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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Hin Lazarett

die Spitze seiner Truppen stelle, die er zu leiten habe, mit seinem Leben die beste
Karte ausspiele, die er bis zuletzt in der Hand behalten sollte. Was ist nun seine
Truppe ohne ihn, wenn er fällt? Ihm muß der Mut anerzogen sein, sich nicht
auszusetzen. Der Tod aus der Bresche, der für den Soldaten der höchste ist, ist
für ihn viel zu billig! -- Also, sagten nur, zieht er vor, im Bett zu sterben.

Wenn wir von einer Höhe zurücksahen, sah ein Regiment im Marsch wie eine
Kette von Schafherden aus; der Unteroffizier, ein Studierter, sagte: Wie eine Schlange,
die sich in ihre Glieder auflöst. Mir war dieser Anblick doppelt unangenehm, denn
ich wußte, daß eine Herde Schafe ordentlicher beisammen bleibt. Da sah man, daß
jeder Einzelne eine andre Richtung und ein andres Tempo angenommen haben
würde, wenn nicht der Trieb zu leben einen an den andern gefesselt hätte. Aber
dieser Trieb genügt nicht ster die äußersten Fälle, in denen es sich zeigte, daß wir
kein Vertrauen zu unsern Führern hatten. Wir merkten bei jedem anstrengenden
Marsche, daß die Maschine zu neu war, die Teile stießen einander, wenn man sie
in Betrieb setzte, ein Rad rieb sich am andern. Die Soldaten erzählten sich, daß
Chcmzy weder obere noch untere Offiziere an den Stellen bei den Vorposten angetroffen
habe, die er ihnen zugewiesen hätte. Je mehr solche Dinge umliefen, desto lockrer
wurde der Zusammenhalt der Herde. Mangel an Vertrauen ist eine Krankheit des
Herzens, die lahmt und schwächt. Als unser Major eines Tages mit einer neuen
Rosette im Knopfloch, die ihm eben verliehen worden war, vor die Front trat, ging
ein lautes Hohnlachen durch die Reihen. Man fragte: Wo hat der Philosoph das
verdient? Es war vergeblich, daß man die Gendarmerie vermehrte, um am Schlacht¬
tag die Ausreißer durch eine Postenkette hinter der Front aufzuhalten. Chanzy
wußte, wie die nahe Stadt die Sehnsucht nach Zimmern, Betten, beleuchteten Straßen,
die entfernte Hoffnung anf besseres Essen und Trinken, auf geflickte Kleider und
ueubesohlte Schuhe erweckte; er soll sogar beabsichtigt haben, im Falle der Schlacht
die Brücke abzubrechen, um den Rückzug in die Stadt unmöglich zu machen, der
vielen als das willkommenste Ende des Krieges erschien.

Im Januar kam der Feind näher; wir sahen ihn nicht, aber es hieß, er sei
mir noch einen Tag entfernt. Doch kamen wir nicht gleich mit ihm in Berührung.
Wir hörten in der Ferne die Geschütze donnern, sahen Verwundete, die zurück¬
transportiert wurden, und ließen todmüde und ausgehungerte Regimenter an uns
vorüberziehn, die rückwärts verlegt wurden, weil sie entmutigt waren. So wird
es uns auch eines Tags gehn! An einem Morgen nahmen wir eine Stellung
hinter den breiten Höhen vor Le Mans ein. Das Wetter war schlecht, die Erde
weich. Das Bataillon wurde auseinandergezogen, die Sektionen postierten sich
hinter Deckungen. Der Major zeigte uns die Richtung, woher der Feind kommen
mußte, und sagte, von unserm Festhalten hinge das Schicksal von Le Mans ab.
Was kümmerte uns Le Mans, das wir bisher nicht einmal betreten dursten? Nie¬
mand begriff, warum wir gerade hier kämpfen sollten. Wir kamen an diesem Tage
nicht nahe an den Feind, und doch hieß es: Wir haben die Schlacht gewonnen.
Welche Schlacht? Nun, diese. Keiner war, der sich eine Schlacht so gedacht hätte:
Marschieren, Stehn, Marschiere", Liegen, einige Granaten, Aufspringen, wieder
Marschieren. Wo war der Elan, wo das Vordringen? Geduld, Schweigen war die
Tugend, die gefordert wurde. Das Fragen hatte man längst vergessen, denn niemand
wußte etwas.

