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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

den Leuten sogleich in seiner, Musters, Wohnung abgeliefert worden und stünden
jetzt zu des gnädigen Herrn Verfügung.

Bei diesen Worten schlug er das verhüllende Tuch zurück und wies auf den
Tisch, wo zwischen Gewürzdüten und blanken Kasserollen der Leichnam des Kapaunen
seines legitimen Besitzers harrte.

Wenn der Entrepreneur erwartet hatte, der alte Herr würde beim Anblick
dieser Dinge in hellen Jubel ausbrechen, so sah er sich getauscht. Marigny blickte
durch das Perspektivchen, das in dem Goldknöpfe seines spanischen Rohrs angebracht
war, jeden der Gegenstände prüfend an, schüttelte den Kopf und sagte: Hier muß
eine Verwechslung vorliegen. Was ich vermisse, sind bologncsische Blumen, Hand¬
schuhe und ein Fächer. Diese Dinge sind nicht mein Eigentum. Ich werde in
ein paar Tagen wiederkommen, um noch einmal nachzufragen.

Und ohne mit einer Wimper zu zucken, verließ er an der Seite seines Be¬
gleiters das Haus, wo er durch freiwillige Aufopferung irdischer Güter den alten
glanzvollen Namen seines Geschlechts vor dem Makel der Lächerlichkeit gerettet
hatte. Die kleine Lüge bedrückte sein Gewissen nicht allzusehr; mehr Sorge da¬
gegen machte ihm die Frage, wie er vor seiner Tochter rechtfertigen sollte, daß
auch das heutige. Diner im wesentlichen wieder aus Omelette und Backpflaumen
bestehn würde. Und wie er dann, von den Anstrengungen des Morgens völlig
erschöpft, die schmale Stiege zum Atelier des seligen Haßlacher emporkletterte, da
lernte er das Wort des großen Florentiners von der Steilheit fremder Treppen
und dem harten Brote des Exils verstehn.

Wenn der Marquis eine überflüssige Sorge hegte, so war es die um die Recht¬
fertigung des zweiten Omelettediners vor seiner Tochter. Man konnte Hundert gegen
Eins wetten, daß Marguerite es heute nicht einmal bemerken würde, wenn man ihr
etwa ein in Haaröl gebacknes Stück Handschnhleder vorgesetzt hätte. Sie lebte in
einem Zustande, der der den Gläubigen verheißnen Seligkeit auch darin glich, daß
er sie himmelhoch über alle irdischen Bedürfnisse erhob. In dem Augenblick, wo
sie von Villeroi Abschied genommen hatte, war ihr erst zum Bewußtsein gekommen,
wie heiß sie den Jugendgespielen liebte. Der Gedanke, sie solle sich auf Monate
von ihm trennen, ihn vielleicht niemals wiedersehen, hatte sie in eine Art von
geistigem Starrkrampf versetzt, aus dem sie erst das Billett des Freundes erlösen
konnte. Und nun war der Arzt, dem sie ihre Heilung auf brieflichem Wege zu
verdanken hatte, selbst da! Wie anders erschien ihr jetzt die Umgebung, wie anders die
Luft, die sie atmete! Ihr war, als hätten die Hände eines unsichtbaren Zauberers das
arme Mansardengemach in einen hohen, luftigen Saal verwandelt! Ganze Chöre
von blnmenstreuenden und musizierenden Amoretten, schöner und anatomisch korrekter,
als der berühmte Januarius Zick sie im Audicnzsnal des Residenzschlosses an die
Decke geniale hatte, schienen an diesem Tage in das ehemalige Atelier seines minder
berühmten Gehilfen herabznschweben. Und wenn Marguerite heute einen Blick
aus dem Fenster tat -- was freilich nicht allzu häufig geschah --, dann war ihr,
als seien über Nacht an all den Blumenstöcken, die vergessen und entblättert auf
den schmalen Fensterbänken der alten Giebelhäuser standen, Rosen und Nelken,
Levkojen und Goldlack, Balsaminen und Feuerlilien aufgeblüht.

Marigny war inzwischen oben angelangt. Als er eintrat, fand er die beiden
jungen Leute höchst sittsam auf dem Kanapee sitzen, zwischen sich den Kakadukäfig,
durch dessen blanke Gitterstäbe sie sich genau so vernünftig unterhielten, wie sie es
früher getan hatten, wenn Henri bei einem gelegentlichen Besuche in Paris der
Freundin in Sainte-Madeleine einen Gruß aus Aigremont überbracht und durch das
Sprechgitter -- natürlich in Gegenwart einer der ehrwürdigsten Klosterfrauen --
ein paar harmlose Worte an sie gerichtet hatte.

Daß sie noch nicht lange so saßen, konnte man an dem Schwanken des Käfigs
und dem ängstlichen Flattern des Vogels erkennen, vielleicht auch an der Röte, die
Margucrites Wangen beim Eintritt des Vaters überflog. Dieser schenkte jedoch


Der Marquis von Marigny

den Leuten sogleich in seiner, Musters, Wohnung abgeliefert worden und stünden
jetzt zu des gnädigen Herrn Verfügung.

