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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die mittelalterliche Religionsanschanung und ihre Beziehungen zur Gegenwart

Vater oder Mutter zu werden, so gehören diese Pflichten gleichsam zu einer
Sekundomoral, einer Sittlichkeit für die, die in der Welt leben. Eheliche
Liebe und Treue gehören auch zu dieser Moral. Keuschheit bedeutet Cölibat.
Wie hoch der sittliche Wert der Arbeit taxiert wurde, läßt sich daraus ent¬
nehmen, daß es oft als ein besondres moi-nun, als etwas vor Gott Verdienst¬
volles angesehen wurde, betteln zu gehn. Der Sittlichkeitsbegriff wurde
geradezu zerspalten, und zwischen seinen Teilen gab es keine Übereinstimmung.
Vom theologischen Standpunkt wurde der Sittlichkeitsbegriff in den Unterschied,
der zwischen "Gebot" und "evangelischem Rat" gemacht wird, gekleidet.

Es fragt sich um: War diese asketische Lebensanschauung wirklich die
alleinherrschende im Mittelalter? Nein, sie war es keineswegs. Nicht Weltver¬
achtung, sondern Weltbeherrschung im Namen Christi war der leitende Grund¬
gedanke. Die Sache erscheint ganz eigentümlich. Eine lebhafte Vorstellung
von dieser sich scheinbar widersprechenden Welt- und Lebensanschauung gewinnt
man, wenn man sieht, wie ein Mann, dessen bedeutendste Publikation den Titel
"Über Weltverachtung" führt -- Innocenz der Dritte (1161 bis 1216) --,
gerade der Papst wird, vor dein sich Europas Fürsten und Völker am tiefsten
beugen; ein Mann, der in Christi Namen über Königsthrone verfügt; dessen
Plan es war, die ganze Christenheit in einen Staatenbund unter päpstlicher
Oberhoheit zu vereinen, von Rom aus die ganze zivilisierte Welt zu beherrschen.
Die Anschauung dieses Papstes war typisch. Und doch hat man keinen Grund,
dabei von bewußter Heuchelei zu sprechen. Es ist im Gegenteil sehr wahr¬
scheinlich, daß Innocenz in voller Aufrichtigkeit sei" Buch über die Weltver¬
achtung geschrieben hat. Neben der asketischen Lebenstheoric machte sich eben
eine ganz entgegengesetzte Theorie in Wirklichkeit geltend. Es scheint hierbei
das Gesetz vom Kontrast in Kraft getreten zu sein, wonach der eine Gegensatz
den andern hervorruft. Ein vollkommen durchgeführter Asketismus, eine absolut
weltverneinende und weltverachtendc Lebensanschauung ist ja für das ganze
Menschengeschlecht praktisch unmöglich. Es kann Wohl zu Zeiten scheinen, als
wäre unsre Wissenschaft und Kunst entbehrlich; doch nur zu bald überzeugt
man sich, daß deren Ausschließung aus dem Leben eine geistige Selbstvcr-
stümmlung der Menschheit, ja ihr geistiger Tod wäre. Es mußte sich also
der "Religiöse" dem Schicksal beugen, nicht ausschließlich religiös leben
zu können. Es handelte sich nun um die Lösung des Problems, die beiden
Gegensätze, das Religiöse und Humane, zu vereinen. Die mittelalterliche An¬
schauung über dieses Problem führte zunächst zu dem Resultat, daß nur eine
geringe Anzahl Menschen im wahren und eigentlichen Sinne religiös leben
könne: die Mönche und die Priester. Auf Grund dieser ihrer "höhern"
Stellung werden sie, die "ganz für Gott" leben, eine Art Vikare für die
andern Menschen, und um ihrer Frömmigkeit willen kann den übrigen Menschen
erlaubt werden, "in der Welt" zu leben. Und auf Grund dieser Anschauung
brach sich die mittelalterliche Kirche Bahn zur Weltherrschaft. Die Ausnahme¬
stellung im Verhältnisse zu Gott machte den Weg frei zu einer Art Mittler-
stellnng, und diese priesterliche Mittlerstellnng bahnte den Weg zur Herrschaft
über die Welt. Diese Herrschaft erstreckte sich dann nicht mir' über das poli-


