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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Judentum und Christentum im Römischen Reiche

auf das, was die Kirche davon gerettet und uns überliefert hat? Man wende
nicht ein, die heutigen Proletarier hegten ähnliche Hoffnungen, Die Zahl der
Christen war, wie Harnack ausführlich beweist, noch im dritten Jahrhundert
klein im Verhältnis zur Einwohnerzahl des Römischen Reichs. Die Lohn¬
arbeiter dagegen, die der Sozialismus, als er politische Partei wurde, voll¬
zählig zu gewinnen hoffen durfte, macheu in manchem Lande nahezu die Hälfte
der Einwohnerschaft aus und würden bei längeren Fortgang der kapitalistischen
Entwicklung in der Kulturwelt bald die Mehrheit haben. Und die Hoffnungen
der Urkirche haben sich erfüllt, den sozialdemokratischen Zukunftsstaat aber
haben schon die drei Jahrzehnte seiner vermeintlichen Vorbereitung ins Land
Utopia verwiesen. Schon die kirchliche Organisation an sich, wie sie Hammel
beschreibt, das einzige lebensfähige und lebenskräftige Gebilde einer Zeit, die
sonst nur Absterbendes und Verwelkendes neben Mumien und Versteinerungen
sah, der junge Sproß, aus dem der größte, heute noch lebendige Gesellschafts¬
organismus der Weltgeschichte erwachsen ist, schon diese kirchliche Organisation
ist ein Wunder.

Nun war es der Glaube an den Gottsohn, der Mensch geworden sei,
um dieses Wunder zu wirken, was das Wunder tatsächlich gewirkt hat. Wird
das Doppelwunder,, die Entstehung der Kirche und ihr Vorauswissen der
eignen Zukunft, dadurch kleiner, daß wir den Gottmenschen eliminieren und
nur einen guten und weisen Mann übrig lassen, auf den die Phantasie der
Evangelisten alles reflektiert hat, was in der Kirche Großes, Neues und
Wunderbares zur Erscheinung kam? Wird das Wunder dadurch vermindert,
daß wir die größte und wohltätigste Schöpfung der Weltgeschichte auf eine
Einbildung, auf einen Selbstbetrug zurückführen, dessen rasche Verbreitung über
das Römische Reich als eine geistige Epidemie bezeichnet werden müßte? Ist
es nicht natürlicher, einfacher, weniger wunderlich, wenn wir die Gesundung
des Menschengeschlechts auf den Urgesnndeu zurückführen und glauben, daß
der auch gewußt hat, was er tat, daß er die Berufung der Heiden und die
Gründung der Kirche, die später in seinem Namen vollzogen wurde, gewollt
und vorausgesagt hat?

Und um die handgreifliche Erfüllung alter Weissagungen, an die wir schon
öfter erinnert haben, kommt kein Bibelkritiker herum. Wo gibt es außer den
Juden ein Volk, das nach dem Verlust seines politischen Daseins und seines
Heimatlandes, unter alle Völker zerstreut, seine Nationalität, seinen physischen
und geistigen Nassencharakter, seine Religion und alle seine Eigentümlichkeiten
bewahrt Hütte? Ein Volk, das unter den andern Völkern seine geschlossene
Einheit zweitausend Jahre lang bewahrt Hütte, das so lange unverändert fort¬
bestünde, nicht gleich den Zigeunern oder den nordamerikanischen Rothäuten als
ein dem Untergange geweihtes armseliges Gesindel, sondern als eine Welt¬
macht? Ein Volk, dem das alles seine Propheten vorausgesagt hätten? So
lange die Bibelkritiker nicht beweisen, daß das Buch Jesaja, die Evangelien
und der Nömerbrief erst im neunzehnten Jahrhundert geschrieben worden sind,
nützt ihnen ihre ganze mühevolle Arbeit nichts, wofern sie dabei den Zweck
verfolgen, zu beweisen, daß eS nur Prophezeiungen sx svsnw gibt. Diesen


