Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.Leipziger Theaterplauderei In Leipzig spielt sich diese stumme, von der Musik vom Berge begleitete, ans Ich begreife, daß man, wenn es einem an Stiefeln fehlt, in gestickten Morgen- Wenn im alten Rom die Tribunen, denen der Schutz der Volksrechte anver¬ Forsche nicht! der Kochofen "unentwegt" stehn, und drängelt sich, statt daß sich der Schauplatz ver¬ Leipziger Theaterplauderei In Leipzig spielt sich diese stumme, von der Musik vom Berge begleitete, ans Ich begreife, daß man, wenn es einem an Stiefeln fehlt, in gestickten Morgen- Wenn im alten Rom die Tribunen, denen der Schutz der Volksrechte anver¬ Forsche nicht! der Kochofen „unentwegt" stehn, und drängelt sich, statt daß sich der Schauplatz ver¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0114" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241328"/> <fw type="header" place="top"> Leipziger Theaterplauderei</fw><lb/> <p xml:id="ID_485"> In Leipzig spielt sich diese stumme, von der Musik vom Berge begleitete, ans<lb/> malerische Masseneffekte berechnete Szene in dem Teilhaben Hausflur ab, dessen schönster<lb/> und gelungenster Schmuck der Kochofen ist. Bei einem angesehenen Bauern, der<lb/> seine silberne Hochzeit feiert, kann es, wenn der Tisch daneben im Saale gedeckt ist,<lb/> ungefähr aussehen wie in Teils Hausflur während der letzten Szene. Und das soll<lb/> uns die von einem freien Volke seinem größten Helden dargebrachte begeisterte<lb/> Huldigung veranschaulichen!</p><lb/> <p xml:id="ID_486"> Ich begreife, daß man, wenn es einem an Stiefeln fehlt, in gestickten Morgen-<lb/> schnhen zum „Becken" Brot kaufen geht. Was in den Jahren 1370/71 die un¬<lb/> glücklichen französischen Soldaten an Stelle von leidlichem Kommißschuhwerk zu tragen<lb/> gezwungen waren, wird denen von uns, die es noch nicht wußten, durch die in Ur. 18<lb/> des laufenden Jahrgangs der Grenzboten veröffentlichte, unterhaltende und äußerst<lb/> lehrreiche „Erzählung eines in einem deutschen Lazarett verpflegten Mobilgardisten"<lb/> klar. „Seine Füße waren durch Umwicklung mit Schaffell in unförmige Klumpen<lb/> verwandelt." Auf dem Rückzug des Napoleonischen Heeres ans Nußland, dessen<lb/> Greuel im Übergang über die Berezina gipfelten, mag es noch schlimmer gewesen<lb/> sein. Um nur das nackte Leben zu retten, ließe man ja sonst etwas über sich er¬<lb/> gehen. Aber warum man sich, ohne daß ein besondrer Notstand vorläge, bei einem<lb/> größern Theater, bildlich gesprochen, die Schaffellfetzen an Stelle der Stiefel auf¬<lb/> binden lassen soll, sehe ich nicht recht ein. Was insbesondre die letzte Szene an¬<lb/> langt, so wäre zu ihrer angemessenen Inszenierung eine Verwandlung bei offner<lb/> Szene ganz am Platze. Schiller hat offenbar an eine solche gedacht, der Kochherd<lb/> kann ohne Schwierigkeit zwischen zwei Kulissen hindurch zur Seite bugsiert werden,<lb/> etwaige Möbel, wenn man deren Aufstellung für nötig hält, verursachen einigen hand¬<lb/> festen