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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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gehörenden Arbeiten von Lazarus erschienen teils in der Zeitschrift, teils in be¬
sondern Büchern und behandeln zum Beispiel das Verhältnis des Einzelnen zur
Gesamtheit, den Ursprung der Sitten, das Verhältnis von Geist und Sprache
(Leben der Seele Bd. 2).

Wenn man vor etwa fünfzig Jahren, in den Anfängen der Völkerpsychologie,
darauf hingewiesen hat, daß schon Vico (geboren 1668 in Neapel) geistreiche Ge¬
danken über Geschichtswissenschaft gehabt hat und in gewissem Sinne zu den Vor¬
läufer" der Völkerpsychologie gerechnet werden kann, so ist dies natürlich. Denn bei
einem neuen Unternehmen, dessen Mut verwegen scheint, sieht man sich leicht nach
einem Bundesgenossen um, der es ein wenig legitimiert und -- mag er auch längst
tot sein -- durch seine noch lebendigen Gedanken unterstützt. Doch war der Gedanke
der neuen Wissenschaft in Deutschland dadurch besonders gefärbt, daß diese als
Psychologie bezeichnet wurde und ohne die damalige Entwicklung der Sprach¬
wissenschaft nicht zu denken war, sodaß die Völkerpsychologie geradezu als Frucht
der Sprachwissenschaft erscheint.

Lassen sich viele Erzeugnisse des öffentlichen oder des Gemeinschaftslebens nicht
als Schöpfung eines Einzelnen, sondern nur als die einer Gesamtheit begreifen,
so beginnt sachgemäß die Völkerpsychologie mit der Sprache, weil diese die mensch¬
liche Gemeinschaft vom Tier unterscheidet und eigentlich den Menschen als solchen
charakterisiert. Zudem sind die verschiednen Sprachen in sich geschlossene Gebäude,
die den Inbegriff davon enthalten, was im Bewußtsein der sie sprechenden an
Anschauungen und Gefühlen über die Welt und sie selbst vorhanden ist. Und trotz
der allgemeine" Gleichartigkeit der Menschennatur waltet doch in den Sprachen ein
verschiedner Geist, sodaß sich die Volker oder Sprnchgenossenschaften durch ihre Art
zu reden und zu denken wie Individuen voneinander absondern.

Die Jndividnalpsychologie hat nun die Vorgänge im Geiste des Einzelnen zum
Gegenstand. Wo ist denn, hat man gefragt, der Geist, der Objekt der Völker¬
psychologie ist? Hat er denn ein selbständiges Dasein, da er doch nnr die Summe
der Einzelgeister ist; ist er eine Einheit? Auf diese und andre Fragen hatte die
Völkerpsychologie dadurch zu antworten, daß sie nicht nur das Verhältnis des Ein¬
zelnen zur Gesamtheit darlegte, sondern auch die Vorstellung vom "objektiven Geist"
klar machte, der außer dein Einzelgeist vorhanden ist, und dessen Wesen und Leben
nach den bloßen Kategorien der Jndividnalpsychologie nicht begriffen werden kann.

Wenn nun dieser objektive Geist an Hegel erinnert, so ist doch die Methode,
ihn zu erkennen, gerade nicht die metaphysisch-logische oder dialektische, sondern die
empiristisch-psychologische. Und durch diese Überzeugung war die junge Völker¬
psychologie organisch verbunden mit Gedanken, die sich zu jener Zeit regten und
Wirksam wurden. Denn etwa seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts führte
doch die Philosophie, die sich bis dahin etwas zu sehr in Wolkenhohe verloren
hatte, neues Blut in ihre Adern, hauptsächlich durch die Naturwissenschaften, und
suchte, wie Antäus, neue Kraft durch Berührung mit der Erde. Wie Sein ge¬
macht wird, sagt Lotze einmal, wissen wir nicht. Auch die Prozesse des Werdens
und des Wirkens bleiben uns wohl in? Grunde geheimnisvoll. Aber man war der
idealistischen Gedankenspeise satt geworden und empfand Hunger nach etwas natura¬
listischem Schwarzbrot. Das Studium des mechanistischen Werdens wurde ein Lieb¬
lingsgedanke, der mit der List der Idee um Befriedigung anf verschiednen Ge¬
bieten und mit verschiednen Mitteln nicht in Verlegenheit kam.

Daß der Ausgang der Völkerpsychologie von Herbart genommen wurde, den
bekanntlich Schopenhauer als Beispiel derer auführt, die ihren Verstand verkehrt
angezogen haben, verschlägt nichts. Denn Herbart hatte doch das Verdienst, mit
den Seelenvermögen aufgeräumt zu haben, und seine Psychologie ist für den Fort¬
gang der Völkerpsychologie keineswegs maßgebend geblieben. Vielmehr suchte sich
diese durchaus an Tatsachen zu orientieren, wie an Sprache, Mythos, Sitte. Ging
sie dem Ursprung dieser Erzeugnisse einer Gesamtheit nach, so folgte sie anscheinend


gehörenden Arbeiten von Lazarus erschienen teils in der Zeitschrift, teils in be¬
sondern Büchern und behandeln zum Beispiel das Verhältnis des Einzelnen zur
Gesamtheit, den Ursprung der Sitten, das Verhältnis von Geist und Sprache
(Leben der Seele Bd. 2).

