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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Praktisch betrachtet, d.h. an den Aufgaben des nächsten Reichstags gemessen
ist der Sieg der Sozialdemokratie gar nicht so gefährlich bedeutet nicht einmal
ein entsprechendes Anwachsen der sozialdemokratischen ^sinnnng Von de,i ^
jetzt Anwachsenden 23 Sitzen fallen allein 10 anf Sachsen, no lokale Unchande
den Ausschlag gegeben haben, nnr 13 anf das ganze nbnge Rech. Dle e>n Ge¬
winn der negativsten Partei des Reichstags stehn "rke Verli^'ueist rein negativen ..freisinnigen" Fraktionen gegenüber, die von 43 Abgeordneten
auf 30 herabgekommen sind. Auch andre, jetzt unter allen Umständen oppositionelle
Parteien, Welsen, Elsässer, süddeutsche Volkspartei, Baucrnbündler. haben einzelne
Sitze verloren. Dagegen haben Zentrum. Konservative und Nationalliberale ihren
parlamentarischen Besitzstand so gut wie unverändert behauptet. Es ist also kann
zweifelhaft, daß die Reichsregiernng für ihre wichtigsten Vorlagen eine Mehrheit
finden wird. - -

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Allerdings, zwei nicht eben erfreuliche, aber unvermeidliche Folgen wird die
neue Zusammensetzung des Reichstags habe". Das Gewicht des Zentrums, das
auf der Zersplitterung seiner Gegner bericht, wird noch hoher steigen, und die
Regierung wird trotz alles Geschreis künftig ihm und der römischen Kirche mindestens
dieselbe Rücksicht erweisen müssen wie bisher. Der Svzialdemokmtie aber wird
ein Sitz im Präsidium schwerlich zu verweigern sein. Wir müssen gestehn das?
wir darin gar kein Unglück sehen würden. Ein Sozialdemokrnt. der Anteil am
Präsidium nimmt, muß 'dem Kaiser den Eid leisten und von ihm empfangen werden.
Daß das dem Monarchen eine besondre Überwindung kosten würde, glauben wir
nicht, dazu ist er viel zu unbefangen; hat er doch auch dem sozinldemokrntischen
Minister der französischen Republik, Millerand, eine gewisse Anerkennung gezollt
Vou dem Augenblick aber, wo die Sozialdemokratie einen Präsidenten stellt, muß
sie um der positiven Arbeit des Reichstags teilnehmen, und wird sich, wie das
i" Frankreich und ii, Italien schon geschehn ist, in einen intransigenten, rem
negierenden, die alten Schlagwörter weiter ableiernden Flügel und einen gewiß
noch sehr radikalen, aber doch positiv mitarbeitenden Flügel spalten. Hie Bebel,
hie Vollmcir! Dann wird sie aller Welt zeigen, was sie kann, oder auch, daß ste
'nchts kann. Einen andern friedlichen Weg, sie als Umsturzpartei zu überwinden,
Mbt es nicht mehr. Wenn die "bürgerliche" Presse immer wieder zur Sammlung
^ F"!^""'^ "-"gen die "Neichsfeinde," hier gegen das Zentrum, dort gegen
al7e?n. ""wise. so vergißt sie. daß ein Krieg ans zwei Fronten unter
d°I v s ? gefährliche Sache ist. und daß die ..bürgerlichen" Parteien
el?^ Sie würden natürlich, wenn sie besser zusammenhielten
ine Anzahl Wahlkreise den Sozialdemokraten wieder entreißen können, wie 1887
n wachsen, aber sie würden im Reichstage niemals stark genug sein, eine Ans-
yebung des allgemeinen Wahlrechts oder gar ein neues Svzialistengesetz durchzu-
setzen Oder rechnen sie gar mit einer gewaltsamen Niederwerfung? Dafür würde
der Kaiser, der gleich nach seinem Regierungsantritt zum Fürsten Bismarck gesagt
hat, er wolle nicht "Kartätschenprinz" heißen (wie sein Großvater im März 1848 un-
. verdienterweise geschimpft worden ist), er wolle nicht "bis an die Knöchel im Blute
waten ," ganz gewiß nicht zu haben sein.


Die katholische Kirche und uneheliche Kinder Andersgläubiger.

In
Osterreich ist es jüngst passiert, daß man das uneheliche Kind einer mohammedanischen
Witwe gewaltsam katholisch getauft hat. Das mohammedanische Bosnien gehört zu
dem geistlichen Wirkungskreise des Erzbischofs Stadler in Agram, und dieser sehr
streitbare Herr hat zweifellos direkt oder indirekt auf die Taufe des unehelichen
mohammedanischen Kindes und bei den Bekehrungsversuchen an der Witwe einge¬
wirkt. Zuerst war die österreichische Regierung gleichgiltig, nachher bekam sie aber
doch Angst vor dein Fanatismus des mohammedanischen Bosniens, und die wohl in
ein Kloster verschwundne Witwe kam wenigstens wieder zum Vorschein; was mit


