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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

Garten aus Salutschüsse ab; ein paar Minuten später stimmte beim Rheinkran
auch die städtische Soldateska mit ihren Stücken in den Willkommengruß ein, und
als die Jacht beim Nheintor, unterhalb der Schanze den Anker fallen ließ, krachte
es plötzlich ans den Katzenköpfen der Schtttzengilde so gewaltig, daß der weibliche
Teil der schaulustigen Menge, dem die unmittelbar hinter seinem Rücken getroffnen
Vorbereitungen hierzu entgangen waren, die kriegerischen Ovationen mit entsetzten
Gekreisch akkompagnierte.

Während sich der Kranmeister mit seinen Gesellen abmühte, unter Beihilfe
einiger Stadtknechte und Schiffer die Jacht an dem ihm vom Vorderdecke aus zu-
geschleuderteu Tau an die Uferiuauer heranzuziehn und den mit purpurnem Tuch
überzognen Steg vom Ufer zum Schiffe hinüberznschieben, bahnten sich die städtischen
Würdenträger, denen sich inzwischen auch die höchsten kurfürstlichen Hofchnrgen zu¬
gesellt hatten, einen Weg durch die dichtgedrängte Menge bis zur Landesteile, um
die hohen Gäste zu begrüßen. Ohne Püffe, Rippenstöße und Tritte ging es nicht
ab, und der alte Korporal Roll, dessen Nase -- das Resultat vieler gesegneter
Herbste -- festlicher deun je strahlte, mußte mehr als einmal blank ziehn, um
Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.

Aber Ratsstand und Noblesse sollten sich nicht lange des mühsam errungneu
Platzes freuen: sie wurden von den jungen französischen Aristokraten genau so rück¬
sichtslos beiseite geschoben, wie sie selbst die misora, Mb" verdrängt hatten. Und
dabei konnten sie nicht einmal ernstlichen Einspruch erhebe", denn der Herr, der
dort auf dem Schiffe am Maste mit dem Lilienbanner stand, war ein Landsmann
der Emigranten und in diesem Augenblick ein Vertreter ihres Königs, es war
dessen jüngster Bruder, der Graf von Artois, der, landflüchtig, nach langen Irr¬
fahrten von Turin kommend, Koblenz zum Mittelpunkte der Kontrerevolution zu
machen gedachte.

Die Vorbereitungen zur Landung zogen sich in die Länge, und man hatte
Zeit, sich den Prinzen und sein Gefolge mit Muße zu betrachten.

Wenn es wahr ist, daß der erste Eindruck entscheidet, so durfte der hohe
Flüchtling bei den Koblenzern für die Folge nicht gerade auf ein Übermaß von
Sympathien rechnen. Ja ein gut Teil des Mitleids, das man bisher für ihn
gehegt hatte, ging in diesem ersten Augenblick unwiederbringlich verloren. Lang
und dürr, schwankend in seiner Haltung und würdelos in jeder Bewegung, so stand
er inmitten der Getreuen -- ein verlebter Greis von vierunddreißig Jahren. Die
müden Auge", die unter den schwer darauf lastenden Lidern keiner Regung fähig
zu sein schienen, die scharfgeschnittene Nase und die weit vorspringende fleischige
Unterlippe, die seine großen, weit voneinander stehenden Vorderzähne sehen ließ,
gaben dem Antlitze dieses Bourbonensprosses etwas von der Maske eines Satyrs-
Teilnahmlos sah er auf die Menge, die ihm zu Ehren seit dein frühen Morgen
hier am Ufer ausgeharrt hatte und nun für ihr Vivatrufen zum mindesten einen
gnädigen Gruß erwartete.

Aber Karl von Artois hielt es nicht für der Mühe wert, den Pöbel durch
ein Lüften seines Tresseuhutes oder durch einen Wink seiner Hand zu beglücken.
Er schien ungehalten darüber zu sein, daß das Anlegen des Schiffes soviel Zeit
erforderte, und nur wenn der Minister Calonne, der würdige Diener seines Herrn,
sich die Freiheit nahm, entblößten Hauptes und gebeugten Nackens ein Wort an
ihn zu richten, verriet ein Zucker der riesigen Unterlippe, daß ihr Besitzer den
Günstling mit einer Autwort zu begraben geruht hatte.

