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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Der Marquis von Mariguy

Und wer den alten Herrn in der Küche hantieren sah, der mußte bekennen,
daß der Kavalier nichts von seiner Würde einbüßte. Trotz seiner Körperfülle be¬
wegte er sich mit weltmännischer Grazie zwischen Herden, Anrichten, Spttlsteinen,
Küchen, Geflügelrupfern und Küchenjungen umher, ohne anzustoßen oder sich zu
beschmutzen. Eine Schürze anzulegen, verschmähte er; nicht einmal den Degen
stellte er beiseite, und um keinen Preis hätte er trotz der Gluthitze den Nock aus¬
gezogen, denn er war ein Edelmann und kein gemeiner Koch. So legt ja auch
der gerechte Weidmann, wenn er den Hirsch zerwirkt, den Rock nicht ab, uni die
edle Kunst nicht zur Metzgerei zu erniedrigen.

Die Pieee, die der Virtuose Mnriguh bei dem heutigen kulinarischen Konzert
im Residenzschlosse zum Vortrag brachte, war ein Salmi von Toulonser Enten.
Und was für ein Salmi! Der Meister hatte als echter Künstler seine ganze Seele
hineingelegt. Und Clemens Wenzeslaus war Kenner genug, diese Kunst zu ver¬
steh" und ihrem Werte nach zu schätzen. Und glücklich und zum Beglücken geneigt,
wie er in dieser weihevollen Stunde war, riß der Kirchenfürst ans seinem Dinrnale
ein Blatt und schrieb darauf: Deliziös! Wir sind zufrieden. Behalten Sie dies
als ein Zeichen Unsers Dankes und Unsrer Affektion. C. W. Dann faltete er das
Papier zusammen, legte es in eine mit seinem Bildnis geschmückte goldne Dose und
sandte einen der bei Tafel aufwartenden Pagen mit dem Geschenke in die Küche.

Der Marquis schwamm in eitel Seligkeit. Mehr noch als die goldne Tabatiere
beglückte ihn der Anblick der geleerten silbernen Schüsseln, die sich jetzt nach und
ucich auf den Anrichtetischen einfanden und vom Obertafeldecker den Geschirrputzeru
überantwortet wurden. Mit zitternder Hand setzte der alte Herr das Glas Bur¬
gunder an die Lippen, das er zu seiner Stärkung stets erhielt, heute aber noch
nicht berührt hatte, und trank es in einem einzigen Zuge aus. Dann verließ er,
unbemerkt, wie er gekommen war, durch das Pförtchen des Seitenflügels das Schloß
und begab sich auf einigen Umwegen nach Hanse. Und seltsam! Je mehr er sich
der Kornpforte und dem "Englischen Gruße" näherte, desto langsamer wurden seine
Schritte. Ging es ihm wie dem Schauspieler, der, wenn er auf der Bühne als
König oder Feldherr Triumphe gefeiert und mit vollen Händen Gold und Gnaden¬
beweise ausgeteilt hat, vor der ärmlichen Kammer zurückschreckt, in der er, zu¬
sammengepfercht mit den getreusten aller Gönner: der Not, dem Ehrgeiz und dem
Neid, das Leben eines Bettlers führt?

Nein! Die bescheidne Klause verursachte Marignh keinen Kummer; er hatte
sich in den vielen Monaten so an die einfache aber ganz behagliche Mansarden¬
wohnung gewöhnt, daß er sie jetzt vielleicht ebenso ungern verlassen haben würde,
wie damals das Schloß zu Aigremont. Und ein Bettler war er gerade auch noch
nicht. Wenn auch infolge der Ungunst der Zeiten die Einkünfte von seinem Gute
ausblieben -- das Gut selbst konnte ihm niemand rauben, und wenn er es zu
Gelde machen wollte, "voran er vorderhand übrigens gar nicht dachte, so mußte er
bei der günstigen Lage des Grundbesitzes und dem vortreffliche" Waldbestaud einen
Erlös daraus erziele", der ihm, auch uach Tilgung aller Schuldenlasten, ein sorgen¬
freies Leben ohne irgend welche Einschränkungen sicherte. Gegen eine momentane
Geldverlegenheit endlich schützte den Marquis der reiche Familieuschmuck seines
Hauses, den er bei seiner Flucht wohlweislich mitgenommen hatte, und den er nur
Stück für Stück zu veräußern brauchte, wenn er sich auf Jahre hinaus über Wasser
halten wollte. Allerdings gedachte er zu diesem Hilfsmittel nur im alleräußersten
Notfalle seiue Zuflucht zu nehmen, denn die meisten der Stücke waren weit über
hundert Jahre im Besitze der Familie, und der alte Herr hätte es für eine dem
Namen Marigny zugefügte Schmach gehalten, sich ohne den dringendsten Zwang
von ihnen zu trennen.