Schweizern keine Schwierigkeiten, und die den Vorgängen der Gedankenwelt<lb/> ähnelnde Wandlung, wodurch sich das den engern Familienkreis bedeutende Haus<lb/> des Helden scheinbar zanberhafterweise zu dessen heimischem Tal und zu dessen großer<lb/> freier Heimat erweitert, entspricht ganz der Sachlage. Der dem Schauspiel zu Grunde<lb/> liegende Gedanke, daß Tell zum Retter seiner Heimat wurde, indem er mit Gefahr<lb/> des eignen Lebens seinen Herd und die Seinen schützte, kommt durch diese Szenen-<lb/> Wandlung gleichsam allegorisch zum Bewußtsein des Zuschauers, und eines der größten<lb/> Schauspiele der europäischen Geschichte, der Sieg eines kleinen aber braven und wehr¬<lb/> haften Volks, das dein „Herrn der Welt" gegenüber seine Freiheit zu verfechte»<lb/> wußte, endet nicht wie ein kleinbürgerliches Lustspiel in der Stube und am Koch¬<lb/> ofen, Sündern unter Gottes freiem Himmelszelt.</p><lb/> <p xml:id="ID_487"> Wenn im alten Rom die Tribunen, denen der Schutz der Volksrechte anver¬<lb/> traut war, schwiegen und ungerade gerade sein ließen, trat das Volk, meist etwas<lb/> unsanft, selbst für seine Privilegien ein. Ebenso muß, wenn die Rezensenten es<lb/> schweigend mitansehen, daß der Schluß von Schillers Wilhelm Tell in einer Weise<lb/> zusammengeschnürt und ins Alltägliche herabgezogen wird, die man sich mit der letzten<lb/> Szene von Wagners Meistersingern nie erlauben würde, das Publikum seine Sache<lb/> selbst in die Hand nehmen. Den, der mir fünf Mark wechselt und mir vier Mark<lb/> fünfzig Pfennig gutes und fünfzig Pfennig schlechtes Geld gibt, mache ich ans seineu<lb/> Irrtum aufmerksam. Bleibt nach Teils Mahnung an Hedwig:</p><lb/> <quote> Forsche nicht!<lb/> Und wenn er geht, so wende deine Augen,<lb/> Daß sie nicht sehen, welchen Weg er wandelt!</quote><lb/> <p xml:id="ID_488"> der Kochofen „unentwegt" stehn, und drängelt sich, statt daß sich der Schauplatz ver¬<lb/> wandle, eine Schweizer Deputation unter Führung des Schwiegervaters über die<lb/> Schwelle des Landbefreiers, so müßte im Zuschauerraum eine „Ovation" für den<lb/> Bearbeiter entstehn, die die Rezensenten nicht totschweigen könnten, und von der sie<lb/> berichten müßten, Bertachen habe nicht zu Worte kommen können, und der Vorhang<lb/> sei, ohne daß mau das Stück zu Ende gespielt habe, unter fortwährendem Pfeifen,<lb/> Zische«, Trampeln und Johlen des erbitterten Publikums gefallen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0114]
Leipziger Theaterplauderei
In Leipzig spielt sich diese stumme, von der Musik vom Berge begleitete, ans
malerische Masseneffekte berechnete Szene in dem Teilhaben Hausflur ab, dessen schönster
und gelungenster Schmuck der Kochofen ist. Bei einem angesehenen Bauern, der
seine silberne Hochzeit feiert, kann es, wenn der Tisch daneben im Saale gedeckt ist,
ungefähr aussehen wie in Teils Hausflur während der letzten Szene. Und das soll
uns die von einem freien Volke seinem größten Helden dargebrachte begeisterte
Huldigung veranschaulichen!