Nur einmal zeigte der Graf eine stärkere Lebensregung. Madame de Pola-
stron, seiue Favoritin, hatte, während sie sich ihm näherte, ihren Fächer fallen lassen-
Das war den Kavalieren des Gefolges, die, soweit sie nicht dem Prinzen den Blick
zuwandten, gerade nach dem Ufer hinüberschauten, entgangen. Da verzog sich der
häßliche Mund, die schweren Augenlider hoben sich, und die schlaffe Hand, der
man soviel Tatkraft gar nicht hätte zutrauen mögen, stieß die Spitze des langen
spanischen Rohres dem nächsten der Herren höchst unsanft in die Kniekehle. Der


Der Marquis von Marigny

Garten aus Salutschüsse ab; ein paar Minuten später stimmte beim Rheinkran
auch die städtische Soldateska mit ihren Stücken in den Willkommengruß ein, und
als die Jacht beim Nheintor, unterhalb der Schanze den Anker fallen ließ, krachte
es plötzlich ans den Katzenköpfen der Schtttzengilde so gewaltig, daß der weibliche
Teil der schaulustigen Menge, dem die unmittelbar hinter seinem Rücken getroffnen
Vorbereitungen hierzu entgangen waren, die kriegerischen Ovationen mit entsetzten
Gekreisch akkompagnierte.

Während sich der Kranmeister mit seinen Gesellen abmühte, unter Beihilfe
einiger Stadtknechte und Schiffer die Jacht an dem ihm vom Vorderdecke aus zu-
geschleuderteu Tau an die Uferiuauer heranzuziehn und den mit purpurnem Tuch
überzognen Steg vom Ufer zum Schiffe hinüberznschieben, bahnten sich die städtischen
Würdenträger, denen sich inzwischen auch die höchsten kurfürstlichen Hofchnrgen zu¬
gesellt hatten, einen Weg durch die dichtgedrängte Menge bis zur Landesteile, um
die hohen Gäste zu begrüßen. Ohne Püffe, Rippenstöße und Tritte ging es nicht
ab, und der alte Korporal Roll, dessen Nase — das Resultat vieler gesegneter
Herbste — festlicher deun je strahlte, mußte mehr als einmal blank ziehn, um
Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.

Aber Ratsstand und Noblesse sollten sich nicht lange des mühsam errungneu
Platzes freuen: sie wurden von den jungen französischen Aristokraten genau so rück¬
sichtslos beiseite geschoben, wie sie selbst die misora, Mb« verdrängt hatten. Und
dabei konnten sie nicht einmal ernstlichen Einspruch erhebe», denn der Herr, der
dort auf dem Schiffe am Maste mit dem Lilienbanner stand, war ein Landsmann
der Emigranten und in diesem Augenblick ein Vertreter ihres Königs, es war
dessen jüngster Bruder, der Graf von Artois, der, landflüchtig, nach langen Irr¬
fahrten von Turin kommend, Koblenz zum Mittelpunkte der Kontrerevolution zu
machen gedachte.

Die Vorbereitungen zur Landung zogen sich in die Länge, und man hatte
Zeit, sich den Prinzen und sein Gefolge mit Muße zu betrachten.

Wenn es wahr ist, daß der erste Eindruck entscheidet, so durfte der hohe
Flüchtling bei den Koblenzern für die Folge nicht gerade auf ein Übermaß von
Sympathien rechnen. Ja ein gut Teil des Mitleids, das man bisher für ihn
gehegt hatte, ging in diesem ersten Augenblick unwiederbringlich verloren. Lang
und dürr, schwankend in seiner Haltung und würdelos in jeder Bewegung, so stand
er inmitten der Getreuen — ein verlebter Greis von vierunddreißig Jahren. Die
müden Auge», die unter den schwer darauf lastenden Lidern keiner Regung fähig
zu sein schienen, die scharfgeschnittene Nase und die weit vorspringende fleischige
Unterlippe, die seine großen, weit voneinander stehenden Vorderzähne sehen ließ,
gaben dem Antlitze dieses Bourbonensprosses etwas von der Maske eines Satyrs-
Teilnahmlos sah er auf die Menge, die ihm zu Ehren seit dein frühen Morgen
hier am Ufer ausgeharrt hatte und nun für ihr Vivatrufen zum mindesten einen
gnädigen Gruß erwartete.

Aber Karl von Artois hielt es nicht für der Mühe wert, den Pöbel durch
ein Lüften seines Tresseuhutes oder durch einen Wink seiner Hand zu beglücken.
Er schien ungehalten darüber zu sein, daß das Anlegen des Schiffes soviel Zeit
erforderte, und nur wenn der Minister Calonne, der würdige Diener seines Herrn,
sich die Freiheit nahm, entblößten Hauptes und gebeugten Nackens ein Wort an
ihn zu richten, verriet ein Zucker der riesigen Unterlippe, daß ihr Besitzer den
Günstling mit einer Autwort zu begraben geruht hatte.

