Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Mann'rinnt,.'

Vorstufen but, ">as also fortschreiten kann und wirtlich fortschreitet, das sind
die methodische Anhäufung von Kenntnissen und von Fertigkeiten, also die
Wissenschaft und die Technik. Daß dieser methodische Fortschritt nur bei den
sogenannten Kulturvölkern gefunden wird, macht nun allerdings eine der
Eigentümlichkeiten ihrer Kultur aus, und nur insofern, als es auch für sie eine
Zeit gegeben hat, wo sie sich in die Bahn dieses methodischen Fortschritts
noch nicht hineingefunden hatten, kaun man das höchst uneigentlich sogenannte
Naturleben als eine Vorstufe der höher" Kultur ansehe". Aber auch auf jener
Vorstufe, z. B. ii" Zeitalter Homers, in der germanischen Vorzeit und im
christlichen Mittelalter, kann man die europäische Eigentümlichkeit von der der
Neger oder der Indianer deutlich unterscheiden.

Wir haben diese Fragen einmal ausführlicher besprochen im Anschluß ein
Ratzels Völkerkunde (im ersten Bande des Jahrgangs 1898 der Grenzboten
S. 193). Hier fügen wir nnr noch eine Bemerkung über das Freiheitsprvblem
an. Wir finden auch bei einem Blick ans die Familienverhältnisse und die
Mminerlmnde der Naturvölker unsre Ausicht bestätigt, daß die Freiheit im
ganzen weder Fortschritte noch Rückschritte macht, sondern nur durch immer
neue Bindungen und Lösungen, immer neue Verteilnngen des Drucks der
sozialen Fesseln fortwährend Wandlungen erleidet. Eduard von Hartmanns
Formel, daß mit fortschreitender Kultur die Abhängigkeit des Mensche" von
der Natur alrnehme, die Abhängigkeit von? Menschen wachse, kau" man in
beiden Gliedern nnr mit vielen Einschränkungen als richtig anerkennen. So
steigert sich zwar z. B. mit den Verwicklungen unsrer heutigen Kultur die
wirtschaftliche Abhängigkeit, aber auf den Gebieten, mit denen sich das vor¬
liegende Buch beschäftigt, ist der Kulturmensch viel freier als der sogenannte
Wilde, der viel mehr einem mit Kandare und Trense gemißhandelte" als einem
frei schweifenden Gaule gleicht. Beim modernen Europäer hängt es zu einem
großen Teile von seinem freien Willen ab, in welchem Grade er sich -- es
geschieht meist ans Eitelkeit -- zum Sklaven der Sitte oder Mode machen
will. Dem schwarzen, dem braunen Menschen läßt die tyrannische Sitte fast
gar keine Freiheit übrig. Sie unterwirft ihn körperlichen Peinigungen, sie
beschränkt die Auswahl der Gattin aufs äußerste, sie legt ihm ein Zeremoniell
auf, das ihn Personen gewisser Verwandtschaftsgrade anzuschauen verbietet,
sie weist ihm seine Lagerstatt an, sie verbietet ihm bei manchen Völkern, in
einer Hütte zu schlafen, wo ein Weib schläft, sie zwingt die Geschlechter, ihre
Mahlzeiten gesondert einzunehmen, oder macht Wohl gnr das Essen zu einem
schimpflichen Akt, sodaß mau sich schon schämen muß, einen andern essen zu
sehen, namentlich aber einen Häuptling bei Todesstrafe nicht essen sehen darf.
Der Kulturmensch kann in weit höherm Grade seine Lebensführung unes
eignem Belieben einrichten.




'Lnmzboten II 19V3S1
Mann'rinnt,.'

Vorstufen but, »>as also fortschreiten kann und wirtlich fortschreitet, das sind
die methodische Anhäufung von Kenntnissen und von Fertigkeiten, also die
Wissenschaft und die Technik. Daß dieser methodische Fortschritt nur bei den
sogenannten Kulturvölkern gefunden wird, macht nun allerdings eine der
Eigentümlichkeiten ihrer Kultur aus, und nur insofern, als es auch für sie eine
Zeit gegeben hat, wo sie sich in die Bahn dieses methodischen Fortschritts
noch nicht hineingefunden hatten, kaun man das höchst uneigentlich sogenannte
Naturleben als eine Vorstufe der höher» Kultur ansehe». Aber auch auf jener
Vorstufe, z. B. ii» Zeitalter Homers, in der germanischen Vorzeit und im
christlichen Mittelalter, kann man die europäische Eigentümlichkeit von der der
Neger oder der Indianer deutlich unterscheiden.

