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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

unberechtigte Folgerung, das; sie den Kommunismus vorbereiteten; weit entfernt
davon, das Eigentumsrecht aufzuheben, stützen und befestigen es die zeitgemäßen
Beschränkungen.

Unter diesen ist nun eine dein französischen Recht eigentümliche, die den meisten
Lesern unbekannt sein wird, deren Erörterung bei Joures deshalb eine Bereicherung
unsers Wissens bedeutet. Der Voclv eivil beschränkt nicht allein das Recht der
testamentarischer Verfügung zu Gunsten der Pflichterben sehr stark, sondern bestimmt
auch u. ni. in Artikel 913: "Schenkungen unter Lebenden und durch Testament
dürfen nicht die Hälfte des Vermögens des Verfügenden übersteigen, wenn dieser
bei seinem Ableben ein eheliches Kind hinterläßt, nicht den dritten Teil, wenn er
zwei, nicht den vierten Teil, wenn er drei oder mehr Kinder hinterläßt." Nach
Artikel 960 gelten Schenkungen als widerrufen, wenn dem Geschenkgeber nach¬
träglich, vielleicht erst nach seinem Tode, ein Kind geboren wird, das die Schenkung
ungesetzlich macht. Die Gesetze des Konvents waren noch weiter gegangen; die
Führer der Revolution wollten, wie Innres erzählt, reaktionären Vätern die Mög¬
lichkeit nehmen, fortschrittlich gesinnte Kinder mit der Enterbung zu schrecken oder
zu strafen. Ähnliche Bestimmungen wie der Loäo vivit enthält ja auch unser Bürger¬
liches Gesetzbuch, aber der § 2333 läßt die Enterbung des Pflichterben in fünf Fällen
zu, und der fünfte Fall: "wenn der Abkömmling einen ehrlosen oder unsittlichen Lebens¬
wandel wider den Willen des Erblassers führt," könnte vielleicht politisch ausgenutzt
werden, indem der Richter z. B. die Teilnahme eines Adlichen an sozialdemokratischen
oder anarchistischen Bestrebungen als Verzicht auf die Stnndesehre gelten ließe.

Das zweite Interessante ist der Nachweis, daß much Liebknecht, der wilde
Mann, im geheimen Revisionist gewesen ist und die revolutionäre Phrase verlacht
hat. Es geht das ans einem 1881 begonnenen Manuskript hervor, von dem nach
seinem Tode der Vorwärts Bruchstücke veröffentlicht hat. Man sieht ans diesen
Bruchstücken, daß er ganz vernünftig zu denken vermochte. Von seiner Vernunft
öffentlich Gebrauch zu machen, namentlich als Redakteur des Vorwärts, hat er, wie
es scheint, nicht die Courage gehabt. Der Vorwärts war auch unter seiner Leitung
(abgesehen von der Berichterstattung, die immer so manches bringt, was man ander¬
wärts nicht findet, und die darum beachtet werden will) nur das ewige Echo der
"revolutionären Schaumphrasen dieser Theaterfanatiker des Klassenkampfes," wie
er das in seinem Manuskript nennt. In diesem ist es ihm vorzugsweise darum
zu tun, die postHumen Leser davon zu überzeugen, daß die Sozinldemokratie keine
Aussicht hat, ihr Ideal zu verwirklichen, so lange sie eine Partei der Lohnarbeiter
bleibt, deun, wie er richtig bemerkt, was nicht die Masse des Volkes will, was nur
ein mäßiger Bruchteil will, das geschieht nicht; wenn also die Sozialdemokratie
siegen soll, so müssen auch die übrigen Volksklassen an sie glauben lernen. Daß
Liebknecht dies für möglich hielt, zwingt uns, das ihm oben erteilte Lob der Ver¬
nünftigkeit wieder ein wenig einzuschränken. Wie weit die bürgerlichen Klassen davon
entfernt find, sich für die Sozialdemokratie gewinnen zu lassen, und wie ohnmächtig
infolgedessen die Arbeiterklasse bleibt, hat soeben wieder der klägliche Verlauf des
Generalstreiks in Holland gelehrt.

