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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Nationalität und Aultur

Oravoi^ ospts, korum vivtorsm osxit se "rtss
Intulit s^rssti ki-^dio

sagt Horaz, oder wie C. Barth, in poesicvoller Nachdichtung das Original über¬
treffend, die berühmte Stelle übersetzt:


Hellas, bezwungen, zwang den wilden Sieger,
Zahm vor der Schönen kniet der rauhe Krieger,
Und sie füllt Herz und Hans dem armen Wilden
Mit hoher Schönheit göttlichen Gebilden.

Was den Römer beseelte, war zunächst der Stolz ans die politische Macht;
sein Selbstbewußtsein beruhte nicht auf der Abkunft, sondern auf seinem Bürger¬
recht, das er bald weitherzig allen Neichsgenossen, Jtalikern wie Provinzialen
öffnete, sobald sie sich die lateinische Bildung angeeignet hatten, und so wurde
das Reich beherrscht nicht von einer geschlossenen Nationalität, sondern von
einer aus sehr verschiednen Nationen zusammengeflossenen bevorzugten Rechts-
geuofseuschaft. Diese Empfindung drückt Vergil, der Dichter des jungen Welt¬
kaisertums, in den berühmten Versen ans:


In rsg-oro imxorio poxulos, Rom-wo, mornonto --
Ilg." tibi grünt, ^rtos -- ps,sis<>us iinxonsrv morow,
?!U'vsrs subjovtis se äodolturo Kiixsrlwki.

Du, Römer, sei der Herr den Völkern allen,
Dein ist die Herrscherkunst, so übe sie,
Und zwing die Welt, den Frieden zu ertragen,
Dem Trotzgen furchtbar, mild den Überwundnen,


Soviel steht also fest: der Begriff der Nationalität und des National¬
staats ist sehr jung, praktisch fast ganz beschränkt auf Europa; im größten
Teil der Welt gilt er nicht und wird er niemals gelten, weil die Verhältnisse
anderwärts ganz andre sind als in Europa. Und ob er hier das Ende aller
Entwicklung ist? Jedenfalls ist er dem Begriff der Kultur nicht übergeordnet,
nicht einmal beigeordnet, sondern untergeordnet, denn die Nationalität ist selbst
erst ein Produkt der Kultur.

In welchem Verhältnis steht nun die Nationalität zur Kultur, und was
ist überhaupt Kultur?

Der Ausdruck Kultur bezeichnet den Gesamtbesitz eines Volks an mate¬
riellen und geistigen Gütern, sie ist also das Ergebnis einer langen wirtschaft¬
lichen und geistigen Arbeit. Kulturlos im vollen Sinn des Worts ist kein
Volk, auch das roheste nicht; auf diesem Gebiete gibt es nur Gradunterschiede.
Nun ist es wohl möglich, die materiellen Güter eines Volks auf ein andres,
das ein schwächeres überwältigt hat, zu übertragen dnrch gewaltsame Be¬
raubung oder allmähliche Aufsaugung, wie es oft genug geschehn ist und noch
geschieht; aber schon die geistigen Kräfte, die jene Güter erzeugt haben, lassen
sich nicht übertragen, lind geistige Güter sind noch weniger schlechthin
übertragbar; ihre Übertragung auf ein andres Volk setzt eine lange Erziehung
eben dieses Volks voraus. Politische Formen lassen sich aufzwingen, weil sie
das innere Leben eines Volks nicht unmittelbar berühren; Sprache, Religion,
Kunst, Sitte, Tradition wollen angeeignet, erarbeitet sein, und das ist gegen


Nationalität und Aultur

Oravoi^ ospts, korum vivtorsm osxit se »rtss
Intulit s^rssti ki-^dio

sagt Horaz, oder wie C. Barth, in poesicvoller Nachdichtung das Original über¬
treffend, die berühmte Stelle übersetzt:


Hellas, bezwungen, zwang den wilden Sieger,
Zahm vor der Schönen kniet der rauhe Krieger,
Und sie füllt Herz und Hans dem armen Wilden
Mit hoher Schönheit göttlichen Gebilden.

Was den Römer beseelte, war zunächst der Stolz ans die politische Macht;
sein Selbstbewußtsein beruhte nicht auf der Abkunft, sondern auf seinem Bürger¬
recht, das er bald weitherzig allen Neichsgenossen, Jtalikern wie Provinzialen
öffnete, sobald sie sich die lateinische Bildung angeeignet hatten, und so wurde
das Reich beherrscht nicht von einer geschlossenen Nationalität, sondern von
einer aus sehr verschiednen Nationen zusammengeflossenen bevorzugten Rechts-
geuofseuschaft. Diese Empfindung drückt Vergil, der Dichter des jungen Welt¬
kaisertums, in den berühmten Versen ans:


In rsg-oro imxorio poxulos, Rom-wo, mornonto —
Ilg.» tibi grünt, ^rtos — ps,sis<>us iinxonsrv morow,
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Du, Römer, sei der Herr den Völkern allen,
Dein ist die Herrscherkunst, so übe sie,
Und zwing die Welt, den Frieden zu ertragen,
Dem Trotzgen furchtbar, mild den Überwundnen,


Soviel steht also fest: der Begriff der Nationalität und des National¬
staats ist sehr jung, praktisch fast ganz beschränkt auf Europa; im größten
Teil der Welt gilt er nicht und wird er niemals gelten, weil die Verhältnisse
anderwärts ganz andre sind als in Europa. Und ob er hier das Ende aller
Entwicklung ist? Jedenfalls ist er dem Begriff der Kultur nicht übergeordnet,
nicht einmal beigeordnet, sondern untergeordnet, denn die Nationalität ist selbst
erst ein Produkt der Kultur.

