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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Aber auch dus Leben an und neben, vor und hinter den Mauern bietet dein
Beobachter neue Bilder, die er im Innern von Rom nicht findet. Man begleite
mich zum Beispiel zur Porta Angelica unterhalb des Vatikans. Der wohlklingende
Name läßt uicht ahnen, daß um sie herum ein Teil der ärmsten und elendesten
Bevölkerung, der "Terza Roma" des neuen Roms, sein Leben fristet, das durch
Zolas Schilderung so bekannt gelvorden ist. Szenen des Volkslebens, die um
Grellheit des Elends und der Verarmung denen der Cnlate von Neapel, der
Gäßchen von Whitechnpel in London uicht viel nachgeben, bieten sich hier dar.
Wenden wir uns nach links: die hvchgetürmte Mauer Leos des Vierten umgürtet
hier die alte Leostadt und an dieser Stelle die vatikanischen Gärten. Ein präch¬
tiges Wappenschild der Farnese kündet an, daß Paul der Dritte hier zuletzt bauend
eingegriffen hat. Steineichen und Zypressen überragen die Mauerlinie, nud zwischen
ihnen erscheine" festungsartig sich aufbauend Teile des Vatikans. Weiterhin luge"
Obstplantagen und Weinstöcke über die Brüstung und erinnern an die landwirt¬
schaftliche Sorgfalt des regierenden Papstes für die weitausgedehnter Gärten des
Vatikans. An bastiouartigen Vorsprüngen, von denen Wasserbächlein Herabkommen,
an gemnnerte" Schilderhäusern vorbei, die früher Sicherheitswnche", jetzt die ver¬
haßten Zollwächter bei schlechtem Wetter beherbergen -- denn die alte Anrelia-
nische Mauer muß heute als el"w äa?la.i'la, Zolllinie, dienen --, geht es weiter;
rechts öffnet sich, wie so oft außen an den Mauern, ein weiter Fernblick auf die
Umgebung der Stadt, auf grüne Hügel, hochragende Pinien, weiße Tenuten, auf
den Monte Mario mit seinem Fort und der Station für Luftschiffahrt und Mar-
conitelegraphie, auf deu prächtigen Viadukt der nach Bracciano führenden Bahn.
Es folgen unter im Tal ausgedehnte Ziegeleiaulagen. Aber die wenigsten Schorn¬
steine rauche". Diese Anlagen entstanden, als mau zu Beginn der achtziger
Jahre für die Terza Noma, einen riesigen Bnunufschwuug erwartete. Aber der
Aufschwung nahm ein Eude mit Schrecke", der Baukrach kam, und seitdem ist
es dort unten still, und man wartet auf bessere Zeiten. Aber doch schreitet auch
in Rom die Zivilisation vorwärts, und sogar Mächte des Beharrens, wie der
Vatikan, können sich ihr nicht ganz entzieh". Dort oben links auf der Mauer er¬
hebt sich in florentinischen Stil ein Villiuo, wovon unzählige Drahte ausgehn: es
ist die elektrische Lichtanlage des Vatikans, die ihn, Se. Peter und sogar dessen
unterirdische Grotten mit dem Lichte der Neuzeit speist. Aus einsamer Gegend,
wo der Fremde den Stock oder Regenschirm fester faßt, wenn ihm eine zerlumpte
Gestalt begegnet -- übrigens ohne Grund, denn der Fremde ist in Rom mindestens
so sicher wie in Berlin oder Paris --, sind wir wieder in einen belebteru Vvr-
stadtteil gelangt, zur altersgrauen Porta Cnvalleggieri. Bei dem Sacco ti Roma 1527
spielte fie insofern eine wichtige Rolle, als hier der Connetnble von Bourbon fiel.