Das dritte Interessante sind die Äußerungen des Franzosen über die Taktik
der ministeriellen Gruppe. Wenn man in dem Frankreich Rothschilds Minister
werden will, darf man sich natürlich nicht als Kapitalistenfresser gebärden, darf man
nicht alle Leute, die keine Lohnarbeiter sind, für eine einzige verdammungswürdige
reaktionäre Masse erklären, und muß man mit der zur Zeit herrschenden bürger¬
lichen Linken gute Freundschaft halten. Soweit ergibt sich die Haltung der
Ministeriellen aus ihrer Lage und aus den nächsten persönlichen Zielen ihrer Führer
ohne weiteres. Nicht ganz so selbstverständlich ist es, daß sie in der Drehfns-
kampagne und im Klosterherren die Führung übernommen haben, aber vermuten ließ
sich der Grund, und einige Äußerungen des bläulich angelaufnen roten Diplomaten
zeigen deutlich genug, wie richtig wir vermutet haben. Gewiß würde sich anch eine
konservativ-nionarchische Regierung genötigt sehen, im Interesse der leiblichen und


Maßgebliches und Unmaßgebliches

unberechtigte Folgerung, das; sie den Kommunismus vorbereiteten; weit entfernt
davon, das Eigentumsrecht aufzuheben, stützen und befestigen es die zeitgemäßen
Beschränkungen.

Unter diesen ist nun eine dein französischen Recht eigentümliche, die den meisten
Lesern unbekannt sein wird, deren Erörterung bei Joures deshalb eine Bereicherung
unsers Wissens bedeutet. Der Voclv eivil beschränkt nicht allein das Recht der
testamentarischer Verfügung zu Gunsten der Pflichterben sehr stark, sondern bestimmt
auch u. ni. in Artikel 913: „Schenkungen unter Lebenden und durch Testament
dürfen nicht die Hälfte des Vermögens des Verfügenden übersteigen, wenn dieser
bei seinem Ableben ein eheliches Kind hinterläßt, nicht den dritten Teil, wenn er
zwei, nicht den vierten Teil, wenn er drei oder mehr Kinder hinterläßt." Nach
Artikel 960 gelten Schenkungen als widerrufen, wenn dem Geschenkgeber nach¬
träglich, vielleicht erst nach seinem Tode, ein Kind geboren wird, das die Schenkung
ungesetzlich macht. Die Gesetze des Konvents waren noch weiter gegangen; die
Führer der Revolution wollten, wie Innres erzählt, reaktionären Vätern die Mög¬
lichkeit nehmen, fortschrittlich gesinnte Kinder mit der Enterbung zu schrecken oder
zu strafen. Ähnliche Bestimmungen wie der Loäo vivit enthält ja auch unser Bürger¬
liches Gesetzbuch, aber der § 2333 läßt die Enterbung des Pflichterben in fünf Fällen
zu, und der fünfte Fall: „wenn der Abkömmling einen ehrlosen oder unsittlichen Lebens¬
wandel wider den Willen des Erblassers führt," könnte vielleicht politisch ausgenutzt
werden, indem der Richter z. B. die Teilnahme eines Adlichen an sozialdemokratischen
oder anarchistischen Bestrebungen als Verzicht auf die Stnndesehre gelten ließe.