Die mittelalterliche Religionsanschanung und ihre Beziehungen zur Gegenwart

Vater oder Mutter zu werden, so gehören diese Pflichten gleichsam zu einer
Sekundomoral, einer Sittlichkeit für die, die in der Welt leben. Eheliche
Liebe und Treue gehören auch zu dieser Moral. Keuschheit bedeutet Cölibat.
Wie hoch der sittliche Wert der Arbeit taxiert wurde, läßt sich daraus ent¬
nehmen, daß es oft als ein besondres moi-nun, als etwas vor Gott Verdienst¬
volles angesehen wurde, betteln zu gehn. Der Sittlichkeitsbegriff wurde
geradezu zerspalten, und zwischen seinen Teilen gab es keine Übereinstimmung.
Vom theologischen Standpunkt wurde der Sittlichkeitsbegriff in den Unterschied,
der zwischen „Gebot" und „evangelischem Rat" gemacht wird, gekleidet.

Es fragt sich um: War diese asketische Lebensanschauung wirklich die
alleinherrschende im Mittelalter? Nein, sie war es keineswegs. Nicht Weltver¬
achtung, sondern Weltbeherrschung im Namen Christi war der leitende Grund¬
gedanke. Die Sache erscheint ganz eigentümlich. Eine lebhafte Vorstellung
von dieser sich scheinbar widersprechenden Welt- und Lebensanschauung gewinnt
man, wenn man sieht, wie ein Mann, dessen bedeutendste Publikation den Titel
„Über Weltverachtung" führt — Innocenz der Dritte (1161 bis 1216) —,
gerade der Papst wird, vor dein sich Europas Fürsten und Völker am tiefsten
beugen; ein Mann, der in Christi Namen über Königsthrone verfügt; dessen
Plan es war, die ganze Christenheit in einen Staatenbund unter päpstlicher
Oberhoheit zu vereinen, von Rom aus die ganze zivilisierte Welt zu beherrschen.
Die Anschauung dieses Papstes war typisch. Und doch hat man keinen Grund,
dabei von bewußter Heuchelei zu sprechen. Es ist im Gegenteil sehr wahr¬
scheinlich, daß Innocenz in voller Aufrichtigkeit sei» Buch über die Weltver¬
achtung geschrieben hat. Neben der asketischen Lebenstheoric machte sich eben
eine ganz entgegengesetzte Theorie in Wirklichkeit geltend. Es scheint hierbei
das Gesetz vom Kontrast in Kraft getreten zu sein, wonach der eine Gegensatz
den andern hervorruft. Ein vollkommen durchgeführter Asketismus, eine absolut
weltverneinende und weltverachtendc Lebensanschauung ist ja für das ganze
Menschengeschlecht praktisch unmöglich. Es kann Wohl zu Zeiten scheinen, als
wäre unsre Wissenschaft und Kunst entbehrlich; doch nur zu bald überzeugt
man sich, daß deren Ausschließung aus dem Leben eine geistige Selbstvcr-
stümmlung der Menschheit, ja ihr geistiger Tod wäre. Es mußte sich also
der „Religiöse" dem Schicksal beugen, nicht ausschließlich religiös leben
zu können. Es handelte sich nun um die Lösung des Problems, die beiden
Gegensätze, das Religiöse und Humane, zu vereinen. Die mittelalterliche An¬
schauung über dieses Problem führte zunächst zu dem Resultat, daß nur eine
geringe Anzahl Menschen im wahren und eigentlichen Sinne religiös leben
könne: die Mönche und die Priester. Auf Grund dieser ihrer „höhern"
Stellung werden sie, die „ganz für Gott" leben, eine Art Vikare für die
andern Menschen, und um ihrer Frömmigkeit willen kann den übrigen Menschen
erlaubt werden, „in der Welt" zu leben. Und auf Grund dieser Anschauung
brach sich die mittelalterliche Kirche Bahn zur Weltherrschaft. Die Ausnahme¬
stellung im Verhältnisse zu Gott machte den Weg frei zu einer Art Mittler-
stellnng, und diese priesterliche Mittlerstellnng bahnte den Weg zur Herrschaft
über die Welt. Diese Herrschaft erstreckte sich dann nicht mir' über das poli-


