Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Nochmals die Reichstagsivahlen

form, Volksabstimmung, Volkswahlen, Milizarmee, so hat man doch besonders
seit Jahresfrist begonnen, mit größter Energie gegen die militärischen Ein¬
richtungen, gegen die Grundsätze der Disziplin und des unbedingten Gehorsams
zu agitieren. Die letztjährigen, nicht durchgängig gelungner Manöver boten
diesen Bestrebungen gewisse Handhaben, die von der sozialdemokratischen Presse
mit großem Eifer ergriffen wurden; wochenlang schrieb sie über die angeblichen
Überanstrengungen während der Manöver, die unwürdige Behandlung durch
die Vorgesetzten, die mangelhafte Verpflegung, die Strenge der Disziplinar¬
strafen usw. Die Vorkommnisse in Genf, wo sich ein großer Teil der ein¬
berufnen Wehrleute weigerte, dem Volksaufruhr energisch entgegenzutreten, sind
allerdings geeignet, die gute Zuversicht zu erschüttern, und es wird der vollen
Energie der eidgenössischen und der kantonalen Behörden bedürfen, solche
Erscheinungen in Zukunft zu verhindernd) Ein Gesetzentwurf, daß in Zukunft
die Verleitung zum militärischen Ungehorsam und Treubruch strafbar sein
soll, ist auch schou von den eidgenössischen Räten angenommen worden. Die
Sozialdemokraten sammeln aber jetzt mit allen Kräften die nötigen Stimmen,
um dieses Gesetz zur Volksabstimmung und damit, wie sie hoffen, zur Ver¬
werfung zu bringen.

Wenn wir hier die Verhältnisse in der Schweiz erwähnt haben, so ge¬
schah es, weil man dort am besten einen Einblick in die sozialdemokratische
Bearbeitung erhält, und weil mau daraus ersehen kaun, was auch uus in
Deutschland bevorstehn würde, wenn man der Sozialdemokratie mehr und
mehr Spielraum ließe, und wenn man unsre Armee durch die Verkürzung
der Dienstzeit mehr und mehr zur Milizarmee machen wollte. Bis jetzt ist
ja trotz der zweijährige" Dienstzeit diese Gefahr noch nicht akut bei uns ge¬
worden, während man in Frankreich die Verkürzung der Dienstpflicht ganz
unbedenklich als einen ersten und verhängnisvollen Schritt zum Milizheere be¬
zeichnet. Es wäre aber ganz unbegründeter Optimismus, wenn man das Ein¬
dringen der sozialdemokratischen Lehren und Gesinnungen in die Reihen unsrer
Armee für unmöglich halten wollte. Wir halten es im Gegenteil für eine
große Gefahr, die sicher nur abgewandt werden kann, wenn sich die nicht sozial-
demokratischen Parteien bei allen Wahlen und so auch bei den bevorstehenden
Neichstagswahlen endlich einmal zusammenschließen und gemeinsam Front gegen
die sozialdemokratische Wahlagitation machen. Dazu gehört aber freilich das
Aufgeben der vielen Parteigegensätzc und der untergeordneten Fragen, die bei
den Wahlen immer wieder dazu ins Feld geführt werden, die eignen Kandidaten
durchzubringen. Die leider so zahlreichen Schattierungen der Konservativen,
die Nationallibernlen, das Zentrum, die Antisemiten und ein großer Teil der
Freisinnigen sollten bei den bevorstehenden Wahlen ihre besondern Partei¬
interessen einmal in den Hintergrund stellen und sich die Hemd reichen, um
gemeinsam die Sozialdemokratie zu bekämpfe" und um andre Vertreter des
deutschen Volkes in den Reichstag zu bringen, als die Agitatoren dieser



") Das; hierzu der Wille und auch die gesetzlichen Handhaben vorhanden sind, hat sich
bei der Unterdrückn!?" des jüngst auSgebrochnen MnurerstreW in Basel gezeigt.