In welchem Verhältnis steht nun die Nationalität zur Kultur, und was
ist überhaupt Kultur?

Der Ausdruck Kultur bezeichnet den Gesamtbesitz eines Volks an mate¬
riellen und geistigen Gütern, sie ist also das Ergebnis einer langen wirtschaft¬
lichen und geistigen Arbeit. Kulturlos im vollen Sinn des Worts ist kein
Volk, auch das roheste nicht; auf diesem Gebiete gibt es nur Gradunterschiede.
Nun ist es wohl möglich, die materiellen Güter eines Volks auf ein andres,
das ein schwächeres überwältigt hat, zu übertragen dnrch gewaltsame Be¬
raubung oder allmähliche Aufsaugung, wie es oft genug geschehn ist und noch
geschieht; aber schon die geistigen Kräfte, die jene Güter erzeugt haben, lassen
sich nicht übertragen, lind geistige Güter sind noch weniger schlechthin
übertragbar; ihre Übertragung auf ein andres Volk setzt eine lange Erziehung
eben dieses Volks voraus. Politische Formen lassen sich aufzwingen, weil sie
das innere Leben eines Volks nicht unmittelbar berühren; Sprache, Religion,
Kunst, Sitte, Tradition wollen angeeignet, erarbeitet sein, und das ist gegen


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[0069] Nationalität und Aultur Oravoi^ ospts, korum vivtorsm osxit se »rtss Intulit s^rssti ki-^dio sagt Horaz, oder wie C. Barth, in poesicvoller Nachdichtung das Original über¬ treffend, die berühmte Stelle übersetzt: Hellas, bezwungen, zwang den wilden Sieger, Zahm vor der Schönen kniet der rauhe Krieger, Und sie füllt Herz und Hans dem armen Wilden Mit hoher Schönheit göttlichen Gebilden. Was den Römer beseelte, war zunächst der Stolz ans die politische Macht; sein Selbstbewußtsein beruhte nicht auf der Abkunft, sondern auf seinem Bürger¬ recht, das er bald weitherzig allen Neichsgenossen, Jtalikern wie Provinzialen öffnete, sobald sie sich die lateinische Bildung angeeignet hatten, und so wurde das Reich beherrscht nicht von einer geschlossenen Nationalität, sondern von einer aus sehr verschiednen Nationen zusammengeflossenen bevorzugten Rechts- geuofseuschaft. Diese Empfindung drückt Vergil, der Dichter des jungen Welt¬ kaisertums, in den berühmten Versen ans: In rsg-oro imxorio poxulos, Rom-wo, mornonto — Ilg.» tibi grünt, ^rtos — ps,sis<>us iinxonsrv morow, ?!U'vsrs subjovtis se äodolturo Kiixsrlwki. Du, Römer, sei der Herr den Völkern allen, Dein ist die Herrscherkunst, so übe sie, Und zwing die Welt, den Frieden zu ertragen, Dem Trotzgen furchtbar, mild den Überwundnen, Soviel steht also fest: der Begriff der Nationalität und des National¬ staats ist sehr jung, praktisch fast ganz beschränkt auf Europa; im größten Teil der Welt gilt er nicht und wird er niemals gelten, weil die Verhältnisse anderwärts ganz andre sind als in Europa. Und ob er hier das Ende aller Entwicklung ist? Jedenfalls ist er dem Begriff der Kultur nicht übergeordnet, nicht einmal beigeordnet, sondern untergeordnet, denn die Nationalität ist selbst erst ein Produkt der Kultur. In welchem Verhältnis steht nun die Nationalität zur Kultur, und was ist überhaupt Kultur? Der Ausdruck Kultur bezeichnet den Gesamtbesitz eines Volks an mate¬ riellen und geistigen Gütern, sie ist also das Ergebnis einer langen wirtschaft¬ lichen und geistigen Arbeit. Kulturlos im vollen Sinn des Worts ist kein Volk, auch das roheste nicht; auf diesem Gebiete gibt es nur Gradunterschiede. Nun ist es wohl möglich, die materiellen Güter eines Volks auf ein andres, das ein schwächeres überwältigt hat, zu übertragen dnrch gewaltsame Be¬ raubung oder allmähliche Aufsaugung, wie es oft genug geschehn ist und noch geschieht; aber schon die geistigen Kräfte, die jene Güter erzeugt haben, lassen sich nicht übertragen, lind geistige Güter sind noch weniger schlechthin übertragbar; ihre Übertragung auf ein andres Volk setzt eine lange Erziehung eben dieses Volks voraus. Politische Formen lassen sich aufzwingen, weil sie das innere Leben eines Volks nicht unmittelbar berühren; Sprache, Religion, Kunst, Sitte, Tradition wollen angeeignet, erarbeitet sein, und das ist gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/69>, abgerufen am 23.07.2024.