Bei diesen Worten schlug er das verhüllende Tuch zurück und wies auf den
Tisch, wo zwischen Gewürzdüten und blanken Kasserollen der Leichnam des Kapaunen
seines legitimen Besitzers harrte.

Wenn der Entrepreneur erwartet hatte, der alte Herr würde beim Anblick
dieser Dinge in hellen Jubel ausbrechen, so sah er sich getauscht. Marigny blickte
durch das Perspektivchen, das in dem Goldknöpfe seines spanischen Rohrs angebracht
war, jeden der Gegenstände prüfend an, schüttelte den Kopf und sagte: Hier muß
eine Verwechslung vorliegen. Was ich vermisse, sind bologncsische Blumen, Hand¬
schuhe und ein Fächer. Diese Dinge sind nicht mein Eigentum. Ich werde in
ein paar Tagen wiederkommen, um noch einmal nachzufragen.

Und ohne mit einer Wimper zu zucken, verließ er an der Seite seines Be¬
gleiters das Haus, wo er durch freiwillige Aufopferung irdischer Güter den alten
glanzvollen Namen seines Geschlechts vor dem Makel der Lächerlichkeit gerettet
hatte. Die kleine Lüge bedrückte sein Gewissen nicht allzusehr; mehr Sorge da¬
gegen machte ihm die Frage, wie er vor seiner Tochter rechtfertigen sollte, daß
auch das heutige. Diner im wesentlichen wieder aus Omelette und Backpflaumen
bestehn würde. Und wie er dann, von den Anstrengungen des Morgens völlig
erschöpft, die schmale Stiege zum Atelier des seligen Haßlacher emporkletterte, da
lernte er das Wort des großen Florentiners von der Steilheit fremder Treppen
und dem harten Brote des Exils verstehn.

Wenn der Marquis eine überflüssige Sorge hegte, so war es die um die Recht¬
fertigung des zweiten Omelettediners vor seiner Tochter. Man konnte Hundert gegen
Eins wetten, daß Marguerite es heute nicht einmal bemerken würde, wenn man ihr
etwa ein in Haaröl gebacknes Stück Handschnhleder vorgesetzt hätte. Sie lebte in
einem Zustande, der der den Gläubigen verheißnen Seligkeit auch darin glich, daß
er sie himmelhoch über alle irdischen Bedürfnisse erhob. In dem Augenblick, wo
sie von Villeroi Abschied genommen hatte, war ihr erst zum Bewußtsein gekommen,
wie heiß sie den Jugendgespielen liebte. Der Gedanke, sie solle sich auf Monate
von ihm trennen, ihn vielleicht niemals wiedersehen, hatte sie in eine Art von
geistigem Starrkrampf versetzt, aus dem sie erst das Billett des Freundes erlösen
konnte. Und nun war der Arzt, dem sie ihre Heilung auf brieflichem Wege zu
verdanken hatte, selbst da! Wie anders erschien ihr jetzt die Umgebung, wie anders die
Luft, die sie atmete! Ihr war, als hätten die Hände eines unsichtbaren Zauberers das
arme Mansardengemach in einen hohen, luftigen Saal verwandelt! Ganze Chöre
von blnmenstreuenden und musizierenden Amoretten, schöner und anatomisch korrekter,
als der berühmte Januarius Zick sie im Audicnzsnal des Residenzschlosses an die
Decke geniale hatte, schienen an diesem Tage in das ehemalige Atelier seines minder
berühmten Gehilfen herabznschweben. Und wenn Marguerite heute einen Blick
aus dem Fenster tat — was freilich nicht allzu häufig geschah —, dann war ihr,
als seien über Nacht an all den Blumenstöcken, die vergessen und entblättert auf
den schmalen Fensterbänken der alten Giebelhäuser standen, Rosen und Nelken,
Levkojen und Goldlack, Balsaminen und Feuerlilien aufgeblüht.

Marigny war inzwischen oben angelangt. Als er eintrat, fand er die beiden
jungen Leute höchst sittsam auf dem Kanapee sitzen, zwischen sich den Kakadukäfig,
durch dessen blanke Gitterstäbe sie sich genau so vernünftig unterhielten, wie sie es
früher getan hatten, wenn Henri bei einem gelegentlichen Besuche in Paris der
Freundin in Sainte-Madeleine einen Gruß aus Aigremont überbracht und durch das
Sprechgitter — natürlich in Gegenwart einer der ehrwürdigsten Klosterfrauen —
ein paar harmlose Worte an sie gerichtet hatte.

