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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Nationalität und Kultur
v Gelo Uaeinmol on

is Napoleon der Dritte das Nationalitätsprinzip proklamierte,
den Grundsatz, daß jede Nation das Recht auf eigne politische
Existenz habe, daß also zerspaltene Völker sich einigen, von
Fremden unterjochte Völker sich befreien müßten, da erfand er
nichts Neues, sondern er gab nur dem, was längst in den Völkern
Europas bewußt oder unbewußt lebte, einen scharfen, knappen Ausdruck und
zog sich selbst die Richtschnur seiner auswärtigen Politik, im Widerspruch
freilich mit der Selbstgefälligkeit und Eitelkeit, ja mit der ganzen Tradition
des von ihm beherrschten Volks. So hat er der Einheit Italiens nur die
Bahn gebrochen, sie aber nicht geschaffen, und als er der aufsteigenden
deutschen Einheit in den Weg treten mußte, ging er zu Grunde. Im Zeichen
der Nationalitätsidee steht seitdem alle Welt. In diesem Zeichen haben die
Völker der Balkanhalbinsel das türkische Joch abgeworfen, unter diesem Banner
fechten die Polen, wenn sie der deutschen Kultur widerstreben und noch immer
singen: "Noch ist Polen nicht verloren," die Tschechen, wenn sie in Böhmen
ihrer Sprache die Gleichberechtigung mit dem Dentschen erringen wollen, die
Italiener Südtirols, wenn sie nach der "Autonomie" dieses Landesteils streben,
die tapfern Sachsen in Siebenbürgen, wenn sie der Magyarisierung wider¬
stehn. Aber die Fahne der Nationalität muß auch Bestrebungen decken, die
andern Völkern ihre Nationalität verkümmern wollen, um die eigne zur Allein¬
herrschaft zu bringen: die magyarische Politik, die allen Völkern in den weiten
Ländern der Stephanskronc die isolierte Sprache dieses finnisch-ugrischen
Stammes aufzwingen möchte, wie die russische, die Deutsche, Polen, Finnländer
zu Gliedern der "großen russischen Familie" zu machen strebt. National
nennt sich schließlich eine Richtung, die alle fremden Bildungselemente mög¬
lichst ausstoßen möchte. Wird auch hier das tiefsinnige Wort des Goethischen
Faust wahr:


Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage,
Weh dir, daß du ein Enkel bist!

Grenzboten II 1S08 8


Nationalität und Kultur
v Gelo Uaeinmol on

is Napoleon der Dritte das Nationalitätsprinzip proklamierte,
den Grundsatz, daß jede Nation das Recht auf eigne politische
Existenz habe, daß also zerspaltene Völker sich einigen, von
Fremden unterjochte Völker sich befreien müßten, da erfand er
nichts Neues, sondern er gab nur dem, was längst in den Völkern
Europas bewußt oder unbewußt lebte, einen scharfen, knappen Ausdruck und
zog sich selbst die Richtschnur seiner auswärtigen Politik, im Widerspruch
freilich mit der Selbstgefälligkeit und Eitelkeit, ja mit der ganzen Tradition
des von ihm beherrschten Volks. So hat er der Einheit Italiens nur die
Bahn gebrochen, sie aber nicht geschaffen, und als er der aufsteigenden
deutschen Einheit in den Weg treten mußte, ging er zu Grunde. Im Zeichen
der Nationalitätsidee steht seitdem alle Welt. In diesem Zeichen haben die
Völker der Balkanhalbinsel das türkische Joch abgeworfen, unter diesem Banner
fechten die Polen, wenn sie der deutschen Kultur widerstreben und noch immer
singen: „Noch ist Polen nicht verloren," die Tschechen, wenn sie in Böhmen
ihrer Sprache die Gleichberechtigung mit dem Dentschen erringen wollen, die
Italiener Südtirols, wenn sie nach der „Autonomie" dieses Landesteils streben,
die tapfern Sachsen in Siebenbürgen, wenn sie der Magyarisierung wider¬
stehn. Aber die Fahne der Nationalität muß auch Bestrebungen decken, die
andern Völkern ihre Nationalität verkümmern wollen, um die eigne zur Allein¬
herrschaft zu bringen: die magyarische Politik, die allen Völkern in den weiten
Ländern der Stephanskronc die isolierte Sprache dieses finnisch-ugrischen
Stammes aufzwingen möchte, wie die russische, die Deutsche, Polen, Finnländer
zu Gliedern der „großen russischen Familie" zu machen strebt. National
nennt sich schließlich eine Richtung, die alle fremden Bildungselemente mög¬
lichst ausstoßen möchte. Wird auch hier das tiefsinnige Wort des Goethischen
Faust wahr:


Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage,
Weh dir, daß du ein Enkel bist!

Grenzboten II 1S08 8
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[0065] [Abbildung] Nationalität und Kultur v Gelo Uaeinmol on is Napoleon der Dritte das Nationalitätsprinzip proklamierte, den Grundsatz, daß jede Nation das Recht auf eigne politische Existenz habe, daß also zerspaltene Völker sich einigen, von Fremden unterjochte Völker sich befreien müßten, da erfand er nichts Neues, sondern er gab nur dem, was längst in den Völkern Europas bewußt oder unbewußt lebte, einen scharfen, knappen Ausdruck und zog sich selbst die Richtschnur seiner auswärtigen Politik, im Widerspruch freilich mit der Selbstgefälligkeit und Eitelkeit, ja mit der ganzen Tradition des von ihm beherrschten Volks. So hat er der Einheit Italiens nur die Bahn gebrochen, sie aber nicht geschaffen, und als er der aufsteigenden deutschen Einheit in den Weg treten mußte, ging er zu Grunde. Im Zeichen der Nationalitätsidee steht seitdem alle Welt. In diesem Zeichen haben die Völker der Balkanhalbinsel das türkische Joch abgeworfen, unter diesem Banner fechten die Polen, wenn sie der deutschen Kultur widerstreben und noch immer singen: „Noch ist Polen nicht verloren," die Tschechen, wenn sie in Böhmen ihrer Sprache die Gleichberechtigung mit dem Dentschen erringen wollen, die Italiener Südtirols, wenn sie nach der „Autonomie" dieses Landesteils streben, die tapfern Sachsen in Siebenbürgen, wenn sie der Magyarisierung wider¬ stehn. Aber die Fahne der Nationalität muß auch Bestrebungen decken, die andern Völkern ihre Nationalität verkümmern wollen, um die eigne zur Allein¬ herrschaft zu bringen: die magyarische Politik, die allen Völkern in den weiten Ländern der Stephanskronc die isolierte Sprache dieses finnisch-ugrischen Stammes aufzwingen möchte, wie die russische, die Deutsche, Polen, Finnländer zu Gliedern der „großen russischen Familie" zu machen strebt. National nennt sich schließlich eine Richtung, die alle fremden Bildungselemente mög¬ lichst ausstoßen möchte. Wird auch hier das tiefsinnige Wort des Goethischen Faust wahr: Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage, Weh dir, daß du ein Enkel bist! Grenzboten II 1S08 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/65>, abgerufen am 23.07.2024.