Nochmals die Reichstagsivahlen

form, Volksabstimmung, Volkswahlen, Milizarmee, so hat man doch besonders
seit Jahresfrist begonnen, mit größter Energie gegen die militärischen Ein¬
richtungen, gegen die Grundsätze der Disziplin und des unbedingten Gehorsams
zu agitieren. Die letztjährigen, nicht durchgängig gelungner Manöver boten
diesen Bestrebungen gewisse Handhaben, die von der sozialdemokratischen Presse
mit großem Eifer ergriffen wurden; wochenlang schrieb sie über die angeblichen
Überanstrengungen während der Manöver, die unwürdige Behandlung durch
die Vorgesetzten, die mangelhafte Verpflegung, die Strenge der Disziplinar¬
strafen usw. Die Vorkommnisse in Genf, wo sich ein großer Teil der ein¬
berufnen Wehrleute weigerte, dem Volksaufruhr energisch entgegenzutreten, sind
allerdings geeignet, die gute Zuversicht zu erschüttern, und es wird der vollen
Energie der eidgenössischen und der kantonalen Behörden bedürfen, solche
Erscheinungen in Zukunft zu verhindernd) Ein Gesetzentwurf, daß in Zukunft
die Verleitung zum militärischen Ungehorsam und Treubruch strafbar sein
soll, ist auch schou von den eidgenössischen Räten angenommen worden. Die
Sozialdemokraten sammeln aber jetzt mit allen Kräften die nötigen Stimmen,
um dieses Gesetz zur Volksabstimmung und damit, wie sie hoffen, zur Ver¬
werfung zu bringen.

Wenn wir hier die Verhältnisse in der Schweiz erwähnt haben, so ge¬
schah es, weil man dort am besten einen Einblick in die sozialdemokratische
Bearbeitung erhält, und weil mau daraus ersehen kaun, was auch uus in
Deutschland bevorstehn würde, wenn man der Sozialdemokratie mehr und
mehr Spielraum ließe, und wenn man unsre Armee durch die Verkürzung
der Dienstzeit mehr und mehr zur Milizarmee machen wollte. Bis jetzt ist
ja trotz der zweijährige« Dienstzeit diese Gefahr noch nicht akut bei uns ge¬
worden, während man in Frankreich die Verkürzung der Dienstpflicht ganz
unbedenklich als einen ersten und verhängnisvollen Schritt zum Milizheere be¬
zeichnet. Es wäre aber ganz unbegründeter Optimismus, wenn man das Ein¬
dringen der sozialdemokratischen Lehren und Gesinnungen in die Reihen unsrer
Armee für unmöglich halten wollte. Wir halten es im Gegenteil für eine
große Gefahr, die sicher nur abgewandt werden kann, wenn sich die nicht sozial-
demokratischen Parteien bei allen Wahlen und so auch bei den bevorstehenden
Neichstagswahlen endlich einmal zusammenschließen und gemeinsam Front gegen
die sozialdemokratische Wahlagitation machen. Dazu gehört aber freilich das
Aufgeben der vielen Parteigegensätzc und der untergeordneten Fragen, die bei
den Wahlen immer wieder dazu ins Feld geführt werden, die eignen Kandidaten
durchzubringen. Die leider so zahlreichen Schattierungen der Konservativen,
die Nationallibernlen, das Zentrum, die Antisemiten und ein großer Teil der
Freisinnigen sollten bei den bevorstehenden Wahlen ihre besondern Partei¬
interessen einmal in den Hintergrund stellen und sich die Hemd reichen, um
gemeinsam die Sozialdemokratie zu bekämpfe» und um andre Vertreter des
deutschen Volkes in den Reichstag zu bringen, als die Agitatoren dieser



") Das; hierzu der Wille und auch die gesetzlichen Handhaben vorhanden sind, hat sich
bei der Unterdrückn!?» des jüngst auSgebrochnen MnurerstreW in Basel gezeigt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0450" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/240832"/>
          <fw type="header" place="top"> Nochmals die Reichstagsivahlen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2255" prev="#ID_2254"> form, Volksabstimmung, Volkswahlen, Milizarmee, so hat man doch besonders<lb/>