Judentum und Christentum im Römischen Reiche

auf das, was die Kirche davon gerettet und uns überliefert hat? Man wende
nicht ein, die heutigen Proletarier hegten ähnliche Hoffnungen, Die Zahl der
Christen war, wie Harnack ausführlich beweist, noch im dritten Jahrhundert
klein im Verhältnis zur Einwohnerzahl des Römischen Reichs. Die Lohn¬
arbeiter dagegen, die der Sozialismus, als er politische Partei wurde, voll¬
zählig zu gewinnen hoffen durfte, macheu in manchem Lande nahezu die Hälfte
der Einwohnerschaft aus und würden bei längeren Fortgang der kapitalistischen
Entwicklung in der Kulturwelt bald die Mehrheit haben. Und die Hoffnungen
der Urkirche haben sich erfüllt, den sozialdemokratischen Zukunftsstaat aber
haben schon die drei Jahrzehnte seiner vermeintlichen Vorbereitung ins Land
Utopia verwiesen. Schon die kirchliche Organisation an sich, wie sie Hammel
beschreibt, das einzige lebensfähige und lebenskräftige Gebilde einer Zeit, die
sonst nur Absterbendes und Verwelkendes neben Mumien und Versteinerungen
sah, der junge Sproß, aus dem der größte, heute noch lebendige Gesellschafts¬
organismus der Weltgeschichte erwachsen ist, schon diese kirchliche Organisation
ist ein Wunder.

Nun war es der Glaube an den Gottsohn, der Mensch geworden sei,
um dieses Wunder zu wirken, was das Wunder tatsächlich gewirkt hat. Wird
das Doppelwunder,, die Entstehung der Kirche und ihr Vorauswissen der
eignen Zukunft, dadurch kleiner, daß wir den Gottmenschen eliminieren und
nur einen guten und weisen Mann übrig lassen, auf den die Phantasie der
Evangelisten alles reflektiert hat, was in der Kirche Großes, Neues und
Wunderbares zur Erscheinung kam? Wird das Wunder dadurch vermindert,
daß wir die größte und wohltätigste Schöpfung der Weltgeschichte auf eine
Einbildung, auf einen Selbstbetrug zurückführen, dessen rasche Verbreitung über
das Römische Reich als eine geistige Epidemie bezeichnet werden müßte? Ist
es nicht natürlicher, einfacher, weniger wunderlich, wenn wir die Gesundung
des Menschengeschlechts auf den Urgesnndeu zurückführen und glauben, daß
der auch gewußt hat, was er tat, daß er die Berufung der Heiden und die
Gründung der Kirche, die später in seinem Namen vollzogen wurde, gewollt
und vorausgesagt hat?

Und um die handgreifliche Erfüllung alter Weissagungen, an die wir schon
öfter erinnert haben, kommt kein Bibelkritiker herum. Wo gibt es außer den
Juden ein Volk, das nach dem Verlust seines politischen Daseins und seines
Heimatlandes, unter alle Völker zerstreut, seine Nationalität, seinen physischen
und geistigen Nassencharakter, seine Religion und alle seine Eigentümlichkeiten
bewahrt Hütte? Ein Volk, das unter den andern Völkern seine geschlossene
Einheit zweitausend Jahre lang bewahrt Hütte, das so lange unverändert fort¬
bestünde, nicht gleich den Zigeunern oder den nordamerikanischen Rothäuten als
ein dem Untergange geweihtes armseliges Gesindel, sondern als eine Welt¬
macht? Ein Volk, dem das alles seine Propheten vorausgesagt hätten? So
lange die Bibelkritiker nicht beweisen, daß das Buch Jesaja, die Evangelien
und der Nömerbrief erst im neunzehnten Jahrhundert geschrieben worden sind,
nützt ihnen ihre ganze mühevolle Arbeit nichts, wofern sie dabei den Zweck
verfolgen, zu beweisen, daß eS nur Prophezeiungen sx svsnw gibt. Diesen


