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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

passierte, da strömte die schaulustige Bevölkerung zusammen und begrüßte nach der
Väter Brauch die Reisenden mit vielstimmigen Vivatrufeu.

Aber das Vivat klang nicht so froh und zuversichtlich wie früher bei ähnlichen
Gelegenheiten. Es lag etwas in der Stimmung des sonst so lebenslustigen rhei¬
nischen Volkes, das der Gewitterschwüle jener Sommertage entsprach und keinen rechten
Festesjubel aufkommen ließ. Es war, als hatten die Meuschen geahnt, daß die selt¬
sam geschulteren, gestickten und verbrämten Gewänder, die mit edelm Pelzwerk be¬
setzten Mäntel und die wunderlichen Hüte mit den waltenden Federn, die jetzt wieder
einmal die Augen auf sich lenkten, bald zum Plunder der Vergangenheit gehören
würden, als hätte" sie geahnt, daß die Herren, die sich hier, gebläht von der Be¬
deutung ihrer Person, ihrer Würden und Ämter, in die Polster ihrer Kutschen
schmiegten oder aus demi Sattel ihrer Rosse den Gruß der Bürger lässig erwiderten,
zum letztenmal nach der freien Reichsstadt am Maine zogen, und daß durch die
vollen Glockenklange, die heute zur Krönung Franz des Zweiten nach Frankfurt luden,
zugleich auch das Sterbeglöcklein der alten deutschen Kaiserherrlichkeit scholl.

Ju jenen Tagen glich Koblenz einem Bienenstocke vor dem Schwärmen. Aber
die Aufregung, die alle Bewohner der Stadt, Noblesse wie Natsstcmd, Bürger wie
Fremde, gleichmäßig ergriffen hatte, galt nicht dein Sohne Leopolds des Zweiten und
seinem Ehrentage; es war auch nicht Freude, was Alt und Jung Schlaf, Appetit
und Lust zur Arbeit raubte, sondern Sorge und Furcht vor der Zukunft. Wohl
bestieg auch der Kurfürst seiue Lustjacht, um rhein- und mainaufwärts zu fahren
und bei der Feier in Frankfurt des Amts zu walten, aber er reiste mit dem aller-
bescheidensten Gefolge und kehrte gar für die kurze Frist, die zwischen Wahl und
.Krönung des neuen Oberhaupts lag, zu einem kurzen Besuche nach Koblenz zurück.
Verwirrung überall: beim Hofe, bei den Direktorien, beim Magistrat und beim
Militär, Verwirrung nicht minder bei den Emigranten, die sich immer mehr als die
Herren der Stadt zu gebärden begannen. Und was war die Ursache dieser allge¬
meinen Kopflosigkeit? Drei Worte, anfangs gerüchtweise gemunkelt und ungläubig
aufgenommen, spater bestimmter wiederholt und lebhafter erörtert, endlich öffentlich
verkündet und durch tausend Anzeichen bestätigt, drei Worte nur, aber inhaltschwer:
Die Preußen kommen!