Das zweite Interessante ist der Nachweis, daß much Liebknecht, der wilde
Mann, im geheimen Revisionist gewesen ist und die revolutionäre Phrase verlacht
hat. Es geht das ans einem 1881 begonnenen Manuskript hervor, von dem nach
seinem Tode der Vorwärts Bruchstücke veröffentlicht hat. Man sieht ans diesen
Bruchstücken, daß er ganz vernünftig zu denken vermochte. Von seiner Vernunft
öffentlich Gebrauch zu machen, namentlich als Redakteur des Vorwärts, hat er, wie
es scheint, nicht die Courage gehabt. Der Vorwärts war auch unter seiner Leitung
(abgesehen von der Berichterstattung, die immer so manches bringt, was man ander¬
wärts nicht findet, und die darum beachtet werden will) nur das ewige Echo der
„revolutionären Schaumphrasen dieser Theaterfanatiker des Klassenkampfes," wie
er das in seinem Manuskript nennt. In diesem ist es ihm vorzugsweise darum
zu tun, die postHumen Leser davon zu überzeugen, daß die Sozinldemokratie keine
Aussicht hat, ihr Ideal zu verwirklichen, so lange sie eine Partei der Lohnarbeiter
bleibt, deun, wie er richtig bemerkt, was nicht die Masse des Volkes will, was nur
ein mäßiger Bruchteil will, das geschieht nicht; wenn also die Sozialdemokratie
siegen soll, so müssen auch die übrigen Volksklassen an sie glauben lernen. Daß
Liebknecht dies für möglich hielt, zwingt uns, das ihm oben erteilte Lob der Ver¬
nünftigkeit wieder ein wenig einzuschränken. Wie weit die bürgerlichen Klassen davon
entfernt find, sich für die Sozialdemokratie gewinnen zu lassen, und wie ohnmächtig
infolgedessen die Arbeiterklasse bleibt, hat soeben wieder der klägliche Verlauf des
Generalstreiks in Holland gelehrt.

Das dritte Interessante sind die Äußerungen des Franzosen über die Taktik
der ministeriellen Gruppe. Wenn man in dem Frankreich Rothschilds Minister
werden will, darf man sich natürlich nicht als Kapitalistenfresser gebärden, darf man
nicht alle Leute, die keine Lohnarbeiter sind, für eine einzige verdammungswürdige
reaktionäre Masse erklären, und muß man mit der zur Zeit herrschenden bürger¬
lichen Linken gute Freundschaft halten. Soweit ergibt sich die Haltung der
Ministeriellen aus ihrer Lage und aus den nächsten persönlichen Zielen ihrer Führer
ohne weiteres. Nicht ganz so selbstverständlich ist es, daß sie in der Drehfns-
kampagne und im Klosterherren die Führung übernommen haben, aber vermuten ließ
sich der Grund, und einige Äußerungen des bläulich angelaufnen roten Diplomaten
zeigen deutlich genug, wie richtig wir vermutet haben. Gewiß würde sich anch eine
konservativ-nionarchische Regierung genötigt sehen, im Interesse der leiblichen und


