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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

Ein Fremder? Das gerade nicht. Wenn Sie es denn durchaus wissen wollen:
es war der Ladendiener von Lallier und Lacomparte.

Marigny wollte etwas erwidern, aber das Wort erstarb ihm ans der Zunge.
Mitten in der Menschenwoge, die bei dem Weinzelte vorüber durch die Lagergasse
flutete, hatte er Henri und Marguerite erblickt. Villeroi trug die Uniform der Garden
d'Artois. Der "Demokrat" -- denn das war er in den Augen des alten, be¬
dingungslosen Royalisten bis heute geblieben -- wollte also teilnehmen an dem
Kampfe, der dem Könige die Freiheit, dem Vaterlande die Ruhe und die Ordnung
wiedergeben sollte! Einen Augenblick lang dachte Marigny daran, aufzuspringen und
seine Kinder zu begrüße". Aber dann fiel ihm ein, daß es nicht seine, sondern
Henris Pflicht sei, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun. Henri trug den
größern Teil der Schuld an ihrer Entfremdung, und überdies war er der Jüngere.
Durfte er, ein bejahrter Mann, sich der Gefahr aussehen, hier in Gegenwart so
vieler Landsleute, die alle das seltsame Verhältnis kannten, von seinem Schwieger¬
sohne rin irgend einer kühlen Redewendung abgespeist zu werden? Freilich: Villeroi
zog in den Krieg; an seinem Mute, ja an seiner Tollkühnheit war nicht zu zweifeln;
kaum ein andrer würde sich wie er der Gefahr aussetzen -- wer konnte also wissen,
ob unter solchen Umständen auf ein Wiedersehen zu hoffen war? Mußte der Marquis,
dessen Sache es doch war, zu vergeben, nicht dennoch dem Gatten seiner Tochter
entgegengehn, ihm die Hand bieten und ihm sagen, daß er ihm verziehe -- ver¬
ziehe um des Degens willen, den er an seiner Seite sähe? Und der Entschluß, die
alte Scheidewand niederzureißen, siegte über Trotz und Stolz und beflügelte den
Fuß des greisen Edelmanns, als er sich durch die Menge Bahn brach und die Lager¬
gasse hiuuntereilre, an deren Ausgang Henris Tressenhut soeben hinter den Drei¬
spitzen preußischer Grenadiere verschwand. Aber das Schicksal schien es anders be¬
stimmt zu haben I Einem Bagagewagen, der zwischen den Zelten gestanden hatte und
nun von kräftigen Armen in die Gasse geschoben wurde, brach ein Rad. Er neigte
sich langsam zur Seite und schüttete seinen ganzen Inhalt an Koffern, Mantelsäcken
und Geschirrkörben mitten in die nach rechts und links auseinanderstiebende Menschen-
menge ans. Nun war der Weg vollends versperrt, und als Marigny auf Seiteu-
pfadeu die Stelle erreichte, wo er Henri zuletzt gesehen hatte, war jede Spur vou
diesem und Marguerite verloren. Was tun? In einer von sachkundigen Beurteilern
auf mehr als fünfzigtausend Köpfe abgeschätzten Menge, die sich zum Aufbruche rüstete
und wie eine aufgestörte Ameisenrepublik durcheinnnderhastete, zwei einzelne Menschen
suchen? Das mußte sogar einem Optimisten, wie der Marquis es war, als völlig
aussichtslos erscheinen.

Soviel jedoch war gewiß: bevor die Kolonnen sich nicht in Bewegung setzten,
würde auch Marguerite nicht zur Stadt zurückkehren. Und bis dahin konnten immer¬
hin noch ein paar Stunden vergehn. Also die Zeit benutzen!

Marigny hielt es nicht einmal für nötig, sich von den beiden Grafen Cnyln
zu verabschieden; er suchte so schnell wie möglich aus dem Gewühl hinauszukommen
und rannte förmlich auf demselben Pfade, den er zum Rnbenacher Plateau hinaus¬
gewandert war, nach Koblenz zurück. An der Moselbrücke mußte er wider Willen
halt machen. Das Regiment von Thndden, das als Besatzung in der Stadt ge¬
legen hatte, rückte gerade ab, um zur Armee zu stoßen, und versperrte auf eine gute
halbe Stunde den Übergang zum andern Ufer. Frauen und Mädchen, durch die
zarten und dabei festen Bande junger Freundschaft mit den abziehenden Kriegern
verknüpft, gaben ihnen eine Strecke weit das Geleite. Den Posten beim Fahrtor
hatte wieder kurfürstliches Militär bezogen. So wäre an dieser Stelle das äußere
Bild der kleinen Residenz wieder das alte gewesen, wenn ihm nicht gänzlich die
gewohnte Staffage der hier verkehrenden Krcmenadmodiatoren, Schiffer und Schürger
gefehlt hätte. Aber die Gassen und die Plätze blieben tot: alles, was Beine hatte,
war auf dem Rübenacher Lagerplatze.