Erwägungen dieser Art waren es also nicht, was dem Marquis die Heimkehr
heute so schwer machte. Was ihn bedrückte und ihm die Stiegen des "Englischen
Grußes" heute doppelt steil erscheinen ließ, war eine geheime Scheu vor der Be-


Der Marquis von Mariguy

Und wer den alten Herrn in der Küche hantieren sah, der mußte bekennen,
daß der Kavalier nichts von seiner Würde einbüßte. Trotz seiner Körperfülle be¬
wegte er sich mit weltmännischer Grazie zwischen Herden, Anrichten, Spttlsteinen,
Küchen, Geflügelrupfern und Küchenjungen umher, ohne anzustoßen oder sich zu
beschmutzen. Eine Schürze anzulegen, verschmähte er; nicht einmal den Degen
stellte er beiseite, und um keinen Preis hätte er trotz der Gluthitze den Nock aus¬
gezogen, denn er war ein Edelmann und kein gemeiner Koch. So legt ja auch
der gerechte Weidmann, wenn er den Hirsch zerwirkt, den Rock nicht ab, uni die
edle Kunst nicht zur Metzgerei zu erniedrigen.

Die Pieee, die der Virtuose Mnriguh bei dem heutigen kulinarischen Konzert
im Residenzschlosse zum Vortrag brachte, war ein Salmi von Toulonser Enten.
Und was für ein Salmi! Der Meister hatte als echter Künstler seine ganze Seele
hineingelegt. Und Clemens Wenzeslaus war Kenner genug, diese Kunst zu ver¬
steh» und ihrem Werte nach zu schätzen. Und glücklich und zum Beglücken geneigt,
wie er in dieser weihevollen Stunde war, riß der Kirchenfürst ans seinem Dinrnale
ein Blatt und schrieb darauf: Deliziös! Wir sind zufrieden. Behalten Sie dies
als ein Zeichen Unsers Dankes und Unsrer Affektion. C. W. Dann faltete er das
Papier zusammen, legte es in eine mit seinem Bildnis geschmückte goldne Dose und
sandte einen der bei Tafel aufwartenden Pagen mit dem Geschenke in die Küche.

Der Marquis schwamm in eitel Seligkeit. Mehr noch als die goldne Tabatiere
beglückte ihn der Anblick der geleerten silbernen Schüsseln, die sich jetzt nach und
ucich auf den Anrichtetischen einfanden und vom Obertafeldecker den Geschirrputzeru
überantwortet wurden. Mit zitternder Hand setzte der alte Herr das Glas Bur¬
gunder an die Lippen, das er zu seiner Stärkung stets erhielt, heute aber noch
nicht berührt hatte, und trank es in einem einzigen Zuge aus. Dann verließ er,
unbemerkt, wie er gekommen war, durch das Pförtchen des Seitenflügels das Schloß
und begab sich auf einigen Umwegen nach Hanse. Und seltsam! Je mehr er sich
der Kornpforte und dem „Englischen Gruße" näherte, desto langsamer wurden seine
Schritte. Ging es ihm wie dem Schauspieler, der, wenn er auf der Bühne als
König oder Feldherr Triumphe gefeiert und mit vollen Händen Gold und Gnaden¬
beweise ausgeteilt hat, vor der ärmlichen Kammer zurückschreckt, in der er, zu¬
sammengepfercht mit den getreusten aller Gönner: der Not, dem Ehrgeiz und dem
Neid, das Leben eines Bettlers führt?

Nein! Die bescheidne Klause verursachte Marignh keinen Kummer; er hatte
sich in den vielen Monaten so an die einfache aber ganz behagliche Mansarden¬
wohnung gewöhnt, daß er sie jetzt vielleicht ebenso ungern verlassen haben würde,
wie damals das Schloß zu Aigremont. Und ein Bettler war er gerade auch noch
nicht. Wenn auch infolge der Ungunst der Zeiten die Einkünfte von seinem Gute
ausblieben — das Gut selbst konnte ihm niemand rauben, und wenn er es zu
Gelde machen wollte, »voran er vorderhand übrigens gar nicht dachte, so mußte er
bei der günstigen Lage des Grundbesitzes und dem vortreffliche« Waldbestaud einen
Erlös daraus erziele», der ihm, auch uach Tilgung aller Schuldenlasten, ein sorgen¬
freies Leben ohne irgend welche Einschränkungen sicherte. Gegen eine momentane
Geldverlegenheit endlich schützte den Marquis der reiche Familieuschmuck seines
Hauses, den er bei seiner Flucht wohlweislich mitgenommen hatte, und den er nur
Stück für Stück zu veräußern brauchte, wenn er sich auf Jahre hinaus über Wasser
halten wollte. Allerdings gedachte er zu diesem Hilfsmittel nur im alleräußersten
Notfalle seiue Zuflucht zu nehmen, denn die meisten der Stücke waren weit über
hundert Jahre im Besitze der Familie, und der alte Herr hätte es für eine dem
Namen Marigny zugefügte Schmach gehalten, sich ohne den dringendsten Zwang
von ihnen zu trennen.