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[0083] Judentum und Christentum im Römischen Reiche auf das, was die Kirche davon gerettet und uns überliefert hat? Man wende nicht ein, die heutigen Proletarier hegten ähnliche Hoffnungen, Die Zahl der Christen war, wie Harnack ausführlich beweist, noch im dritten Jahrhundert klein im Verhältnis zur Einwohnerzahl des Römischen Reichs. Die Lohn¬ arbeiter dagegen, die der Sozialismus, als er politische Partei wurde, voll¬ zählig zu gewinnen hoffen durfte, macheu in manchem Lande nahezu die Hälfte der Einwohnerschaft aus und würden bei längeren Fortgang der kapitalistischen Entwicklung in der Kulturwelt bald die Mehrheit haben. Und die Hoffnungen der Urkirche haben sich erfüllt, den sozialdemokratischen Zukunftsstaat aber haben schon die drei Jahrzehnte seiner vermeintlichen Vorbereitung ins Land Utopia verwiesen. Schon die kirchliche Organisation an sich, wie sie Hammel beschreibt, das einzige lebensfähige und lebenskräftige Gebilde einer Zeit, die sonst nur Absterbendes und Verwelkendes neben Mumien und Versteinerungen sah, der junge Sproß, aus dem der größte, heute noch lebendige Gesellschafts¬ organismus der Weltgeschichte erwachsen ist, schon diese kirchliche Organisation ist ein Wunder. Nun war es der Glaube an den Gottsohn, der Mensch geworden sei, um dieses Wunder zu wirken, was das Wunder tatsächlich gewirkt hat. Wird das Doppelwunder,, die Entstehung der Kirche und ihr Vorauswissen der eignen Zukunft, dadurch kleiner, daß wir den Gottmenschen eliminieren und nur einen guten und weisen Mann übrig lassen, auf den die Phantasie der Evangelisten alles reflektiert hat, was in der Kirche Großes, Neues und Wunderbares zur Erscheinung kam? Wird das Wunder dadurch vermindert, daß wir die größte und wohltätigste Schöpfung der Weltgeschichte auf eine Einbildung, auf einen Selbstbetrug zurückführen, dessen rasche Verbreitung über das Römische Reich als eine geistige Epidemie bezeichnet werden müßte? Ist es nicht natürlicher, einfacher, weniger wunderlich, wenn wir die Gesundung des Menschengeschlechts auf den Urgesnndeu zurückführen und glauben, daß der auch gewußt hat, was er tat, daß er die Berufung der Heiden und die Gründung der Kirche, die später in seinem Namen vollzogen wurde, gewollt und vorausgesagt hat? Und um die handgreifliche Erfüllung alter Weissagungen, an die wir schon öfter erinnert haben, kommt kein Bibelkritiker herum. Wo gibt es außer den Juden ein Volk, das nach dem Verlust seines politischen Daseins und seines Heimatlandes, unter alle Völker zerstreut, seine Nationalität, seinen physischen und geistigen Nassencharakter, seine Religion und alle seine Eigentümlichkeiten bewahrt Hütte? Ein Volk, das unter den andern Völkern seine geschlossene Einheit zweitausend Jahre lang bewahrt Hütte, das so lange unverändert fort¬ bestünde, nicht gleich den Zigeunern oder den nordamerikanischen Rothäuten als ein dem Untergange geweihtes armseliges Gesindel, sondern als eine Welt¬ macht? Ein Volk, dem das alles seine Propheten vorausgesagt hätten? So lange die Bibelkritiker nicht beweisen, daß das Buch Jesaja, die Evangelien und der Nömerbrief erst im neunzehnten Jahrhundert geschrieben worden sind, nützt ihnen ihre ganze mühevolle Arbeit nichts, wofern sie dabei den Zweck verfolgen, zu beweisen, daß eS nur Prophezeiungen sx svsnw gibt. Diesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/83>, abgerufen am 23.07.2024.