Wenn man vor etwa fünfzig Jahren, in den Anfängen der Völkerpsychologie,
darauf hingewiesen hat, daß schon Vico (geboren 1668 in Neapel) geistreiche Ge¬
danken über Geschichtswissenschaft gehabt hat und in gewissem Sinne zu den Vor¬
läufer» der Völkerpsychologie gerechnet werden kann, so ist dies natürlich. Denn bei
einem neuen Unternehmen, dessen Mut verwegen scheint, sieht man sich leicht nach
einem Bundesgenossen um, der es ein wenig legitimiert und — mag er auch längst
tot sein — durch seine noch lebendigen Gedanken unterstützt. Doch war der Gedanke
der neuen Wissenschaft in Deutschland dadurch besonders gefärbt, daß diese als
Psychologie bezeichnet wurde und ohne die damalige Entwicklung der Sprach¬
wissenschaft nicht zu denken war, sodaß die Völkerpsychologie geradezu als Frucht
der Sprachwissenschaft erscheint.

Lassen sich viele Erzeugnisse des öffentlichen oder des Gemeinschaftslebens nicht
als Schöpfung eines Einzelnen, sondern nur als die einer Gesamtheit begreifen,
so beginnt sachgemäß die Völkerpsychologie mit der Sprache, weil diese die mensch¬
liche Gemeinschaft vom Tier unterscheidet und eigentlich den Menschen als solchen
charakterisiert. Zudem sind die verschiednen Sprachen in sich geschlossene Gebäude,
die den Inbegriff davon enthalten, was im Bewußtsein der sie sprechenden an
Anschauungen und Gefühlen über die Welt und sie selbst vorhanden ist. Und trotz
der allgemeine» Gleichartigkeit der Menschennatur waltet doch in den Sprachen ein
verschiedner Geist, sodaß sich die Volker oder Sprnchgenossenschaften durch ihre Art
zu reden und zu denken wie Individuen voneinander absondern.

Die Jndividnalpsychologie hat nun die Vorgänge im Geiste des Einzelnen zum
Gegenstand. Wo ist denn, hat man gefragt, der Geist, der Objekt der Völker¬
psychologie ist? Hat er denn ein selbständiges Dasein, da er doch nnr die Summe
der Einzelgeister ist; ist er eine Einheit? Auf diese und andre Fragen hatte die
Völkerpsychologie dadurch zu antworten, daß sie nicht nur das Verhältnis des Ein¬
zelnen zur Gesamtheit darlegte, sondern auch die Vorstellung vom „objektiven Geist"
klar machte, der außer dein Einzelgeist vorhanden ist, und dessen Wesen und Leben
nach den bloßen Kategorien der Jndividnalpsychologie nicht begriffen werden kann.

Wenn nun dieser objektive Geist an Hegel erinnert, so ist doch die Methode,
ihn zu erkennen, gerade nicht die metaphysisch-logische oder dialektische, sondern die
empiristisch-psychologische. Und durch diese Überzeugung war die junge Völker¬
psychologie organisch verbunden mit Gedanken, die sich zu jener Zeit regten und
Wirksam wurden. Denn etwa seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts führte
doch die Philosophie, die sich bis dahin etwas zu sehr in Wolkenhohe verloren
hatte, neues Blut in ihre Adern, hauptsächlich durch die Naturwissenschaften, und
suchte, wie Antäus, neue Kraft durch Berührung mit der Erde. Wie Sein ge¬
macht wird, sagt Lotze einmal, wissen wir nicht. Auch die Prozesse des Werdens
und des Wirkens bleiben uns wohl in? Grunde geheimnisvoll. Aber man war der
idealistischen Gedankenspeise satt geworden und empfand Hunger nach etwas natura¬
listischem Schwarzbrot. Das Studium des mechanistischen Werdens wurde ein Lieb¬
lingsgedanke, der mit der List der Idee um Befriedigung anf verschiednen Ge¬
bieten und mit verschiednen Mitteln nicht in Verlegenheit kam.