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Praktisch betrachtet, d.h. an den Aufgaben des nächsten Reichstags gemessen
ist der Sieg der Sozialdemokratie gar nicht so gefährlich bedeutet nicht einmal
ein entsprechendes Anwachsen der sozialdemokratischen ^sinnnng Von de,i ^
jetzt Anwachsenden 23 Sitzen fallen allein 10 anf Sachsen, no lokale Unchande
den Ausschlag gegeben haben, nnr 13 anf das ganze nbnge Rech. Dle e>n Ge¬
winn der negativsten Partei des Reichstags stehn "rke Verli^'ueist rein negativen ..freisinnigen" Fraktionen gegenüber, die von 43 Abgeordneten
auf 30 herabgekommen sind. Auch andre, jetzt unter allen Umständen oppositionelle
Parteien, Welsen, Elsässer, süddeutsche Volkspartei, Baucrnbündler. haben einzelne
Sitze verloren. Dagegen haben Zentrum. Konservative und Nationalliberale ihren
parlamentarischen Besitzstand so gut wie unverändert behauptet. Es ist also kann
zweifelhaft, daß die Reichsregiernng für ihre wichtigsten Vorlagen eine Mehrheit
finden wird. - -

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Allerdings, zwei nicht eben erfreuliche, aber unvermeidliche Folgen wird die
neue Zusammensetzung des Reichstags habe». Das Gewicht des Zentrums, das
auf der Zersplitterung seiner Gegner bericht, wird noch hoher steigen, und die
Regierung wird trotz alles Geschreis künftig ihm und der römischen Kirche mindestens
dieselbe Rücksicht erweisen müssen wie bisher. Der Svzialdemokmtie aber wird
ein Sitz im Präsidium schwerlich zu verweigern sein. Wir müssen gestehn das?
wir darin gar kein Unglück sehen würden. Ein Sozialdemokrnt. der Anteil am
Präsidium nimmt, muß 'dem Kaiser den Eid leisten und von ihm empfangen werden.
Daß das dem Monarchen eine besondre Überwindung kosten würde, glauben wir
nicht, dazu ist er viel zu unbefangen; hat er doch auch dem sozinldemokrntischen
Minister der französischen Republik, Millerand, eine gewisse Anerkennung gezollt
Vou dem Augenblick aber, wo die Sozialdemokratie einen Präsidenten stellt, muß
sie um der positiven Arbeit des Reichstags teilnehmen, und wird sich, wie das
i» Frankreich und ii, Italien schon geschehn ist, in einen intransigenten, rem
negierenden, die alten Schlagwörter weiter ableiernden Flügel und einen gewiß
noch sehr radikalen, aber doch positiv mitarbeitenden Flügel spalten. Hie Bebel,
hie Vollmcir! Dann wird sie aller Welt zeigen, was sie kann, oder auch, daß ste
'nchts kann. Einen andern friedlichen Weg, sie als Umsturzpartei zu überwinden,
Mbt es nicht mehr. Wenn die „bürgerliche" Presse immer wieder zur Sammlung
^ F"!^""'^ "-"gen die „Neichsfeinde," hier gegen das Zentrum, dort gegen
al7e?n. ""wise. so vergißt sie. daß ein Krieg ans zwei Fronten unter
d°I v s ? gefährliche Sache ist. und daß die ..bürgerlichen" Parteien
el?^ Sie würden natürlich, wenn sie besser zusammenhielten
ine Anzahl Wahlkreise den Sozialdemokraten wieder entreißen können, wie 1887
n wachsen, aber sie würden im Reichstage niemals stark genug sein, eine Ans-
yebung des allgemeinen Wahlrechts oder gar ein neues Svzialistengesetz durchzu-
setzen Oder rechnen sie gar mit einer gewaltsamen Niederwerfung? Dafür würde
der Kaiser, der gleich nach seinem Regierungsantritt zum Fürsten Bismarck gesagt
hat, er wolle nicht „Kartätschenprinz" heißen (wie sein Großvater im März 1848 un-
. verdienterweise geschimpft worden ist), er wolle nicht „bis an die Knöchel im Blute
waten ," ganz gewiß nicht zu haben sein.


Die katholische Kirche und uneheliche Kinder Andersgläubiger.

In
Osterreich ist es jüngst passiert, daß man das uneheliche Kind einer mohammedanischen
Witwe gewaltsam katholisch getauft hat. Das mohammedanische Bosnien gehört zu
dem geistlichen Wirkungskreise des Erzbischofs Stadler in Agram, und dieser sehr
streitbare Herr hat zweifellos direkt oder indirekt auf die Taufe des unehelichen
mohammedanischen Kindes und bei den Bekehrungsversuchen an der Witwe einge¬
wirkt. Zuerst war die österreichische Regierung gleichgiltig, nachher bekam sie aber
doch Angst vor dein Fanatismus des mohammedanischen Bosniens, und die wohl in
ein Kloster verschwundne Witwe kam wenigstens wieder zum Vorschein; was mit


