die
Waffen des Kriegers usw. Die Bedingung sür die Erteilung dieser Sanktion
an das menschliche Leben ist jedoch, daß dieses sich in all seinen Formen
der Kirche als der religiösen, alles beherrschenden Autorität unbedingt unter¬
wirft. Wird diese Unterwerfung verweigert, und will sich eine Lebensform
losmachen ihr gegenüber zur Selbständigkeit oder Gleichberechtigung mit ihr,um nicht zu sagen zur Oberhoheit über sie, so wird der Segen in der religiösen
Sanktion entzogen, und mit seinen. Gegensatze, dem Bann, alles belegt, was
MI von der Kirche und ihren Geboten'loszumachen sucht. Und die Geschichte
g . daß auch kaiserliche Macht bisweilen zu schwach war. diesen Bann lange
d > 5?^ ab Aquino vertritt in seiner Lehre dieselbe Anschauung,on praktisch durch Gregor den Siebente., zur Geltung gebracht wurde: Ein
H-urst. der von dem wahren Glauben abfällt verliert dadurch die Gewalt über
M.e Untertanen, und der Papst hat das Recht, diese von ihren. Untertanen-
„ /^ueide zu entbinden. In der Form des Interdikts traf der Bannalle Äußerungen des Lebens von der Wiee bis um Grabe.

gzWir haben nun gesehen, daß einerseits die religiöse Anschauung im Mittel-
alter, wenn es die Äußerungen des humanen Lebens zu beurteilen galt, d.e
asketische war, die schlechterdings einen Gegensatz zwischen Religion und allen,
andern Leben enthält; andrerseits. wie diese Anschauung infolge ihrer UnHalt¬
barkeit und Undnrchführbarkeit unaufhörlich in ihr Gegenteil umschlägt dadurch,
daß mau in das Gebiet des religiösen Lebens Politik hineinträgt oder Wissen¬
schaft und Kunst. oder daß man das ganze Menschenleben unter die Zucht und
Weihe der religiösen Autorität zu zwingen sucht. Mechanische Sonderung und
mechanische Verewigung gehen nebeneinander, doch keine von beiden kann die


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[0159] Die mittelalterliche Religionscmschanuug und ihre Beziehungen zur Gegenwart charakteristischer Ausdruck, ebenso wie die Bezeichnungen ,.allerchristlichster König," „Seine katholische Majestät" u, a. So wurde das Eheleben durch die Weihe der Kirche zu sakramentaler Giltigkeit erhoben. Überhaupt besteht die religiöse Praxis in einer Serie sakra¬ mentaler Weiheakte, die das ganze Leben umspannen. Jedes Land, jede Stadt, jede Gilde und ^unse. jeder Beruf, jedes Haus bekam im Mittelalter semen eignen Heiligen; die Vergnügungen des Volks, das Thenterwesen. ja sogar das moralisch Zweideutige und Verwerfliche (Zweikampf, Diebs- und Rüuber- hnndwery wurden und werden noch, insbesondre in den romanischen Ländern, unter den religiösen Kultus gestellt. Es liegt wohl die Frage nahe: Wie ist es möglich, daß etwas von Gott „Abgewandtes" auf solche Weise geheiligt werdeu kaun? Die Sache setzt natürlich einen mechanischen Gedmilengang voraus. Es handelt sich hierbei uicht um die Reinheit des Herzens. Die religiöse Weihe ist etwas, was ohne Reinheit des Herzens erteilt wurde und wird. Es handelt sich dabei nicht um eine sittliche Veränderung des Menschenlebens. Man dachte und denkt sich wohl hie und da noch die Weihe der Kirche als eine Art Zaubern, weiße Magie, unter deren Einfluß das Böse, Dämonische, natürlich Unreine ent¬ weicht. Lx exn-L ovsriM wirkt der Kirche sakramentale Kraft in der Weihe überall. Man beschränkt sich darum auch uicht auf das Gebiet des persön¬ lichen Lebens; die Weihen erstrecken sich auf das Wasser im Brunnen, die Waffen des Kriegers usw. Die Bedingung sür die Erteilung dieser Sanktion an das menschliche Leben ist jedoch, daß dieses sich in all seinen Formen der Kirche als der religiösen, alles beherrschenden Autorität unbedingt unter¬ wirft. Wird diese Unterwerfung verweigert, und will sich eine Lebensform losmachen ihr gegenüber zur Selbständigkeit oder Gleichberechtigung mit ihr,um nicht zu sagen zur Oberhoheit über sie, so wird der Segen in der religiösen Sanktion entzogen, und mit seinen. Gegensatze, dem Bann, alles belegt, was MI von der Kirche und ihren Geboten'loszumachen sucht. Und die Geschichte g . daß auch kaiserliche Macht bisweilen zu schwach war. diesen Bann lange d > 5?^ ab Aquino vertritt in seiner Lehre dieselbe Anschauung,on praktisch durch Gregor den Siebente., zur Geltung gebracht wurde: Ein H-urst. der von dem wahren Glauben abfällt verliert dadurch die Gewalt über M.e Untertanen, und der Papst hat das Recht, diese von ihren. Untertanen- „ /^ueide zu entbinden. In der Form des Interdikts traf der Bannalle Äußerungen des Lebens von der Wiee bis um Grabe. gzWir haben nun gesehen, daß einerseits die religiöse Anschauung im Mittel- alter, wenn es die Äußerungen des humanen Lebens zu beurteilen galt, d.e asketische war, die schlechterdings einen Gegensatz zwischen Religion und allen, andern Leben enthält; andrerseits. wie diese Anschauung infolge ihrer UnHalt¬ barkeit und Undnrchführbarkeit unaufhörlich in ihr Gegenteil umschlägt dadurch, daß mau in das Gebiet des religiösen Lebens Politik hineinträgt oder Wissen¬ schaft und Kunst. oder daß man das ganze Menschenleben unter die Zucht und Weihe der religiösen Autorität zu zwingen sucht. Mechanische Sonderung und mechanische Verewigung gehen nebeneinander, doch keine von beiden kann die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/159>, abgerufen am 29.11.2024.