Der Marquis bog in die Weisergasse ein und betrat das Haus worin seine


Der Marquis von Marigny

Ein Fremder? Das gerade nicht. Wenn Sie es denn durchaus wissen wollen:
es war der Ladendiener von Lallier und Lacomparte.

Marigny wollte etwas erwidern, aber das Wort erstarb ihm ans der Zunge.
Mitten in der Menschenwoge, die bei dem Weinzelte vorüber durch die Lagergasse
flutete, hatte er Henri und Marguerite erblickt. Villeroi trug die Uniform der Garden
d'Artois. Der „Demokrat" — denn das war er in den Augen des alten, be¬
dingungslosen Royalisten bis heute geblieben — wollte also teilnehmen an dem
Kampfe, der dem Könige die Freiheit, dem Vaterlande die Ruhe und die Ordnung
wiedergeben sollte! Einen Augenblick lang dachte Marigny daran, aufzuspringen und
seine Kinder zu begrüße«. Aber dann fiel ihm ein, daß es nicht seine, sondern
Henris Pflicht sei, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun. Henri trug den
größern Teil der Schuld an ihrer Entfremdung, und überdies war er der Jüngere.
Durfte er, ein bejahrter Mann, sich der Gefahr aussehen, hier in Gegenwart so
vieler Landsleute, die alle das seltsame Verhältnis kannten, von seinem Schwieger¬
sohne rin irgend einer kühlen Redewendung abgespeist zu werden? Freilich: Villeroi
zog in den Krieg; an seinem Mute, ja an seiner Tollkühnheit war nicht zu zweifeln;
kaum ein andrer würde sich wie er der Gefahr aussetzen — wer konnte also wissen,
ob unter solchen Umständen auf ein Wiedersehen zu hoffen war? Mußte der Marquis,
dessen Sache es doch war, zu vergeben, nicht dennoch dem Gatten seiner Tochter
entgegengehn, ihm die Hand bieten und ihm sagen, daß er ihm verziehe — ver¬
ziehe um des Degens willen, den er an seiner Seite sähe? Und der Entschluß, die
alte Scheidewand niederzureißen, siegte über Trotz und Stolz und beflügelte den
Fuß des greisen Edelmanns, als er sich durch die Menge Bahn brach und die Lager¬
gasse hiuuntereilre, an deren Ausgang Henris Tressenhut soeben hinter den Drei¬
spitzen preußischer Grenadiere verschwand. Aber das Schicksal schien es anders be¬
stimmt zu haben I Einem Bagagewagen, der zwischen den Zelten gestanden hatte und
nun von kräftigen Armen in die Gasse geschoben wurde, brach ein Rad. Er neigte
sich langsam zur Seite und schüttete seinen ganzen Inhalt an Koffern, Mantelsäcken
und Geschirrkörben mitten in die nach rechts und links auseinanderstiebende Menschen-
menge ans. Nun war der Weg vollends versperrt, und als Marigny auf Seiteu-
pfadeu die Stelle erreichte, wo er Henri zuletzt gesehen hatte, war jede Spur vou
diesem und Marguerite verloren. Was tun? In einer von sachkundigen Beurteilern
auf mehr als fünfzigtausend Köpfe abgeschätzten Menge, die sich zum Aufbruche rüstete
und wie eine aufgestörte Ameisenrepublik durcheinnnderhastete, zwei einzelne Menschen
suchen? Das mußte sogar einem Optimisten, wie der Marquis es war, als völlig
aussichtslos erscheinen.

Soviel jedoch war gewiß: bevor die Kolonnen sich nicht in Bewegung setzten,
würde auch Marguerite nicht zur Stadt zurückkehren. Und bis dahin konnten immer¬
hin noch ein paar Stunden vergehn. Also die Zeit benutzen!

Marigny hielt es nicht einmal für nötig, sich von den beiden Grafen Cnyln
zu verabschieden; er suchte so schnell wie möglich aus dem Gewühl hinauszukommen
und rannte förmlich auf demselben Pfade, den er zum Rnbenacher Plateau hinaus¬
gewandert war, nach Koblenz zurück. An der Moselbrücke mußte er wider Willen
halt machen. Das Regiment von Thndden, das als Besatzung in der Stadt ge¬
legen hatte, rückte gerade ab, um zur Armee zu stoßen, und versperrte auf eine gute
halbe Stunde den Übergang zum andern Ufer. Frauen und Mädchen, durch die
zarten und dabei festen Bande junger Freundschaft mit den abziehenden Kriegern
verknüpft, gaben ihnen eine Strecke weit das Geleite. Den Posten beim Fahrtor
hatte wieder kurfürstliches Militär bezogen. So wäre an dieser Stelle das äußere
Bild der kleinen Residenz wieder das alte gewesen, wenn ihm nicht gänzlich die
gewohnte Staffage der hier verkehrenden Krcmenadmodiatoren, Schiffer und Schürger
gefehlt hätte. Aber die Gassen und die Plätze blieben tot: alles, was Beine hatte,
war auf dem Rübenacher Lagerplatze.