seit Jahresfrist begonnen, mit größter Energie gegen die militärischen Ein¬<lb/>
richtungen, gegen die Grundsätze der Disziplin und des unbedingten Gehorsams<lb/>
zu agitieren. Die letztjährigen, nicht durchgängig gelungner Manöver boten<lb/>
diesen Bestrebungen gewisse Handhaben, die von der sozialdemokratischen Presse<lb/>
mit großem Eifer ergriffen wurden; wochenlang schrieb sie über die angeblichen<lb/>
Überanstrengungen während der Manöver, die unwürdige Behandlung durch<lb/>
die Vorgesetzten, die mangelhafte Verpflegung, die Strenge der Disziplinar¬<lb/>
strafen usw. Die Vorkommnisse in Genf, wo sich ein großer Teil der ein¬<lb/>
berufnen Wehrleute weigerte, dem Volksaufruhr energisch entgegenzutreten, sind<lb/>
allerdings geeignet, die gute Zuversicht zu erschüttern, und es wird der vollen<lb/>
Energie der eidgenössischen und der kantonalen Behörden bedürfen, solche<lb/>
Erscheinungen in Zukunft zu verhindernd) Ein Gesetzentwurf, daß in Zukunft<lb/>
die Verleitung zum militärischen Ungehorsam und Treubruch strafbar sein<lb/>
soll, ist auch schou von den eidgenössischen Räten angenommen worden. Die<lb/>
Sozialdemokraten sammeln aber jetzt mit allen Kräften die nötigen Stimmen,<lb/>
um dieses Gesetz zur Volksabstimmung und damit, wie sie hoffen, zur Ver¬<lb/>
werfung zu bringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2256" next="#ID_2257"> Wenn wir hier die Verhältnisse in der Schweiz erwähnt haben, so ge¬<lb/>
schah es, weil man dort am besten einen Einblick in die sozialdemokratische<lb/>
Bearbeitung erhält, und weil mau daraus ersehen kaun, was auch uus in<lb/>
Deutschland bevorstehn würde, wenn man der Sozialdemokratie mehr und<lb/>
mehr Spielraum ließe, und wenn man unsre Armee durch die Verkürzung<lb/>
der Dienstzeit mehr und mehr zur Milizarmee machen wollte. Bis jetzt ist<lb/>
ja trotz der zweijährige« Dienstzeit diese Gefahr noch nicht akut bei uns ge¬<lb/>
worden, während man in Frankreich die Verkürzung der Dienstpflicht ganz<lb/>
unbedenklich als einen ersten und verhängnisvollen Schritt zum Milizheere be¬<lb/>
zeichnet. Es wäre aber ganz unbegründeter Optimismus, wenn man das Ein¬<lb/>
dringen der sozialdemokratischen Lehren und Gesinnungen in die Reihen unsrer<lb/>
Armee für unmöglich halten wollte. Wir halten es im Gegenteil für eine<lb/>
große Gefahr, die sicher nur abgewandt werden kann, wenn sich die nicht sozial-<lb/>
demokratischen Parteien bei allen Wahlen und so auch bei den bevorstehenden<lb/>
Neichstagswahlen endlich einmal zusammenschließen und gemeinsam Front gegen<lb/>
die sozialdemokratische Wahlagitation machen. Dazu gehört aber freilich das<lb/>
Aufgeben der vielen Parteigegensätzc und der untergeordneten Fragen, die bei<lb/>
den Wahlen immer wieder dazu ins Feld geführt werden, die eignen Kandidaten<lb/>
durchzubringen. Die leider so zahlreichen Schattierungen der Konservativen,<lb/>
die Nationallibernlen, das Zentrum, die Antisemiten und ein großer Teil der<lb/>
Freisinnigen sollten bei den bevorstehenden Wahlen ihre besondern Partei¬<lb/>
interessen einmal in den Hintergrund stellen und sich die Hemd reichen, um<lb/>
gemeinsam die Sozialdemokratie zu bekämpfe» und um andre Vertreter des<lb/>
deutschen Volkes in den Reichstag zu bringen, als die Agitatoren dieser</p><lb/>
          <note xml:id="FID_35" place="foot"> ") Das; hierzu der Wille und auch die gesetzlichen Handhaben vorhanden sind, hat sich<lb/>