Nur einmal zeigte der Graf eine stärkere Lebensregung. Madame de Pola-
stron, seiue Favoritin, hatte, während sie sich ihm näherte, ihren Fächer fallen lassen-
Das war den Kavalieren des Gefolges, die, soweit sie nicht dem Prinzen den Blick
zuwandten, gerade nach dem Ufer hinüberschauten, entgangen. Da verzog sich der
häßliche Mund, die schweren Augenlider hoben sich, und die schlaffe Hand, der
man soviel Tatkraft gar nicht hätte zutrauen mögen, stieß die Spitze des langen
spanischen Rohres dem nächsten der Herren höchst unsanft in die Kniekehle. Der


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[0806] Der Marquis von Marigny Garten aus Salutschüsse ab; ein paar Minuten später stimmte beim Rheinkran auch die städtische Soldateska mit ihren Stücken in den Willkommengruß ein, und als die Jacht beim Nheintor, unterhalb der Schanze den Anker fallen ließ, krachte es plötzlich ans den Katzenköpfen der Schtttzengilde so gewaltig, daß der weibliche Teil der schaulustigen Menge, dem die unmittelbar hinter seinem Rücken getroffnen Vorbereitungen hierzu entgangen waren, die kriegerischen Ovationen mit entsetzten Gekreisch akkompagnierte. Während sich der Kranmeister mit seinen Gesellen abmühte, unter Beihilfe einiger Stadtknechte und Schiffer die Jacht an dem ihm vom Vorderdecke aus zu- geschleuderteu Tau an die Uferiuauer heranzuziehn und den mit purpurnem Tuch überzognen Steg vom Ufer zum Schiffe hinüberznschieben, bahnten sich die städtischen Würdenträger, denen sich inzwischen auch die höchsten kurfürstlichen Hofchnrgen zu¬ gesellt hatten, einen Weg durch die dichtgedrängte Menge bis zur Landesteile, um die hohen Gäste zu begrüßen. Ohne Püffe, Rippenstöße und Tritte ging es nicht ab, und der alte Korporal Roll, dessen Nase — das Resultat vieler gesegneter Herbste — festlicher deun je strahlte, mußte mehr als einmal blank ziehn, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. Aber Ratsstand und Noblesse sollten sich nicht lange des mühsam errungneu Platzes freuen: sie wurden von den jungen französischen Aristokraten genau so rück¬ sichtslos beiseite geschoben, wie sie selbst die misora, Mb« verdrängt hatten. Und dabei konnten sie nicht einmal ernstlichen Einspruch erhebe», denn der Herr, der dort auf dem Schiffe am Maste mit dem Lilienbanner stand, war ein Landsmann der Emigranten und in diesem Augenblick ein Vertreter ihres Königs, es war dessen jüngster Bruder, der Graf von Artois, der, landflüchtig, nach langen Irr¬ fahrten von Turin kommend, Koblenz zum Mittelpunkte der Kontrerevolution zu machen gedachte. Die Vorbereitungen zur Landung zogen sich in die Länge, und man hatte Zeit, sich den Prinzen und sein Gefolge mit Muße zu betrachten. Wenn es wahr ist, daß der erste Eindruck entscheidet, so durfte der hohe Flüchtling bei den Koblenzern für die Folge nicht gerade auf ein Übermaß von Sympathien rechnen. Ja ein gut Teil des Mitleids, das man bisher für ihn gehegt hatte, ging in diesem ersten Augenblick unwiederbringlich verloren. Lang und dürr, schwankend in seiner Haltung und würdelos in jeder Bewegung, so stand er inmitten der Getreuen — ein verlebter Greis von vierunddreißig Jahren. Die müden Auge», die unter den schwer darauf lastenden Lidern keiner Regung fähig zu sein schienen, die scharfgeschnittene Nase und die weit vorspringende fleischige Unterlippe, die seine großen, weit voneinander stehenden Vorderzähne sehen ließ, gaben dem Antlitze dieses Bourbonensprosses etwas von der Maske eines Satyrs- Teilnahmlos sah er auf die Menge, die ihm zu Ehren seit dein frühen Morgen hier am Ufer ausgeharrt hatte und nun für ihr Vivatrufen zum mindesten einen gnädigen Gruß erwartete. Aber Karl von Artois hielt es nicht für der Mühe wert, den Pöbel durch ein Lüften seines Tresseuhutes oder durch einen Wink seiner Hand zu beglücken. Er schien ungehalten darüber zu sein, daß das Anlegen des Schiffes soviel Zeit erforderte, und nur wenn der Minister Calonne, der würdige Diener seines Herrn, sich die Freiheit nahm, entblößten Hauptes und gebeugten Nackens ein Wort an ihn zu richten, verriet ein Zucker der riesigen Unterlippe, daß ihr Besitzer den Günstling mit einer Autwort zu begraben geruht hatte. Nur einmal zeigte der Graf eine stärkere Lebensregung. Madame de Pola- stron, seiue Favoritin, hatte, während sie sich ihm näherte, ihren Fächer fallen lassen- Das war den Kavalieren des Gefolges, die, soweit sie nicht dem Prinzen den Blick zuwandten, gerade nach dem Ufer hinüberschauten, entgangen. Da verzog sich der häßliche Mund, die schweren Augenlider hoben sich, und die schlaffe Hand, der man soviel Tatkraft gar nicht hätte zutrauen mögen, stieß die Spitze des langen spanischen Rohres dem nächsten der Herren höchst unsanft in die Kniekehle. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/806>, abgerufen am 23.07.2024.