An den Toren der Aurelianischen Mauer häufen sich natürlich die Erinne-
rungen, fie und ihre Umgebung tragen die meiste" Narben aus sturmbewegter Zeit.
Welcher Kontrast zwischen den massigen Nundtürmen der Porta Pineicma, an die
angelehnt einst Belisars Haus stand, und die im Bogeuschlüssel uoch das griechische
Kreuz zeigt, und dem sich hinter ihr erschließenden neuen eleganten Quartier
Ludovisi! Welches phantastische Gemisch von antiken, mittelalterlichen, Neuaissnucc-
und Barockbanteilen an der Porta Maggiore mit dem protzige" Grab des Bäckers
Eurhsaces darau, der Porta Lvreiizo, deren uralt rönnscher Torbogen vor den
mittelalterlichen Türmen in den Boden zu sinke" scheint! Auch auf die römischen
Mauern paßt dus Goethische Wort, daß Rom eine "gar große Schule" und darin
d G. v. Gra evenitz es Lernens kein Ende sei.


Legende einer Pnpstfannlie.

Alt sind die römischen Patriziergeschlechter,
aber sie möchten immer "och älter sei", bescmders wen" ein Papst im Spiele ist.
Bei jeder Papstwahl finden sich Gelehrte und Dichter, die den Ossa ans de" Pelion
türmen, um auf deren Spitze de" ueugcwnhltcu Papst zu erhebe". Ganz bescmders
spaßhaft si"d gewisse Abstammungen, wie z. B. die des Alessandro Borgia, die


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Aber auch dus Leben an und neben, vor und hinter den Mauern bietet dein
Beobachter neue Bilder, die er im Innern von Rom nicht findet. Man begleite
mich zum Beispiel zur Porta Angelica unterhalb des Vatikans. Der wohlklingende
Name läßt uicht ahnen, daß um sie herum ein Teil der ärmsten und elendesten
Bevölkerung, der „Terza Roma" des neuen Roms, sein Leben fristet, das durch
Zolas Schilderung so bekannt gelvorden ist. Szenen des Volkslebens, die um
Grellheit des Elends und der Verarmung denen der Cnlate von Neapel, der
Gäßchen von Whitechnpel in London uicht viel nachgeben, bieten sich hier dar.
Wenden wir uns nach links: die hvchgetürmte Mauer Leos des Vierten umgürtet
hier die alte Leostadt und an dieser Stelle die vatikanischen Gärten. Ein präch¬
tiges Wappenschild der Farnese kündet an, daß Paul der Dritte hier zuletzt bauend
eingegriffen hat. Steineichen und Zypressen überragen die Mauerlinie, nud zwischen
ihnen erscheine» festungsartig sich aufbauend Teile des Vatikans. Weiterhin luge»
Obstplantagen und Weinstöcke über die Brüstung und erinnern an die landwirt¬
schaftliche Sorgfalt des regierenden Papstes für die weitausgedehnter Gärten des
Vatikans. An bastiouartigen Vorsprüngen, von denen Wasserbächlein Herabkommen,
an gemnnerte» Schilderhäusern vorbei, die früher Sicherheitswnche», jetzt die ver¬
haßten Zollwächter bei schlechtem Wetter beherbergen — denn die alte Anrelia-
nische Mauer muß heute als el»w äa?la.i'la, Zolllinie, dienen —, geht es weiter;
rechts öffnet sich, wie so oft außen an den Mauern, ein weiter Fernblick auf die
Umgebung der Stadt, auf grüne Hügel, hochragende Pinien, weiße Tenuten, auf
den Monte Mario mit seinem Fort und der Station für Luftschiffahrt und Mar-
conitelegraphie, auf deu prächtigen Viadukt der nach Bracciano führenden Bahn.
Es folgen unter im Tal ausgedehnte Ziegeleiaulagen. Aber die wenigsten Schorn¬
steine rauche». Diese Anlagen entstanden, als mau zu Beginn der achtziger
Jahre für die Terza Noma, einen riesigen Bnunufschwuug erwartete. Aber der
Aufschwung nahm ein Eude mit Schrecke«, der Baukrach kam, und seitdem ist
es dort unten still, und man wartet auf bessere Zeiten. Aber doch schreitet auch
in Rom die Zivilisation vorwärts, und sogar Mächte des Beharrens, wie der
Vatikan, können sich ihr nicht ganz entzieh». Dort oben links auf der Mauer er¬
hebt sich in florentinischen Stil ein Villiuo, wovon unzählige Drahte ausgehn: es
ist die elektrische Lichtanlage des Vatikans, die ihn, Se. Peter und sogar dessen
unterirdische Grotten mit dem Lichte der Neuzeit speist. Aus einsamer Gegend,
wo der Fremde den Stock oder Regenschirm fester faßt, wenn ihm eine zerlumpte
Gestalt begegnet — übrigens ohne Grund, denn der Fremde ist in Rom mindestens
so sicher wie in Berlin oder Paris —, sind wir wieder in einen belebteru Vvr-
stadtteil gelangt, zur altersgrauen Porta Cnvalleggieri. Bei dem Sacco ti Roma 1527
spielte fie insofern eine wichtige Rolle, als hier der Connetnble von Bourbon fiel.