Wir haben diese Fragen einmal ausführlicher besprochen im Anschluß ein
Ratzels Völkerkunde (im ersten Bande des Jahrgangs 1898 der Grenzboten
S. 193). Hier fügen wir nnr noch eine Bemerkung über das Freiheitsprvblem
an. Wir finden auch bei einem Blick ans die Familienverhältnisse und die
Mminerlmnde der Naturvölker unsre Ausicht bestätigt, daß die Freiheit im
ganzen weder Fortschritte noch Rückschritte macht, sondern nur durch immer
neue Bindungen und Lösungen, immer neue Verteilnngen des Drucks der
sozialen Fesseln fortwährend Wandlungen erleidet. Eduard von Hartmanns
Formel, daß mit fortschreitender Kultur die Abhängigkeit des Mensche» von
der Natur alrnehme, die Abhängigkeit von? Menschen wachse, kau» man in
beiden Gliedern nnr mit vielen Einschränkungen als richtig anerkennen. So
steigert sich zwar z. B. mit den Verwicklungen unsrer heutigen Kultur die
wirtschaftliche Abhängigkeit, aber auf den Gebieten, mit denen sich das vor¬
liegende Buch beschäftigt, ist der Kulturmensch viel freier als der sogenannte
Wilde, der viel mehr einem mit Kandare und Trense gemißhandelte» als einem
frei schweifenden Gaule gleicht. Beim modernen Europäer hängt es zu einem
großen Teile von seinem freien Willen ab, in welchem Grade er sich — es
geschieht meist ans Eitelkeit — zum Sklaven der Sitte oder Mode machen
will. Dem schwarzen, dem braunen Menschen läßt die tyrannische Sitte fast
gar keine Freiheit übrig. Sie unterwirft ihn körperlichen Peinigungen, sie
beschränkt die Auswahl der Gattin aufs äußerste, sie legt ihm ein Zeremoniell
auf, das ihn Personen gewisser Verwandtschaftsgrade anzuschauen verbietet,
sie weist ihm seine Lagerstatt an, sie verbietet ihm bei manchen Völkern, in
einer Hütte zu schlafen, wo ein Weib schläft, sie zwingt die Geschlechter, ihre
Mahlzeiten gesondert einzunehmen, oder macht Wohl gnr das Essen zu einem
schimpflichen Akt, sodaß mau sich schon schämen muß, einen andern essen zu
sehen, namentlich aber einen Häuptling bei Todesstrafe nicht essen sehen darf.
Der Kulturmensch kann in weit höherm Grade seine Lebensführung unes
eignem Belieben einrichten.




