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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Nationalität und Kultur

staatenauflösend wirken würde, daß dort Staaten nnr möglich sind in der
Form der Unterwerfung der Massen unter eine herrschende ihnen stammfremde
Schicht, die aber darauf verzichtet, sich die anderssprachigen Stämme innerlich
zu assimilieren, sie also in ihrer Eigentümlichkeit nicht stört. So herrschen die
Türken, die Russen, die Engländer, die Franzosen in Asien, so haben dort
einst die Perser, die Araber, die Mongolen geherrscht, wie auf der andern
Halbkugel die Spanier und Portugiesen, so müssen auch wir Deutsche heute
in Afrika und in der Südsee herrschen. Dort wirkt zusammenschließend und
hat von jeher dort so gewirkt nicht der Staat, sondern der religiöse Glaube,
eine kirchliche Organisation, die freilich auch Stnmmesverwaudte innerlich von¬
einander scheiden kann. Der Islam ist immer national völlig indifferent ge¬
wesen; wer zu ihm übertritt, der wird für die Türken noch heute gerade so
gut Genosse der Herrschaft, wie er es für die Araber wurde, und trennt sich
von seinen Volksgenossen. Mohammedanische und christliche, orthodoxe und
katholische Albanesen stehn trotz der gemeinsamen Sprache und Abkunft ein¬
ander wie fremde Völker gegenüber, und die Türken, denen Österreich Bosnien
entriß, waren keine Türken, sondern der zum Islam übergetretne serbische
Adel des Landes. Ebenso galt den christlichen Rajahvölkern der Türken die
sie alle umschließende orthodoxe Kirche weit mehr als die Stammeszugehörig¬
keit, und in dem griechischen Patriarchen von Konstantinopel sahen sie alle
nicht nur ihr geistliches, sondern in mancher Beziehung auch ihr weltliches
Oberhaupt. Noch heute wirkt diese Anschnnnng nach in dem Verhältnis der
Russen zu den griechisch-orthodoxen Südslawen; mögen die gebildeten Russen
die Gemeinsamkeit des Stammes, das panslawistische Prinzip betonen, die
Massen des russischen Volks sehen in diesen Stämmen vor allen Glaubens¬
genossen, denen sie Hilfe leiste" müssen gegen jede Bedrückung, und denen sie
in der Tat das türkische Joch vom Nacken genommen haben. Russisch und
rechtgläubig fällt für sie zusammen, wie im Mittelalter dem Byzantiner
griechisch und orthodox; ein echter Russe muß der orthodoxen Kirche angehören,
deren Oberhaupt der Zar gerade so gut ist wie das des Staats. Wer ihr
angehört und russisch versteht, der ist ihm aber auch soviel wie ein Lands-
mann, ein Bruder, er mag stammen, woher er will. Rußland ist ihm deshalb
das "heilige Rußland," und jeder Krieg, der sich gegen andersgläubige Völker
richtet, wird für ihn zum heiligen Kriege, wie noch der Feldzug gegen Napoleon
im Jahre 1812, der es wagte, die Hand nach der heiligen Stadt, nach dem
"Mütterchen Moskau" auszustrecken.

Gerade darin zeigt sich der tiefe Gegensatz zwischen dem halborientalischen
Osten Europas und dem germanisch-romanischen Abendlande, aber er ist erst
wenig Jahrhunderte alt. Auch das abendländische Mittelalter kannte wohl
Sprachgenossen, aber keine Nationalitäten. Es wurde beherrscht von inter-
nationalen oder besser gesagt von übernationalen geistigen Mächten. Die
römische Kirche stand -- und steht uoch heute -- über den Nationalitüten,
ihre Sprache, das Lateinische, erhob sich als Weltsprache, als die Sprache des
Kultus, der Kirchenverwaltung. der Schule, der Wissenschaft, des Staats über


Nationalität und Kultur

staatenauflösend wirken würde, daß dort Staaten nnr möglich sind in der
Form der Unterwerfung der Massen unter eine herrschende ihnen stammfremde
Schicht, die aber darauf verzichtet, sich die anderssprachigen Stämme innerlich
zu assimilieren, sie also in ihrer Eigentümlichkeit nicht stört. So herrschen die
Türken, die Russen, die Engländer, die Franzosen in Asien, so haben dort
einst die Perser, die Araber, die Mongolen geherrscht, wie auf der andern
Halbkugel die Spanier und Portugiesen, so müssen auch wir Deutsche heute
in Afrika und in der Südsee herrschen. Dort wirkt zusammenschließend und
hat von jeher dort so gewirkt nicht der Staat, sondern der religiöse Glaube,
eine kirchliche Organisation, die freilich auch Stnmmesverwaudte innerlich von¬
einander scheiden kann. Der Islam ist immer national völlig indifferent ge¬
wesen; wer zu ihm übertritt, der wird für die Türken noch heute gerade so
gut Genosse der Herrschaft, wie er es für die Araber wurde, und trennt sich
von seinen Volksgenossen. Mohammedanische und christliche, orthodoxe und
katholische Albanesen stehn trotz der gemeinsamen Sprache und Abkunft ein¬
ander wie fremde Völker gegenüber, und die Türken, denen Österreich Bosnien
entriß, waren keine Türken, sondern der zum Islam übergetretne serbische
Adel des Landes. Ebenso galt den christlichen Rajahvölkern der Türken die
sie alle umschließende orthodoxe Kirche weit mehr als die Stammeszugehörig¬
keit, und in dem griechischen Patriarchen von Konstantinopel sahen sie alle
nicht nur ihr geistliches, sondern in mancher Beziehung auch ihr weltliches
Oberhaupt. Noch heute wirkt diese Anschnnnng nach in dem Verhältnis der
Russen zu den griechisch-orthodoxen Südslawen; mögen die gebildeten Russen
die Gemeinsamkeit des Stammes, das panslawistische Prinzip betonen, die
Massen des russischen Volks sehen in diesen Stämmen vor allen Glaubens¬
genossen, denen sie Hilfe leiste» müssen gegen jede Bedrückung, und denen sie
in der Tat das türkische Joch vom Nacken genommen haben. Russisch und
rechtgläubig fällt für sie zusammen, wie im Mittelalter dem Byzantiner
griechisch und orthodox; ein echter Russe muß der orthodoxen Kirche angehören,
deren Oberhaupt der Zar gerade so gut ist wie das des Staats. Wer ihr
angehört und russisch versteht, der ist ihm aber auch soviel wie ein Lands-
mann, ein Bruder, er mag stammen, woher er will. Rußland ist ihm deshalb
das „heilige Rußland," und jeder Krieg, der sich gegen andersgläubige Völker
richtet, wird für ihn zum heiligen Kriege, wie noch der Feldzug gegen Napoleon
im Jahre 1812, der es wagte, die Hand nach der heiligen Stadt, nach dem
„Mütterchen Moskau" auszustrecken.

Gerade darin zeigt sich der tiefe Gegensatz zwischen dem halborientalischen
Osten Europas und dem germanisch-romanischen Abendlande, aber er ist erst
wenig Jahrhunderte alt. Auch das abendländische Mittelalter kannte wohl
Sprachgenossen, aber keine Nationalitäten. Es wurde beherrscht von inter-
nationalen oder besser gesagt von übernationalen geistigen Mächten. Die
römische Kirche stand — und steht uoch heute — über den Nationalitüten,
ihre Sprache, das Lateinische, erhob sich als Weltsprache, als die Sprache des
Kultus, der Kirchenverwaltung. der Schule, der Wissenschaft, des Staats über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/67>, abgerufen am 23.07.2024.