Clemens Wenzeslans selbst fühlte sich höchst unbehaglich. Für alles, was ge¬
schehn und nicht geschehn war, schien ihn jetzt die Verantwortung treffen zu sollen.
Mau machte ihm zum Vorwurf, daß er die laudslüchtigen französischen Aristokraten
bei sich aufgenommen habe. Ludwig der Sechzehnte beklagte sich bei ihm, die National¬
versammlung stellte ihm ihre Rache in Aussicht, die Verbündeten Monarchen über¬
häuften ihn mit Tadel. Mehr als einmal hatte er die fremden Gäste zum Aus¬
einandergehn aufgefordert, mehr als einmal durch strenge Verbote den Rüstungen
und Truppenansammluugcn auf kurtrierischem Gebiete zu steuern versucht. Aber anstatt
daß die Emigranten abreisten, vermehrte sich ihre Zahl noch von Tag zu Tag, und
um das Verbot bekümmerte sich niemand. Die Franzosen sprachen mit wahrer Be¬
geisterung von der bevorstehenden Ankunft der Preußen, von denen sie glaubten, daß
sie nur ihretwegen kämen, die geistlichen und die weltlichen Stände des Erzstifts
dagegen fürchteten nicht ohne Grund, daß mit den Regimentern, die noch der Geist
des großen .Königs beseelte oder doch zu beseelen schien, eine neue, der milden und
schwachen Herrschaft des Krummstabs feindlich gesinnte Zeit herannahen würde.
Das Volk endlich, durch die Behörden beunruhigt, erwartete auf alle Fälle das
schlimmste. Es rechnete fest darauf, doppelt beraubt zu werden, zunächst durch die
mit den Preußen abziehenden Emigranten, die größtenteils seit Monaten alles schuldig
geblieben waren, und sodann dnrch die Preußen selbst, die, wie seine geistlichen Be¬
rater Prophezeiten, als Ketzer und Söhne des Antichrists zum mindesten Stadt und
Land brandschatzen, wenn nicht ohne weiteres plündern würden.
"

So klang denn der Ruf "Die Preußen kommen! nicht viel anders als etwa
cinhundertfünfzig Jahre vorher der Ruf "Die Schweden kommen!"


Der Marquis von Marigny

passierte, da strömte die schaulustige Bevölkerung zusammen und begrüßte nach der
Väter Brauch die Reisenden mit vielstimmigen Vivatrufeu.

Aber das Vivat klang nicht so froh und zuversichtlich wie früher bei ähnlichen
Gelegenheiten. Es lag etwas in der Stimmung des sonst so lebenslustigen rhei¬
nischen Volkes, das der Gewitterschwüle jener Sommertage entsprach und keinen rechten
Festesjubel aufkommen ließ. Es war, als hatten die Meuschen geahnt, daß die selt¬
sam geschulteren, gestickten und verbrämten Gewänder, die mit edelm Pelzwerk be¬
setzten Mäntel und die wunderlichen Hüte mit den waltenden Federn, die jetzt wieder
einmal die Augen auf sich lenkten, bald zum Plunder der Vergangenheit gehören
würden, als hätte» sie geahnt, daß die Herren, die sich hier, gebläht von der Be¬
deutung ihrer Person, ihrer Würden und Ämter, in die Polster ihrer Kutschen
schmiegten oder aus demi Sattel ihrer Rosse den Gruß der Bürger lässig erwiderten,
zum letztenmal nach der freien Reichsstadt am Maine zogen, und daß durch die
vollen Glockenklange, die heute zur Krönung Franz des Zweiten nach Frankfurt luden,
zugleich auch das Sterbeglöcklein der alten deutschen Kaiserherrlichkeit scholl.

Ju jenen Tagen glich Koblenz einem Bienenstocke vor dem Schwärmen. Aber
die Aufregung, die alle Bewohner der Stadt, Noblesse wie Natsstcmd, Bürger wie
Fremde, gleichmäßig ergriffen hatte, galt nicht dein Sohne Leopolds des Zweiten und
seinem Ehrentage; es war auch nicht Freude, was Alt und Jung Schlaf, Appetit
und Lust zur Arbeit raubte, sondern Sorge und Furcht vor der Zukunft. Wohl
bestieg auch der Kurfürst seiue Lustjacht, um rhein- und mainaufwärts zu fahren
und bei der Feier in Frankfurt des Amts zu walten, aber er reiste mit dem aller-
bescheidensten Gefolge und kehrte gar für die kurze Frist, die zwischen Wahl und
.Krönung des neuen Oberhaupts lag, zu einem kurzen Besuche nach Koblenz zurück.
Verwirrung überall: beim Hofe, bei den Direktorien, beim Magistrat und beim
Militär, Verwirrung nicht minder bei den Emigranten, die sich immer mehr als die
Herren der Stadt zu gebärden begannen. Und was war die Ursache dieser allge¬
meinen Kopflosigkeit? Drei Worte, anfangs gerüchtweise gemunkelt und ungläubig
aufgenommen, spater bestimmter wiederholt und lebhafter erörtert, endlich öffentlich
verkündet und durch tausend Anzeichen bestätigt, drei Worte nur, aber inhaltschwer:
Die Preußen kommen!