Erwägungen dieser Art waren es also nicht, was dem Marquis die Heimkehr
heute so schwer machte. Was ihn bedrückte und ihm die Stiegen des „Englischen
Grußes" heute doppelt steil erscheinen ließ, war eine geheime Scheu vor der Be-


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[0810] Der Marquis von Mariguy Und wer den alten Herrn in der Küche hantieren sah, der mußte bekennen, daß der Kavalier nichts von seiner Würde einbüßte. Trotz seiner Körperfülle be¬ wegte er sich mit weltmännischer Grazie zwischen Herden, Anrichten, Spttlsteinen, Küchen, Geflügelrupfern und Küchenjungen umher, ohne anzustoßen oder sich zu beschmutzen. Eine Schürze anzulegen, verschmähte er; nicht einmal den Degen stellte er beiseite, und um keinen Preis hätte er trotz der Gluthitze den Nock aus¬ gezogen, denn er war ein Edelmann und kein gemeiner Koch. So legt ja auch der gerechte Weidmann, wenn er den Hirsch zerwirkt, den Rock nicht ab, uni die edle Kunst nicht zur Metzgerei zu erniedrigen. Die Pieee, die der Virtuose Mnriguh bei dem heutigen kulinarischen Konzert im Residenzschlosse zum Vortrag brachte, war ein Salmi von Toulonser Enten. Und was für ein Salmi! Der Meister hatte als echter Künstler seine ganze Seele hineingelegt. Und Clemens Wenzeslaus war Kenner genug, diese Kunst zu ver¬ steh» und ihrem Werte nach zu schätzen. Und glücklich und zum Beglücken geneigt, wie er in dieser weihevollen Stunde war, riß der Kirchenfürst ans seinem Dinrnale ein Blatt und schrieb darauf: Deliziös! Wir sind zufrieden. Behalten Sie dies als ein Zeichen Unsers Dankes und Unsrer Affektion. C. W. Dann faltete er das Papier zusammen, legte es in eine mit seinem Bildnis geschmückte goldne Dose und sandte einen der bei Tafel aufwartenden Pagen mit dem Geschenke in die Küche. Der Marquis schwamm in eitel Seligkeit. Mehr noch als die goldne Tabatiere beglückte ihn der Anblick der geleerten silbernen Schüsseln, die sich jetzt nach und ucich auf den Anrichtetischen einfanden und vom Obertafeldecker den Geschirrputzeru überantwortet wurden. Mit zitternder Hand setzte der alte Herr das Glas Bur¬ gunder an die Lippen, das er zu seiner Stärkung stets erhielt, heute aber noch nicht berührt hatte, und trank es in einem einzigen Zuge aus. Dann verließ er, unbemerkt, wie er gekommen war, durch das Pförtchen des Seitenflügels das Schloß und begab sich auf einigen Umwegen nach Hanse. Und seltsam! Je mehr er sich der Kornpforte und dem „Englischen Gruße" näherte, desto langsamer wurden seine Schritte. Ging es ihm wie dem Schauspieler, der, wenn er auf der Bühne als König oder Feldherr Triumphe gefeiert und mit vollen Händen Gold und Gnaden¬ beweise ausgeteilt hat, vor der ärmlichen Kammer zurückschreckt, in der er, zu¬ sammengepfercht mit den getreusten aller Gönner: der Not, dem Ehrgeiz und dem Neid, das Leben eines Bettlers führt? Nein! Die bescheidne Klause verursachte Marignh keinen Kummer; er hatte sich in den vielen Monaten so an die einfache aber ganz behagliche Mansarden¬ wohnung gewöhnt, daß er sie jetzt vielleicht ebenso ungern verlassen haben würde, wie damals das Schloß zu Aigremont. Und ein Bettler war er gerade auch noch nicht. Wenn auch infolge der Ungunst der Zeiten die Einkünfte von seinem Gute ausblieben — das Gut selbst konnte ihm niemand rauben, und wenn er es zu Gelde machen wollte, »voran er vorderhand übrigens gar nicht dachte, so mußte er bei der günstigen Lage des Grundbesitzes und dem vortreffliche« Waldbestaud einen Erlös daraus erziele», der ihm, auch uach Tilgung aller Schuldenlasten, ein sorgen¬ freies Leben ohne irgend welche Einschränkungen sicherte. Gegen eine momentane Geldverlegenheit endlich schützte den Marquis der reiche Familieuschmuck seines Hauses, den er bei seiner Flucht wohlweislich mitgenommen hatte, und den er nur Stück für Stück zu veräußern brauchte, wenn er sich auf Jahre hinaus über Wasser halten wollte. Allerdings gedachte er zu diesem Hilfsmittel nur im alleräußersten Notfalle seiue Zuflucht zu nehmen, denn die meisten der Stücke waren weit über hundert Jahre im Besitze der Familie, und der alte Herr hätte es für eine dem Namen Marigny zugefügte Schmach gehalten, sich ohne den dringendsten Zwang von ihnen zu trennen. Erwägungen dieser Art waren es also nicht, was dem Marquis die Heimkehr heute so schwer machte. Was ihn bedrückte und ihm die Stiegen des „Englischen Grußes" heute doppelt steil erscheinen ließ, war eine geheime Scheu vor der Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/810>, abgerufen am 23.07.2024.