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[0434] Maßgebliches und Unmaßgebliches unberechtigte Folgerung, das; sie den Kommunismus vorbereiteten; weit entfernt davon, das Eigentumsrecht aufzuheben, stützen und befestigen es die zeitgemäßen Beschränkungen. Unter diesen ist nun eine dein französischen Recht eigentümliche, die den meisten Lesern unbekannt sein wird, deren Erörterung bei Joures deshalb eine Bereicherung unsers Wissens bedeutet. Der Voclv eivil beschränkt nicht allein das Recht der testamentarischer Verfügung zu Gunsten der Pflichterben sehr stark, sondern bestimmt auch u. ni. in Artikel 913: „Schenkungen unter Lebenden und durch Testament dürfen nicht die Hälfte des Vermögens des Verfügenden übersteigen, wenn dieser bei seinem Ableben ein eheliches Kind hinterläßt, nicht den dritten Teil, wenn er zwei, nicht den vierten Teil, wenn er drei oder mehr Kinder hinterläßt." Nach Artikel 960 gelten Schenkungen als widerrufen, wenn dem Geschenkgeber nach¬ träglich, vielleicht erst nach seinem Tode, ein Kind geboren wird, das die Schenkung ungesetzlich macht. Die Gesetze des Konvents waren noch weiter gegangen; die Führer der Revolution wollten, wie Innres erzählt, reaktionären Vätern die Mög¬ lichkeit nehmen, fortschrittlich gesinnte Kinder mit der Enterbung zu schrecken oder zu strafen. Ähnliche Bestimmungen wie der Loäo vivit enthält ja auch unser Bürger¬ liches Gesetzbuch, aber der § 2333 läßt die Enterbung des Pflichterben in fünf Fällen zu, und der fünfte Fall: „wenn der Abkömmling einen ehrlosen oder unsittlichen Lebens¬ wandel wider den Willen des Erblassers führt," könnte vielleicht politisch ausgenutzt werden, indem der Richter z. B. die Teilnahme eines Adlichen an sozialdemokratischen oder anarchistischen Bestrebungen als Verzicht auf die Stnndesehre gelten ließe. Das zweite Interessante ist der Nachweis, daß much Liebknecht, der wilde Mann, im geheimen Revisionist gewesen ist und die revolutionäre Phrase verlacht hat. Es geht das ans einem 1881 begonnenen Manuskript hervor, von dem nach seinem Tode der Vorwärts Bruchstücke veröffentlicht hat. Man sieht ans diesen Bruchstücken, daß er ganz vernünftig zu denken vermochte. Von seiner Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen, namentlich als Redakteur des Vorwärts, hat er, wie es scheint, nicht die Courage gehabt. Der Vorwärts war auch unter seiner Leitung (abgesehen von der Berichterstattung, die immer so manches bringt, was man ander¬ wärts nicht findet, und die darum beachtet werden will) nur das ewige Echo der „revolutionären Schaumphrasen dieser Theaterfanatiker des Klassenkampfes," wie er das in seinem Manuskript nennt. In diesem ist es ihm vorzugsweise darum zu tun, die postHumen Leser davon zu überzeugen, daß die Sozinldemokratie keine Aussicht hat, ihr Ideal zu verwirklichen, so lange sie eine Partei der Lohnarbeiter bleibt, deun, wie er richtig bemerkt, was nicht die Masse des Volkes will, was nur ein mäßiger Bruchteil will, das geschieht nicht; wenn also die Sozialdemokratie siegen soll, so müssen auch die übrigen Volksklassen an sie glauben lernen. Daß Liebknecht dies für möglich hielt, zwingt uns, das ihm oben erteilte Lob der Ver¬ nünftigkeit wieder ein wenig einzuschränken. Wie weit die bürgerlichen Klassen davon entfernt find, sich für die Sozialdemokratie gewinnen zu lassen, und wie ohnmächtig infolgedessen die Arbeiterklasse bleibt, hat soeben wieder der klägliche Verlauf des Generalstreiks in Holland gelehrt. Das dritte Interessante sind die Äußerungen des Franzosen über die Taktik der ministeriellen Gruppe. Wenn man in dem Frankreich Rothschilds Minister werden will, darf man sich natürlich nicht als Kapitalistenfresser gebärden, darf man nicht alle Leute, die keine Lohnarbeiter sind, für eine einzige verdammungswürdige reaktionäre Masse erklären, und muß man mit der zur Zeit herrschenden bürger¬ lichen Linken gute Freundschaft halten. Soweit ergibt sich die Haltung der Ministeriellen aus ihrer Lage und aus den nächsten persönlichen Zielen ihrer Führer ohne weiteres. Nicht ganz so selbstverständlich ist es, daß sie in der Drehfns- kampagne und im Klosterherren die Führung übernommen haben, aber vermuten ließ sich der Grund, und einige Äußerungen des bläulich angelaufnen roten Diplomaten zeigen deutlich genug, wie richtig wir vermutet haben. Gewiß würde sich anch eine konservativ-nionarchische Regierung genötigt sehen, im Interesse der leiblichen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/434>, abgerufen am 24.07.2024.