Clemens Wenzeslans selbst fühlte sich höchst unbehaglich. Für alles, was ge¬
schehn und nicht geschehn war, schien ihn jetzt die Verantwortung treffen zu sollen.
Mau machte ihm zum Vorwurf, daß er die laudslüchtigen französischen Aristokraten
bei sich aufgenommen habe. Ludwig der Sechzehnte beklagte sich bei ihm, die National¬
versammlung stellte ihm ihre Rache in Aussicht, die Verbündeten Monarchen über¬
häuften ihn mit Tadel. Mehr als einmal hatte er die fremden Gäste zum Aus¬
einandergehn aufgefordert, mehr als einmal durch strenge Verbote den Rüstungen
und Truppenansammluugcn auf kurtrierischem Gebiete zu steuern versucht. Aber anstatt
daß die Emigranten abreisten, vermehrte sich ihre Zahl noch von Tag zu Tag, und
um das Verbot bekümmerte sich niemand. Die Franzosen sprachen mit wahrer Be¬
geisterung von der bevorstehenden Ankunft der Preußen, von denen sie glaubten, daß
sie nur ihretwegen kämen, die geistlichen und die weltlichen Stände des Erzstifts
dagegen fürchteten nicht ohne Grund, daß mit den Regimentern, die noch der Geist
des großen .Königs beseelte oder doch zu beseelen schien, eine neue, der milden und
schwachen Herrschaft des Krummstabs feindlich gesinnte Zeit herannahen würde.
Das Volk endlich, durch die Behörden beunruhigt, erwartete auf alle Fälle das
schlimmste. Es rechnete fest darauf, doppelt beraubt zu werden, zunächst durch die
mit den Preußen abziehenden Emigranten, die größtenteils seit Monaten alles schuldig
geblieben waren, und sodann dnrch die Preußen selbst, die, wie seine geistlichen Be¬
rater Prophezeiten, als Ketzer und Söhne des Antichrists zum mindesten Stadt und
Land brandschatzen, wenn nicht ohne weiteres plündern würden.
"

So klang denn der Ruf „Die Preußen kommen! nicht viel anders als etwa
cinhundertfünfzig Jahre vorher der Ruf „Die Schweden kommen!"