Der Marquis bog in die Weisergasse ein und betrat das Haus worin seine


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[0120] Der Marquis von Marigny Ein Fremder? Das gerade nicht. Wenn Sie es denn durchaus wissen wollen: es war der Ladendiener von Lallier und Lacomparte. Marigny wollte etwas erwidern, aber das Wort erstarb ihm ans der Zunge. Mitten in der Menschenwoge, die bei dem Weinzelte vorüber durch die Lagergasse flutete, hatte er Henri und Marguerite erblickt. Villeroi trug die Uniform der Garden d'Artois. Der „Demokrat" — denn das war er in den Augen des alten, be¬ dingungslosen Royalisten bis heute geblieben — wollte also teilnehmen an dem Kampfe, der dem Könige die Freiheit, dem Vaterlande die Ruhe und die Ordnung wiedergeben sollte! Einen Augenblick lang dachte Marigny daran, aufzuspringen und seine Kinder zu begrüße«. Aber dann fiel ihm ein, daß es nicht seine, sondern Henris Pflicht sei, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun. Henri trug den größern Teil der Schuld an ihrer Entfremdung, und überdies war er der Jüngere. Durfte er, ein bejahrter Mann, sich der Gefahr aussehen, hier in Gegenwart so vieler Landsleute, die alle das seltsame Verhältnis kannten, von seinem Schwieger¬ sohne rin irgend einer kühlen Redewendung abgespeist zu werden? Freilich: Villeroi zog in den Krieg; an seinem Mute, ja an seiner Tollkühnheit war nicht zu zweifeln; kaum ein andrer würde sich wie er der Gefahr aussetzen — wer konnte also wissen, ob unter solchen Umständen auf ein Wiedersehen zu hoffen war? Mußte der Marquis, dessen Sache es doch war, zu vergeben, nicht dennoch dem Gatten seiner Tochter entgegengehn, ihm die Hand bieten und ihm sagen, daß er ihm verziehe — ver¬ ziehe um des Degens willen, den er an seiner Seite sähe? Und der Entschluß, die alte Scheidewand niederzureißen, siegte über Trotz und Stolz und beflügelte den Fuß des greisen Edelmanns, als er sich durch die Menge Bahn brach und die Lager¬ gasse hiuuntereilre, an deren Ausgang Henris Tressenhut soeben hinter den Drei¬ spitzen preußischer Grenadiere verschwand. Aber das Schicksal schien es anders be¬ stimmt zu haben I Einem Bagagewagen, der zwischen den Zelten gestanden hatte und nun von kräftigen Armen in die Gasse geschoben wurde, brach ein Rad. Er neigte sich langsam zur Seite und schüttete seinen ganzen Inhalt an Koffern, Mantelsäcken und Geschirrkörben mitten in die nach rechts und links auseinanderstiebende Menschen- menge ans. Nun war der Weg vollends versperrt, und als Marigny auf Seiteu- pfadeu die Stelle erreichte, wo er Henri zuletzt gesehen hatte, war jede Spur vou diesem und Marguerite verloren. Was tun? In einer von sachkundigen Beurteilern auf mehr als fünfzigtausend Köpfe abgeschätzten Menge, die sich zum Aufbruche rüstete und wie eine aufgestörte Ameisenrepublik durcheinnnderhastete, zwei einzelne Menschen suchen? Das mußte sogar einem Optimisten, wie der Marquis es war, als völlig aussichtslos erscheinen. Soviel jedoch war gewiß: bevor die Kolonnen sich nicht in Bewegung setzten, würde auch Marguerite nicht zur Stadt zurückkehren. Und bis dahin konnten immer¬ hin noch ein paar Stunden vergehn. Also die Zeit benutzen! Marigny hielt es nicht einmal für nötig, sich von den beiden Grafen Cnyln zu verabschieden; er suchte so schnell wie möglich aus dem Gewühl hinauszukommen und rannte förmlich auf demselben Pfade, den er zum Rnbenacher Plateau hinaus¬ gewandert war, nach Koblenz zurück. An der Moselbrücke mußte er wider Willen halt machen. Das Regiment von Thndden, das als Besatzung in der Stadt ge¬ legen hatte, rückte gerade ab, um zur Armee zu stoßen, und versperrte auf eine gute halbe Stunde den Übergang zum andern Ufer. Frauen und Mädchen, durch die zarten und dabei festen Bande junger Freundschaft mit den abziehenden Kriegern verknüpft, gaben ihnen eine Strecke weit das Geleite. Den Posten beim Fahrtor hatte wieder kurfürstliches Militär bezogen. So wäre an dieser Stelle das äußere Bild der kleinen Residenz wieder das alte gewesen, wenn ihm nicht gänzlich die gewohnte Staffage der hier verkehrenden Krcmenadmodiatoren, Schiffer und Schürger gefehlt hätte. Aber die Gassen und die Plätze blieben tot: alles, was Beine hatte, war auf dem Rübenacher Lagerplatze. Der Marquis bog in die Weisergasse ein und betrat das Haus worin seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/120>, abgerufen am 25.11.2024.