Daß sie noch nicht lange so saßen, konnte man an dem Schwanken des Käfigs
und dem ängstlichen Flattern des Vogels erkennen, vielleicht auch an der Röte, die
Margucrites Wangen beim Eintritt des Vaters überflog. Dieser schenkte jedoch


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[0554] Der Marquis von Marigny den Leuten sogleich in seiner, Musters, Wohnung abgeliefert worden und stünden jetzt zu des gnädigen Herrn Verfügung. Bei diesen Worten schlug er das verhüllende Tuch zurück und wies auf den Tisch, wo zwischen Gewürzdüten und blanken Kasserollen der Leichnam des Kapaunen seines legitimen Besitzers harrte. Wenn der Entrepreneur erwartet hatte, der alte Herr würde beim Anblick dieser Dinge in hellen Jubel ausbrechen, so sah er sich getauscht. Marigny blickte durch das Perspektivchen, das in dem Goldknöpfe seines spanischen Rohrs angebracht war, jeden der Gegenstände prüfend an, schüttelte den Kopf und sagte: Hier muß eine Verwechslung vorliegen. Was ich vermisse, sind bologncsische Blumen, Hand¬ schuhe und ein Fächer. Diese Dinge sind nicht mein Eigentum. Ich werde in ein paar Tagen wiederkommen, um noch einmal nachzufragen. Und ohne mit einer Wimper zu zucken, verließ er an der Seite seines Be¬ gleiters das Haus, wo er durch freiwillige Aufopferung irdischer Güter den alten glanzvollen Namen seines Geschlechts vor dem Makel der Lächerlichkeit gerettet hatte. Die kleine Lüge bedrückte sein Gewissen nicht allzusehr; mehr Sorge da¬ gegen machte ihm die Frage, wie er vor seiner Tochter rechtfertigen sollte, daß auch das heutige. Diner im wesentlichen wieder aus Omelette und Backpflaumen bestehn würde. Und wie er dann, von den Anstrengungen des Morgens völlig erschöpft, die schmale Stiege zum Atelier des seligen Haßlacher emporkletterte, da lernte er das Wort des großen Florentiners von der Steilheit fremder Treppen und dem harten Brote des Exils verstehn. Wenn der Marquis eine überflüssige Sorge hegte, so war es die um die Recht¬ fertigung des zweiten Omelettediners vor seiner Tochter. Man konnte Hundert gegen Eins wetten, daß Marguerite es heute nicht einmal bemerken würde, wenn man ihr etwa ein in Haaröl gebacknes Stück Handschnhleder vorgesetzt hätte. Sie lebte in einem Zustande, der der den Gläubigen verheißnen Seligkeit auch darin glich, daß er sie himmelhoch über alle irdischen Bedürfnisse erhob. In dem Augenblick, wo sie von Villeroi Abschied genommen hatte, war ihr erst zum Bewußtsein gekommen, wie heiß sie den Jugendgespielen liebte. Der Gedanke, sie solle sich auf Monate von ihm trennen, ihn vielleicht niemals wiedersehen, hatte sie in eine Art von geistigem Starrkrampf versetzt, aus dem sie erst das Billett des Freundes erlösen konnte. Und nun war der Arzt, dem sie ihre Heilung auf brieflichem Wege zu verdanken hatte, selbst da! Wie anders erschien ihr jetzt die Umgebung, wie anders die Luft, die sie atmete! Ihr war, als hätten die Hände eines unsichtbaren Zauberers das arme Mansardengemach in einen hohen, luftigen Saal verwandelt! Ganze Chöre von blnmenstreuenden und musizierenden Amoretten, schöner und anatomisch korrekter, als der berühmte Januarius Zick sie im Audicnzsnal des Residenzschlosses an die Decke geniale hatte, schienen an diesem Tage in das ehemalige Atelier seines minder berühmten Gehilfen herabznschweben. Und wenn Marguerite heute einen Blick aus dem Fenster tat — was freilich nicht allzu häufig geschah —, dann war ihr, als seien über Nacht an all den Blumenstöcken, die vergessen und entblättert auf den schmalen Fensterbänken der alten Giebelhäuser standen, Rosen und Nelken, Levkojen und Goldlack, Balsaminen und Feuerlilien aufgeblüht. Marigny war inzwischen oben angelangt. Als er eintrat, fand er die beiden jungen Leute höchst sittsam auf dem Kanapee sitzen, zwischen sich den Kakadukäfig, durch dessen blanke Gitterstäbe sie sich genau so vernünftig unterhielten, wie sie es früher getan hatten, wenn Henri bei einem gelegentlichen Besuche in Paris der Freundin in Sainte-Madeleine einen Gruß aus Aigremont überbracht und durch das Sprechgitter — natürlich in Gegenwart einer der ehrwürdigsten Klosterfrauen — ein paar harmlose Worte an sie gerichtet hatte. Daß sie noch nicht lange so saßen, konnte man an dem Schwanken des Käfigs und dem ängstlichen Flattern des Vogels erkennen, vielleicht auch an der Röte, die Margucrites Wangen beim Eintritt des Vaters überflog. Dieser schenkte jedoch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/554>, abgerufen am 23.07.2024.