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[0116] Der Marquis von Marigny passierte, da strömte die schaulustige Bevölkerung zusammen und begrüßte nach der Väter Brauch die Reisenden mit vielstimmigen Vivatrufeu. Aber das Vivat klang nicht so froh und zuversichtlich wie früher bei ähnlichen Gelegenheiten. Es lag etwas in der Stimmung des sonst so lebenslustigen rhei¬ nischen Volkes, das der Gewitterschwüle jener Sommertage entsprach und keinen rechten Festesjubel aufkommen ließ. Es war, als hatten die Meuschen geahnt, daß die selt¬ sam geschulteren, gestickten und verbrämten Gewänder, die mit edelm Pelzwerk be¬ setzten Mäntel und die wunderlichen Hüte mit den waltenden Federn, die jetzt wieder einmal die Augen auf sich lenkten, bald zum Plunder der Vergangenheit gehören würden, als hätte» sie geahnt, daß die Herren, die sich hier, gebläht von der Be¬ deutung ihrer Person, ihrer Würden und Ämter, in die Polster ihrer Kutschen schmiegten oder aus demi Sattel ihrer Rosse den Gruß der Bürger lässig erwiderten, zum letztenmal nach der freien Reichsstadt am Maine zogen, und daß durch die vollen Glockenklange, die heute zur Krönung Franz des Zweiten nach Frankfurt luden, zugleich auch das Sterbeglöcklein der alten deutschen Kaiserherrlichkeit scholl. Ju jenen Tagen glich Koblenz einem Bienenstocke vor dem Schwärmen. Aber die Aufregung, die alle Bewohner der Stadt, Noblesse wie Natsstcmd, Bürger wie Fremde, gleichmäßig ergriffen hatte, galt nicht dein Sohne Leopolds des Zweiten und seinem Ehrentage; es war auch nicht Freude, was Alt und Jung Schlaf, Appetit und Lust zur Arbeit raubte, sondern Sorge und Furcht vor der Zukunft. Wohl bestieg auch der Kurfürst seiue Lustjacht, um rhein- und mainaufwärts zu fahren und bei der Feier in Frankfurt des Amts zu walten, aber er reiste mit dem aller- bescheidensten Gefolge und kehrte gar für die kurze Frist, die zwischen Wahl und .Krönung des neuen Oberhaupts lag, zu einem kurzen Besuche nach Koblenz zurück. Verwirrung überall: beim Hofe, bei den Direktorien, beim Magistrat und beim Militär, Verwirrung nicht minder bei den Emigranten, die sich immer mehr als die Herren der Stadt zu gebärden begannen. Und was war die Ursache dieser allge¬ meinen Kopflosigkeit? Drei Worte, anfangs gerüchtweise gemunkelt und ungläubig aufgenommen, spater bestimmter wiederholt und lebhafter erörtert, endlich öffentlich verkündet und durch tausend Anzeichen bestätigt, drei Worte nur, aber inhaltschwer: Die Preußen kommen! Clemens Wenzeslans selbst fühlte sich höchst unbehaglich. Für alles, was ge¬ schehn und nicht geschehn war, schien ihn jetzt die Verantwortung treffen zu sollen. Mau machte ihm zum Vorwurf, daß er die laudslüchtigen französischen Aristokraten bei sich aufgenommen habe. Ludwig der Sechzehnte beklagte sich bei ihm, die National¬ versammlung stellte ihm ihre Rache in Aussicht, die Verbündeten Monarchen über¬ häuften ihn mit Tadel. Mehr als einmal hatte er die fremden Gäste zum Aus¬ einandergehn aufgefordert, mehr als einmal durch strenge Verbote den Rüstungen und Truppenansammluugcn auf kurtrierischem Gebiete zu steuern versucht. Aber anstatt daß die Emigranten abreisten, vermehrte sich ihre Zahl noch von Tag zu Tag, und um das Verbot bekümmerte sich niemand. Die Franzosen sprachen mit wahrer Be¬ geisterung von der bevorstehenden Ankunft der Preußen, von denen sie glaubten, daß sie nur ihretwegen kämen, die geistlichen und die weltlichen Stände des Erzstifts dagegen fürchteten nicht ohne Grund, daß mit den Regimentern, die noch der Geist des großen .Königs beseelte oder doch zu beseelen schien, eine neue, der milden und schwachen Herrschaft des Krummstabs feindlich gesinnte Zeit herannahen würde. Das Volk endlich, durch die Behörden beunruhigt, erwartete auf alle Fälle das schlimmste. Es rechnete fest darauf, doppelt beraubt zu werden, zunächst durch die mit den Preußen abziehenden Emigranten, die größtenteils seit Monaten alles schuldig geblieben waren, und sodann dnrch die Preußen selbst, die, wie seine geistlichen Be¬ rater Prophezeiten, als Ketzer und Söhne des Antichrists zum mindesten Stadt und Land brandschatzen, wenn nicht ohne weiteres plündern würden. " So klang denn der Ruf „Die Preußen kommen! nicht viel anders als etwa cinhundertfünfzig Jahre vorher der Ruf „Die Schweden kommen!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/116>, abgerufen am 01.09.2024.