bei der Unterdrückn!?» des jüngst auSgebrochnen MnurerstreW in Basel gezeigt.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0450] Nochmals die Reichstagsivahlen form, Volksabstimmung, Volkswahlen, Milizarmee, so hat man doch besonders seit Jahresfrist begonnen, mit größter Energie gegen die militärischen Ein¬ richtungen, gegen die Grundsätze der Disziplin und des unbedingten Gehorsams zu agitieren. Die letztjährigen, nicht durchgängig gelungner Manöver boten diesen Bestrebungen gewisse Handhaben, die von der sozialdemokratischen Presse mit großem Eifer ergriffen wurden; wochenlang schrieb sie über die angeblichen Überanstrengungen während der Manöver, die unwürdige Behandlung durch die Vorgesetzten, die mangelhafte Verpflegung, die Strenge der Disziplinar¬ strafen usw. Die Vorkommnisse in Genf, wo sich ein großer Teil der ein¬ berufnen Wehrleute weigerte, dem Volksaufruhr energisch entgegenzutreten, sind allerdings geeignet, die gute Zuversicht zu erschüttern, und es wird der vollen Energie der eidgenössischen und der kantonalen Behörden bedürfen, solche Erscheinungen in Zukunft zu verhindernd) Ein Gesetzentwurf, daß in Zukunft die Verleitung zum militärischen Ungehorsam und Treubruch strafbar sein soll, ist auch schou von den eidgenössischen Räten angenommen worden. Die Sozialdemokraten sammeln aber jetzt mit allen Kräften die nötigen Stimmen, um dieses Gesetz zur Volksabstimmung und damit, wie sie hoffen, zur Ver¬ werfung zu bringen. Wenn wir hier die Verhältnisse in der Schweiz erwähnt haben, so ge¬ schah es, weil man dort am besten einen Einblick in die sozialdemokratische Bearbeitung erhält, und weil mau daraus ersehen kaun, was auch uus in Deutschland bevorstehn würde, wenn man der Sozialdemokratie mehr und mehr Spielraum ließe, und wenn man unsre Armee durch die Verkürzung der Dienstzeit mehr und mehr zur Milizarmee machen wollte. Bis jetzt ist ja trotz der zweijährige« Dienstzeit diese Gefahr noch nicht akut bei uns ge¬ worden, während man in Frankreich die Verkürzung der Dienstpflicht ganz unbedenklich als einen ersten und verhängnisvollen Schritt zum Milizheere be¬ zeichnet. Es wäre aber ganz unbegründeter Optimismus, wenn man das Ein¬ dringen der sozialdemokratischen Lehren und Gesinnungen in die Reihen unsrer Armee für unmöglich halten wollte. Wir halten es im Gegenteil für eine große Gefahr, die sicher nur abgewandt werden kann, wenn sich die nicht sozial- demokratischen Parteien bei allen Wahlen und so auch bei den bevorstehenden Neichstagswahlen endlich einmal zusammenschließen und gemeinsam Front gegen die sozialdemokratische Wahlagitation machen. Dazu gehört aber freilich das Aufgeben der vielen Parteigegensätzc und der untergeordneten Fragen, die bei den Wahlen immer wieder dazu ins Feld geführt werden, die eignen Kandidaten durchzubringen. Die leider so zahlreichen Schattierungen der Konservativen, die Nationallibernlen, das Zentrum, die Antisemiten und ein großer Teil der Freisinnigen sollten bei den bevorstehenden Wahlen ihre besondern Partei¬ interessen einmal in den Hintergrund stellen und sich die Hemd reichen, um gemeinsam die Sozialdemokratie zu bekämpfe» und um andre Vertreter des deutschen Volkes in den Reichstag zu bringen, als die Agitatoren dieser ") Das; hierzu der Wille und auch die gesetzlichen Handhaben vorhanden sind, hat sich bei der Unterdrückn!?» des jüngst auSgebrochnen MnurerstreW in Basel gezeigt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/450
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/450>, abgerufen am 23.07.2024.