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[0156] Die mittelalterliche Religionsanschanung und ihre Beziehungen zur Gegenwart Vater oder Mutter zu werden, so gehören diese Pflichten gleichsam zu einer Sekundomoral, einer Sittlichkeit für die, die in der Welt leben. Eheliche Liebe und Treue gehören auch zu dieser Moral. Keuschheit bedeutet Cölibat. Wie hoch der sittliche Wert der Arbeit taxiert wurde, läßt sich daraus ent¬ nehmen, daß es oft als ein besondres moi-nun, als etwas vor Gott Verdienst¬ volles angesehen wurde, betteln zu gehn. Der Sittlichkeitsbegriff wurde geradezu zerspalten, und zwischen seinen Teilen gab es keine Übereinstimmung. Vom theologischen Standpunkt wurde der Sittlichkeitsbegriff in den Unterschied, der zwischen „Gebot" und „evangelischem Rat" gemacht wird, gekleidet. Es fragt sich um: War diese asketische Lebensanschauung wirklich die alleinherrschende im Mittelalter? Nein, sie war es keineswegs. Nicht Weltver¬ achtung, sondern Weltbeherrschung im Namen Christi war der leitende Grund¬ gedanke. Die Sache erscheint ganz eigentümlich. Eine lebhafte Vorstellung von dieser sich scheinbar widersprechenden Welt- und Lebensanschauung gewinnt man, wenn man sieht, wie ein Mann, dessen bedeutendste Publikation den Titel „Über Weltverachtung" führt — Innocenz der Dritte (1161 bis 1216) —, gerade der Papst wird, vor dein sich Europas Fürsten und Völker am tiefsten beugen; ein Mann, der in Christi Namen über Königsthrone verfügt; dessen Plan es war, die ganze Christenheit in einen Staatenbund unter päpstlicher Oberhoheit zu vereinen, von Rom aus die ganze zivilisierte Welt zu beherrschen. Die Anschauung dieses Papstes war typisch. Und doch hat man keinen Grund, dabei von bewußter Heuchelei zu sprechen. Es ist im Gegenteil sehr wahr¬ scheinlich, daß Innocenz in voller Aufrichtigkeit sei» Buch über die Weltver¬ achtung geschrieben hat. Neben der asketischen Lebenstheoric machte sich eben eine ganz entgegengesetzte Theorie in Wirklichkeit geltend. Es scheint hierbei das Gesetz vom Kontrast in Kraft getreten zu sein, wonach der eine Gegensatz den andern hervorruft. Ein vollkommen durchgeführter Asketismus, eine absolut weltverneinende und weltverachtendc Lebensanschauung ist ja für das ganze Menschengeschlecht praktisch unmöglich. Es kann Wohl zu Zeiten scheinen, als wäre unsre Wissenschaft und Kunst entbehrlich; doch nur zu bald überzeugt man sich, daß deren Ausschließung aus dem Leben eine geistige Selbstvcr- stümmlung der Menschheit, ja ihr geistiger Tod wäre. Es mußte sich also der „Religiöse" dem Schicksal beugen, nicht ausschließlich religiös leben zu können. Es handelte sich nun um die Lösung des Problems, die beiden Gegensätze, das Religiöse und Humane, zu vereinen. Die mittelalterliche An¬ schauung über dieses Problem führte zunächst zu dem Resultat, daß nur eine geringe Anzahl Menschen im wahren und eigentlichen Sinne religiös leben könne: die Mönche und die Priester. Auf Grund dieser ihrer „höhern" Stellung werden sie, die „ganz für Gott" leben, eine Art Vikare für die andern Menschen, und um ihrer Frömmigkeit willen kann den übrigen Menschen erlaubt werden, „in der Welt" zu leben. Und auf Grund dieser Anschauung brach sich die mittelalterliche Kirche Bahn zur Weltherrschaft. Die Ausnahme¬ stellung im Verhältnisse zu Gott machte den Weg frei zu einer Art Mittler- stellnng, und diese priesterliche Mittlerstellnng bahnte den Weg zur Herrschaft über die Welt. Diese Herrschaft erstreckte sich dann nicht mir' über das poli-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/156>, abgerufen am 29.11.2024.