An den Toren der Aurelianischen Mauer häufen sich natürlich die Erinne-
rungen, fie und ihre Umgebung tragen die meiste» Narben aus sturmbewegter Zeit.
Welcher Kontrast zwischen den massigen Nundtürmen der Porta Pineicma, an die
angelehnt einst Belisars Haus stand, und die im Bogeuschlüssel uoch das griechische
Kreuz zeigt, und dem sich hinter ihr erschließenden neuen eleganten Quartier
Ludovisi! Welches phantastische Gemisch von antiken, mittelalterlichen, Neuaissnucc-
und Barockbanteilen an der Porta Maggiore mit dem protzige» Grab des Bäckers
Eurhsaces darau, der Porta Lvreiizo, deren uralt rönnscher Torbogen vor den
mittelalterlichen Türmen in den Boden zu sinke» scheint! Auch auf die römischen
Mauern paßt dus Goethische Wort, daß Rom eine „gar große Schule" und darin
d G. v. Gra evenitz es Lernens kein Ende sei.


Legende einer Pnpstfannlie.

Alt sind die römischen Patriziergeschlechter,
aber sie möchten immer »och älter sei», bescmders wen» ein Papst im Spiele ist.
Bei jeder Papstwahl finden sich Gelehrte und Dichter, die den Ossa ans de» Pelion
türmen, um auf deren Spitze de» ueugcwnhltcu Papst zu erhebe». Ganz bescmders
spaßhaft si»d gewisse Abstammungen, wie z. B. die des Alessandro Borgia, die