Daß der Ausgang der Völkerpsychologie von Herbart genommen wurde, den
bekanntlich Schopenhauer als Beispiel derer auführt, die ihren Verstand verkehrt
angezogen haben, verschlägt nichts. Denn Herbart hatte doch das Verdienst, mit
den Seelenvermögen aufgeräumt zu haben, und seine Psychologie ist für den Fort¬
gang der Völkerpsychologie keineswegs maßgebend geblieben. Vielmehr suchte sich
diese durchaus an Tatsachen zu orientieren, wie an Sprache, Mythos, Sitte. Ging
sie dem Ursprung dieser Erzeugnisse einer Gesamtheit nach, so folgte sie anscheinend


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[0620] gehörenden Arbeiten von Lazarus erschienen teils in der Zeitschrift, teils in be¬ sondern Büchern und behandeln zum Beispiel das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit, den Ursprung der Sitten, das Verhältnis von Geist und Sprache (Leben der Seele Bd. 2). Wenn man vor etwa fünfzig Jahren, in den Anfängen der Völkerpsychologie, darauf hingewiesen hat, daß schon Vico (geboren 1668 in Neapel) geistreiche Ge¬ danken über Geschichtswissenschaft gehabt hat und in gewissem Sinne zu den Vor¬ läufer» der Völkerpsychologie gerechnet werden kann, so ist dies natürlich. Denn bei einem neuen Unternehmen, dessen Mut verwegen scheint, sieht man sich leicht nach einem Bundesgenossen um, der es ein wenig legitimiert und — mag er auch längst tot sein — durch seine noch lebendigen Gedanken unterstützt. Doch war der Gedanke der neuen Wissenschaft in Deutschland dadurch besonders gefärbt, daß diese als Psychologie bezeichnet wurde und ohne die damalige Entwicklung der Sprach¬ wissenschaft nicht zu denken war, sodaß die Völkerpsychologie geradezu als Frucht der Sprachwissenschaft erscheint. Lassen sich viele Erzeugnisse des öffentlichen oder des Gemeinschaftslebens nicht als Schöpfung eines Einzelnen, sondern nur als die einer Gesamtheit begreifen, so beginnt sachgemäß die Völkerpsychologie mit der Sprache, weil diese die mensch¬ liche Gemeinschaft vom Tier unterscheidet und eigentlich den Menschen als solchen charakterisiert. Zudem sind die verschiednen Sprachen in sich geschlossene Gebäude, die den Inbegriff davon enthalten, was im Bewußtsein der sie sprechenden an Anschauungen und Gefühlen über die Welt und sie selbst vorhanden ist. Und trotz der allgemeine» Gleichartigkeit der Menschennatur waltet doch in den Sprachen ein verschiedner Geist, sodaß sich die Volker oder Sprnchgenossenschaften durch ihre Art zu reden und zu denken wie Individuen voneinander absondern. Die Jndividnalpsychologie hat nun die Vorgänge im Geiste des Einzelnen zum Gegenstand. Wo ist denn, hat man gefragt, der Geist, der Objekt der Völker¬ psychologie ist? Hat er denn ein selbständiges Dasein, da er doch nnr die Summe der Einzelgeister ist; ist er eine Einheit? Auf diese und andre Fragen hatte die Völkerpsychologie dadurch zu antworten, daß sie nicht nur das Verhältnis des Ein¬ zelnen zur Gesamtheit darlegte, sondern auch die Vorstellung vom „objektiven Geist" klar machte, der außer dein Einzelgeist vorhanden ist, und dessen Wesen und Leben nach den bloßen Kategorien der Jndividnalpsychologie nicht begriffen werden kann. Wenn nun dieser objektive Geist an Hegel erinnert, so ist doch die Methode, ihn zu erkennen, gerade nicht die metaphysisch-logische oder dialektische, sondern die empiristisch-psychologische. Und durch diese Überzeugung war die junge Völker¬ psychologie organisch verbunden mit Gedanken, die sich zu jener Zeit regten und Wirksam wurden. Denn etwa seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts führte doch die Philosophie, die sich bis dahin etwas zu sehr in Wolkenhohe verloren hatte, neues Blut in ihre Adern, hauptsächlich durch die Naturwissenschaften, und suchte, wie Antäus, neue Kraft durch Berührung mit der Erde. Wie Sein ge¬ macht wird, sagt Lotze einmal, wissen wir nicht. Auch die Prozesse des Werdens und des Wirkens bleiben uns wohl in? Grunde geheimnisvoll. Aber man war der idealistischen Gedankenspeise satt geworden und empfand Hunger nach etwas natura¬ listischem Schwarzbrot. Das Studium des mechanistischen Werdens wurde ein Lieb¬ lingsgedanke, der mit der List der Idee um Befriedigung anf verschiednen Ge¬ bieten und mit verschiednen Mitteln nicht in Verlegenheit kam. Daß der Ausgang der Völkerpsychologie von Herbart genommen wurde, den bekanntlich Schopenhauer als Beispiel derer auführt, die ihren Verstand verkehrt angezogen haben, verschlägt nichts. Denn Herbart hatte doch das Verdienst, mit den Seelenvermögen aufgeräumt zu haben, und seine Psychologie ist für den Fort¬ gang der Völkerpsychologie keineswegs maßgebend geblieben. Vielmehr suchte sich diese durchaus an Tatsachen zu orientieren, wie an Sprache, Mythos, Sitte. Ging sie dem Ursprung dieser Erzeugnisse einer Gesamtheit nach, so folgte sie anscheinend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/620>, abgerufen am 23.07.2024.