Ich begreife, daß man, wenn es einem an Stiefeln fehlt, in gestickten Morgen-
schnhen zum „Becken" Brot kaufen geht. Was in den Jahren 1370/71 die un¬
glücklichen französischen Soldaten an Stelle von leidlichem Kommißschuhwerk zu tragen
gezwungen waren, wird denen von uns, die es noch nicht wußten, durch die in Ur. 18
des laufenden Jahrgangs der Grenzboten veröffentlichte, unterhaltende und äußerst
lehrreiche „Erzählung eines in einem deutschen Lazarett verpflegten Mobilgardisten"
klar. „Seine Füße waren durch Umwicklung mit Schaffell in unförmige Klumpen
verwandelt." Auf dem Rückzug des Napoleonischen Heeres ans Nußland, dessen
Greuel im Übergang über die Berezina gipfelten, mag es noch schlimmer gewesen
sein. Um nur das nackte Leben zu retten, ließe man ja sonst etwas über sich er¬
gehen. Aber warum man sich, ohne daß ein besondrer Notstand vorläge, bei einem
größern Theater, bildlich gesprochen, die Schaffellfetzen an Stelle der Stiefel auf¬
binden lassen soll, sehe ich nicht recht ein. Was insbesondre die letzte Szene an¬
langt, so wäre zu ihrer angemessenen Inszenierung eine Verwandlung bei offner
Szene ganz am Platze. Schiller hat offenbar an eine solche gedacht, der Kochherd
kann ohne Schwierigkeit zwischen zwei Kulissen hindurch zur Seite bugsiert werden,
etwaige Möbel, wenn man deren Aufstellung für nötig hält, verursachen einigen hand¬
festen Schweizern keine Schwierigkeiten, und die den Vorgängen der Gedankenwelt
ähnelnde Wandlung, wodurch sich das den engern Familienkreis bedeutende Haus
des Helden scheinbar zanberhafterweise zu dessen heimischem Tal und zu dessen großer
freier Heimat erweitert, entspricht ganz der Sachlage. Der dem Schauspiel zu Grunde
liegende Gedanke, daß Tell zum Retter seiner Heimat wurde, indem er mit Gefahr
des eignen Lebens seinen Herd und die Seinen schützte, kommt durch diese Szenen-
Wandlung gleichsam allegorisch zum Bewußtsein des Zuschauers, und eines der größten
Schauspiele der europäischen Geschichte, der Sieg eines kleinen aber braven und wehr¬
haften Volks, das dein „Herrn der Welt" gegenüber seine Freiheit zu verfechte»
wußte, endet nicht wie ein kleinbürgerliches Lustspiel in der Stube und am Koch¬
ofen, Sündern unter Gottes freiem Himmelszelt.
Wenn im alten Rom die Tribunen, denen der Schutz der Volksrechte anver¬
traut war, schwiegen und ungerade gerade sein ließen, trat das Volk, meist etwas
unsanft, selbst für seine Privilegien ein. Ebenso muß, wenn die Rezensenten es
schweigend mitansehen, daß der Schluß von Schillers Wilhelm Tell in einer Weise
zusammengeschnürt und ins Alltägliche herabgezogen wird, die man sich mit der letzten
Szene von Wagners Meistersingern nie erlauben würde, das Publikum seine Sache
selbst in die Hand nehmen. Den, der mir fünf Mark wechselt und mir vier Mark
fünfzig Pfennig gutes und fünfzig Pfennig schlechtes Geld gibt, mache ich ans seineu
Irrtum aufmerksam. Bleibt nach Teils Mahnung an Hedwig:
Forsche nicht!
Und wenn er geht, so wende deine Augen,
Daß sie nicht sehen, welchen Weg er wandelt!
der Kochofen „unentwegt" stehn, und drängelt sich, statt daß sich der Schauplatz ver¬
wandle, eine Schweizer Deputation unter Führung des Schwiegervaters über die
Schwelle des Landbefreiers, so müßte im Zuschauerraum eine „Ovation" für den
Bearbeiter entstehn, die die Rezensenten nicht totschweigen könnten, und von der sie
berichten müßten, Bertachen habe nicht zu Worte kommen können, und der Vorhang
sei, ohne daß mau das Stück zu Ende gespielt habe, unter fortwährendem Pfeifen,
Zische«, Trampeln und Johlen des erbitterten Publikums gefallen.
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