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[0128] Maßgebliches und Unmaßgebliches Aber auch dus Leben an und neben, vor und hinter den Mauern bietet dein Beobachter neue Bilder, die er im Innern von Rom nicht findet. Man begleite mich zum Beispiel zur Porta Angelica unterhalb des Vatikans. Der wohlklingende Name läßt uicht ahnen, daß um sie herum ein Teil der ärmsten und elendesten Bevölkerung, der „Terza Roma" des neuen Roms, sein Leben fristet, das durch Zolas Schilderung so bekannt gelvorden ist. Szenen des Volkslebens, die um Grellheit des Elends und der Verarmung denen der Cnlate von Neapel, der Gäßchen von Whitechnpel in London uicht viel nachgeben, bieten sich hier dar. Wenden wir uns nach links: die hvchgetürmte Mauer Leos des Vierten umgürtet hier die alte Leostadt und an dieser Stelle die vatikanischen Gärten. Ein präch¬ tiges Wappenschild der Farnese kündet an, daß Paul der Dritte hier zuletzt bauend eingegriffen hat. Steineichen und Zypressen überragen die Mauerlinie, nud zwischen ihnen erscheine» festungsartig sich aufbauend Teile des Vatikans. Weiterhin luge» Obstplantagen und Weinstöcke über die Brüstung und erinnern an die landwirt¬ schaftliche Sorgfalt des regierenden Papstes für die weitausgedehnter Gärten des Vatikans. An bastiouartigen Vorsprüngen, von denen Wasserbächlein Herabkommen, an gemnnerte» Schilderhäusern vorbei, die früher Sicherheitswnche», jetzt die ver¬ haßten Zollwächter bei schlechtem Wetter beherbergen — denn die alte Anrelia- nische Mauer muß heute als el»w äa?la.i'la, Zolllinie, dienen —, geht es weiter; rechts öffnet sich, wie so oft außen an den Mauern, ein weiter Fernblick auf die Umgebung der Stadt, auf grüne Hügel, hochragende Pinien, weiße Tenuten, auf den Monte Mario mit seinem Fort und der Station für Luftschiffahrt und Mar- conitelegraphie, auf deu prächtigen Viadukt der nach Bracciano führenden Bahn. Es folgen unter im Tal ausgedehnte Ziegeleiaulagen. Aber die wenigsten Schorn¬ steine rauche». Diese Anlagen entstanden, als mau zu Beginn der achtziger Jahre für die Terza Noma, einen riesigen Bnunufschwuug erwartete. Aber der Aufschwung nahm ein Eude mit Schrecke«, der Baukrach kam, und seitdem ist es dort unten still, und man wartet auf bessere Zeiten. Aber doch schreitet auch in Rom die Zivilisation vorwärts, und sogar Mächte des Beharrens, wie der Vatikan, können sich ihr nicht ganz entzieh». Dort oben links auf der Mauer er¬ hebt sich in florentinischen Stil ein Villiuo, wovon unzählige Drahte ausgehn: es ist die elektrische Lichtanlage des Vatikans, die ihn, Se. Peter und sogar dessen unterirdische Grotten mit dem Lichte der Neuzeit speist. Aus einsamer Gegend, wo der Fremde den Stock oder Regenschirm fester faßt, wenn ihm eine zerlumpte Gestalt begegnet — übrigens ohne Grund, denn der Fremde ist in Rom mindestens so sicher wie in Berlin oder Paris —, sind wir wieder in einen belebteru Vvr- stadtteil gelangt, zur altersgrauen Porta Cnvalleggieri. Bei dem Sacco ti Roma 1527 spielte fie insofern eine wichtige Rolle, als hier der Connetnble von Bourbon fiel. An den Toren der Aurelianischen Mauer häufen sich natürlich die Erinne- rungen, fie und ihre Umgebung tragen die meiste» Narben aus sturmbewegter Zeit. Welcher Kontrast zwischen den massigen Nundtürmen der Porta Pineicma, an die angelehnt einst Belisars Haus stand, und die im Bogeuschlüssel uoch das griechische Kreuz zeigt, und dem sich hinter ihr erschließenden neuen eleganten Quartier Ludovisi! Welches phantastische Gemisch von antiken, mittelalterlichen, Neuaissnucc- und Barockbanteilen an der Porta Maggiore mit dem protzige» Grab des Bäckers Eurhsaces darau, der Porta Lvreiizo, deren uralt rönnscher Torbogen vor den mittelalterlichen Türmen in den Boden zu sinke» scheint! Auch auf die römischen Mauern paßt dus Goethische Wort, daß Rom eine „gar große Schule" und darin d G. v. Gra evenitz es Lernens kein Ende sei. Legende einer Pnpstfannlie. Alt sind die römischen Patriziergeschlechter, aber sie möchten immer »och älter sei», bescmders wen» ein Papst im Spiele ist. Bei jeder Papstwahl finden sich Gelehrte und Dichter, die den Ossa ans de» Pelion türmen, um auf deren Spitze de» ueugcwnhltcu Papst zu erhebe». Ganz bescmders spaßhaft si»d gewisse Abstammungen, wie z. B. die des Alessandro Borgia, die

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/128>, abgerufen am 09.11.2024.