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[0125] Maßgebliches und Unmaßgebliches Praktisch betrachtet, d.h. an den Aufgaben des nächsten Reichstags gemessen ist der Sieg der Sozialdemokratie gar nicht so gefährlich bedeutet nicht einmal ein entsprechendes Anwachsen der sozialdemokratischen ^sinnnng Von de,i ^ jetzt Anwachsenden 23 Sitzen fallen allein 10 anf Sachsen, no lokale Unchande den Ausschlag gegeben haben, nnr 13 anf das ganze nbnge Rech. Dle e>n Ge¬ winn der negativsten Partei des Reichstags stehn "rke Verli^'ueist rein negativen ..freisinnigen" Fraktionen gegenüber, die von 43 Abgeordneten auf 30 herabgekommen sind. Auch andre, jetzt unter allen Umständen oppositionelle Parteien, Welsen, Elsässer, süddeutsche Volkspartei, Baucrnbündler. haben einzelne Sitze verloren. Dagegen haben Zentrum. Konservative und Nationalliberale ihren parlamentarischen Besitzstand so gut wie unverändert behauptet. Es ist also kann zweifelhaft, daß die Reichsregiernng für ihre wichtigsten Vorlagen eine Mehrheit finden wird. - - ^.^ Allerdings, zwei nicht eben erfreuliche, aber unvermeidliche Folgen wird die neue Zusammensetzung des Reichstags habe». Das Gewicht des Zentrums, das auf der Zersplitterung seiner Gegner bericht, wird noch hoher steigen, und die Regierung wird trotz alles Geschreis künftig ihm und der römischen Kirche mindestens dieselbe Rücksicht erweisen müssen wie bisher. Der Svzialdemokmtie aber wird ein Sitz im Präsidium schwerlich zu verweigern sein. Wir müssen gestehn das? wir darin gar kein Unglück sehen würden. Ein Sozialdemokrnt. der Anteil am Präsidium nimmt, muß 'dem Kaiser den Eid leisten und von ihm empfangen werden. Daß das dem Monarchen eine besondre Überwindung kosten würde, glauben wir nicht, dazu ist er viel zu unbefangen; hat er doch auch dem sozinldemokrntischen Minister der französischen Republik, Millerand, eine gewisse Anerkennung gezollt Vou dem Augenblick aber, wo die Sozialdemokratie einen Präsidenten stellt, muß sie um der positiven Arbeit des Reichstags teilnehmen, und wird sich, wie das i» Frankreich und ii, Italien schon geschehn ist, in einen intransigenten, rem negierenden, die alten Schlagwörter weiter ableiernden Flügel und einen gewiß noch sehr radikalen, aber doch positiv mitarbeitenden Flügel spalten. Hie Bebel, hie Vollmcir! Dann wird sie aller Welt zeigen, was sie kann, oder auch, daß ste 'nchts kann. Einen andern friedlichen Weg, sie als Umsturzpartei zu überwinden, Mbt es nicht mehr. Wenn die „bürgerliche" Presse immer wieder zur Sammlung ^ F"!^""'^ "-"gen die „Neichsfeinde," hier gegen das Zentrum, dort gegen al7e?n. ""wise. so vergißt sie. daß ein Krieg ans zwei Fronten unter d°I v s ? gefährliche Sache ist. und daß die ..bürgerlichen" Parteien el?^ Sie würden natürlich, wenn sie besser zusammenhielten ine Anzahl Wahlkreise den Sozialdemokraten wieder entreißen können, wie 1887 n wachsen, aber sie würden im Reichstage niemals stark genug sein, eine Ans- yebung des allgemeinen Wahlrechts oder gar ein neues Svzialistengesetz durchzu- setzen Oder rechnen sie gar mit einer gewaltsamen Niederwerfung? Dafür würde der Kaiser, der gleich nach seinem Regierungsantritt zum Fürsten Bismarck gesagt hat, er wolle nicht „Kartätschenprinz" heißen (wie sein Großvater im März 1848 un- . verdienterweise geschimpft worden ist), er wolle nicht „bis an die Knöchel im Blute waten ," ganz gewiß nicht zu haben sein. Die katholische Kirche und uneheliche Kinder Andersgläubiger. In Osterreich ist es jüngst passiert, daß man das uneheliche Kind einer mohammedanischen Witwe gewaltsam katholisch getauft hat. Das mohammedanische Bosnien gehört zu dem geistlichen Wirkungskreise des Erzbischofs Stadler in Agram, und dieser sehr streitbare Herr hat zweifellos direkt oder indirekt auf die Taufe des unehelichen mohammedanischen Kindes und bei den Bekehrungsversuchen an der Witwe einge¬ wirkt. Zuerst war die österreichische Regierung gleichgiltig, nachher bekam sie aber doch Angst vor dein Fanatismus des mohammedanischen Bosniens, und die wohl in ein Kloster verschwundne Witwe kam wenigstens wieder zum Vorschein; was mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/125>, abgerufen am 23.11.2024.