'Lnmzboten II 19V3S1
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0389" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/240771"/>
          <fw type="header" place="top"> Mann'rinnt,.'</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1974" prev="#ID_1973"> Vorstufen but, »&gt;as also fortschreiten kann und wirtlich fortschreitet, das sind<lb/>
die methodische Anhäufung von Kenntnissen und von Fertigkeiten, also die<lb/>
Wissenschaft und die Technik. Daß dieser methodische Fortschritt nur bei den<lb/>
sogenannten Kulturvölkern gefunden wird, macht nun allerdings eine der<lb/>
Eigentümlichkeiten ihrer Kultur aus, und nur insofern, als es auch für sie eine<lb/>
Zeit gegeben hat, wo sie sich in die Bahn dieses methodischen Fortschritts<lb/>
noch nicht hineingefunden hatten, kaun man das höchst uneigentlich sogenannte<lb/>
Naturleben als eine Vorstufe der höher» Kultur ansehe». Aber auch auf jener<lb/>
Vorstufe, z. B. ii» Zeitalter Homers, in der germanischen Vorzeit und im<lb/>
christlichen Mittelalter, kann man die europäische Eigentümlichkeit von der der<lb/>
Neger oder der Indianer deutlich unterscheiden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1975"> Wir haben diese Fragen einmal ausführlicher besprochen im Anschluß ein<lb/>
Ratzels Völkerkunde (im ersten Bande des Jahrgangs 1898 der Grenzboten<lb/>
S. 193). Hier fügen wir nnr noch eine Bemerkung über das Freiheitsprvblem<lb/>
an. Wir finden auch bei einem Blick ans die Familienverhältnisse und die<lb/>
Mminerlmnde der Naturvölker unsre Ausicht bestätigt, daß die Freiheit im<lb/>
ganzen weder Fortschritte noch Rückschritte macht, sondern nur durch immer<lb/>
neue Bindungen und Lösungen, immer neue Verteilnngen des Drucks der<lb/>
sozialen Fesseln fortwährend Wandlungen erleidet. Eduard von Hartmanns<lb/>
Formel, daß mit fortschreitender Kultur die Abhängigkeit des Mensche» von<lb/>
der Natur alrnehme, die Abhängigkeit von? Menschen wachse, kau» man in<lb/>
beiden Gliedern nnr mit vielen Einschränkungen als richtig anerkennen. So<lb/>
steigert sich zwar z. B. mit den Verwicklungen unsrer heutigen Kultur die<lb/>
wirtschaftliche Abhängigkeit, aber auf den Gebieten, mit denen sich das vor¬<lb/>
liegende Buch beschäftigt, ist der Kulturmensch viel freier als der sogenannte<lb/>
Wilde, der viel mehr einem mit Kandare und Trense gemißhandelte» als einem<lb/>
frei schweifenden Gaule gleicht. Beim modernen Europäer hängt es zu einem<lb/>
großen Teile von seinem freien Willen ab, in welchem Grade er sich &#x2014; es<lb/>
geschieht meist ans Eitelkeit &#x2014; zum Sklaven der Sitte oder Mode machen<lb/>
will. Dem schwarzen, dem braunen Menschen läßt die tyrannische Sitte fast<lb/>
gar keine Freiheit übrig. Sie unterwirft ihn körperlichen Peinigungen, sie<lb/>
beschränkt die Auswahl der Gattin aufs äußerste, sie legt ihm ein Zeremoniell<lb/>
auf, das ihn Personen gewisser Verwandtschaftsgrade anzuschauen verbietet,<lb/>
sie weist ihm seine Lagerstatt an, sie verbietet ihm bei manchen Völkern, in<lb/>
einer Hütte zu schlafen, wo ein Weib schläft, sie zwingt die Geschlechter, ihre<lb/>
Mahlzeiten gesondert einzunehmen, oder macht Wohl gnr das Essen zu einem<lb/>
schimpflichen Akt, sodaß mau sich schon schämen muß, einen andern essen zu<lb/>
sehen, namentlich aber einen Häuptling bei Todesstrafe nicht essen sehen darf.<lb/>
Der Kulturmensch kann in weit höherm Grade seine Lebensführung unes<lb/>
eignem Belieben einrichten.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 'Lnmzboten II 19V3S1</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0389] Mann'rinnt,.' Vorstufen but, »>as also fortschreiten kann und wirtlich fortschreitet, das sind die methodische Anhäufung von Kenntnissen und von Fertigkeiten, also die Wissenschaft und die Technik. Daß dieser methodische Fortschritt nur bei den sogenannten Kulturvölkern gefunden wird, macht nun allerdings eine der Eigentümlichkeiten ihrer Kultur aus, und nur insofern, als es auch für sie eine Zeit gegeben hat, wo sie sich in die Bahn dieses methodischen Fortschritts noch nicht hineingefunden hatten, kaun man das höchst uneigentlich sogenannte Naturleben als eine Vorstufe der höher» Kultur ansehe». Aber auch auf jener Vorstufe, z. B. ii» Zeitalter Homers, in der germanischen Vorzeit und im christlichen Mittelalter, kann man die europäische Eigentümlichkeit von der der Neger oder der Indianer deutlich unterscheiden. Wir haben diese Fragen einmal ausführlicher besprochen im Anschluß ein Ratzels Völkerkunde (im ersten Bande des Jahrgangs 1898 der Grenzboten S. 193). Hier fügen wir nnr noch eine Bemerkung über das Freiheitsprvblem an. Wir finden auch bei einem Blick ans die Familienverhältnisse und die Mminerlmnde der Naturvölker unsre Ausicht bestätigt, daß die Freiheit im ganzen weder Fortschritte noch Rückschritte macht, sondern nur durch immer neue Bindungen und Lösungen, immer neue Verteilnngen des Drucks der sozialen Fesseln fortwährend Wandlungen erleidet. Eduard von Hartmanns Formel, daß mit fortschreitender Kultur die Abhängigkeit des Mensche» von der Natur alrnehme, die Abhängigkeit von? Menschen wachse, kau» man in beiden Gliedern nnr mit vielen Einschränkungen als richtig anerkennen. So steigert sich zwar z. B. mit den Verwicklungen unsrer heutigen Kultur die wirtschaftliche Abhängigkeit, aber auf den Gebieten, mit denen sich das vor¬ liegende Buch beschäftigt, ist der Kulturmensch viel freier als der sogenannte Wilde, der viel mehr einem mit Kandare und Trense gemißhandelte» als einem frei schweifenden Gaule gleicht. Beim modernen Europäer hängt es zu einem großen Teile von seinem freien Willen ab, in welchem Grade er sich — es geschieht meist ans Eitelkeit — zum Sklaven der Sitte oder Mode machen will. Dem schwarzen, dem braunen Menschen läßt die tyrannische Sitte fast gar keine Freiheit übrig. Sie unterwirft ihn körperlichen Peinigungen, sie beschränkt die Auswahl der Gattin aufs äußerste, sie legt ihm ein Zeremoniell auf, das ihn Personen gewisser Verwandtschaftsgrade anzuschauen verbietet, sie weist ihm seine Lagerstatt an, sie verbietet ihm bei manchen Völkern, in einer Hütte zu schlafen, wo ein Weib schläft, sie zwingt die Geschlechter, ihre Mahlzeiten gesondert einzunehmen, oder macht Wohl gnr das Essen zu einem schimpflichen Akt, sodaß mau sich schon schämen muß, einen andern essen zu sehen, namentlich aber einen Häuptling bei Todesstrafe nicht essen sehen darf. Der Kulturmensch kann in weit höherm Grade seine Lebensführung unes eignem Belieben einrichten. 'Lnmzboten II 19V3S1

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/389
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/389>, abgerufen am 26.08.2024.