Die schwarzen Schlangen, die dort in die fahle Dämmerung hiueinziehn, immer
breiter zusammenfließend, das ist der Feind? Das einzige, was wir von ihm gesehen
haben! Wir folgen ihm nicht, wir bleiben stehn, wir legen uns in die nassen Furchen,
wo gerade keine Pfütze stand. Wenn wir gewußt hätte", daß sei" Rückzug nur ein
Ausholen zum Stoß mit stärkern Kräften war, würden wir weniger ruhig geschlafen
haben. Am dunkeln Frühmorgen wurden wir alarmiert, es war noch kein Schimmer
von Dämmerung am Himmel, keiner sah den andern. Unsre Führer waren Stimmen
ohne Gesicht und Gestalt, Kommandorufe, denen man in der schwarzen Dunkelheit


Grenzboten II 1903
Hin Lazarett

die Spitze seiner Truppen stelle, die er zu leiten habe, mit seinem Leben die beste
Karte ausspiele, die er bis zuletzt in der Hand behalten sollte. Was ist nun seine
Truppe ohne ihn, wenn er fällt? Ihm muß der Mut anerzogen sein, sich nicht
auszusetzen. Der Tod aus der Bresche, der für den Soldaten der höchste ist, ist
für ihn viel zu billig! — Also, sagten nur, zieht er vor, im Bett zu sterben.

Wenn wir von einer Höhe zurücksahen, sah ein Regiment im Marsch wie eine
Kette von Schafherden aus; der Unteroffizier, ein Studierter, sagte: Wie eine Schlange,
die sich in ihre Glieder auflöst. Mir war dieser Anblick doppelt unangenehm, denn
ich wußte, daß eine Herde Schafe ordentlicher beisammen bleibt. Da sah man, daß
jeder Einzelne eine andre Richtung und ein andres Tempo angenommen haben
würde, wenn nicht der Trieb zu leben einen an den andern gefesselt hätte. Aber
dieser Trieb genügt nicht ster die äußersten Fälle, in denen es sich zeigte, daß wir
kein Vertrauen zu unsern Führern hatten. Wir merkten bei jedem anstrengenden
Marsche, daß die Maschine zu neu war, die Teile stießen einander, wenn man sie
in Betrieb setzte, ein Rad rieb sich am andern. Die Soldaten erzählten sich, daß
Chcmzy weder obere noch untere Offiziere an den Stellen bei den Vorposten angetroffen
habe, die er ihnen zugewiesen hätte. Je mehr solche Dinge umliefen, desto lockrer
wurde der Zusammenhalt der Herde. Mangel an Vertrauen ist eine Krankheit des
Herzens, die lahmt und schwächt. Als unser Major eines Tages mit einer neuen
Rosette im Knopfloch, die ihm eben verliehen worden war, vor die Front trat, ging
ein lautes Hohnlachen durch die Reihen. Man fragte: Wo hat der Philosoph das
verdient? Es war vergeblich, daß man die Gendarmerie vermehrte, um am Schlacht¬
tag die Ausreißer durch eine Postenkette hinter der Front aufzuhalten. Chanzy
wußte, wie die nahe Stadt die Sehnsucht nach Zimmern, Betten, beleuchteten Straßen,
die entfernte Hoffnung anf besseres Essen und Trinken, auf geflickte Kleider und
ueubesohlte Schuhe erweckte; er soll sogar beabsichtigt haben, im Falle der Schlacht
die Brücke abzubrechen, um den Rückzug in die Stadt unmöglich zu machen, der
vielen als das willkommenste Ende des Krieges erschien.

Im Januar kam der Feind näher; wir sahen ihn nicht, aber es hieß, er sei
mir noch einen Tag entfernt. Doch kamen wir nicht gleich mit ihm in Berührung.
Wir hörten in der Ferne die Geschütze donnern, sahen Verwundete, die zurück¬
transportiert wurden, und ließen todmüde und ausgehungerte Regimenter an uns
vorüberziehn, die rückwärts verlegt wurden, weil sie entmutigt waren. So wird
es uns auch eines Tags gehn! An einem Morgen nahmen wir eine Stellung
hinter den breiten Höhen vor Le Mans ein. Das Wetter war schlecht, die Erde
weich. Das Bataillon wurde auseinandergezogen, die Sektionen postierten sich
hinter Deckungen. Der Major zeigte uns die Richtung, woher der Feind kommen
mußte, und sagte, von unserm Festhalten hinge das Schicksal von Le Mans ab.
Was kümmerte uns Le Mans, das wir bisher nicht einmal betreten dursten? Nie¬
mand begriff, warum wir gerade hier kämpfen sollten. Wir kamen an diesem Tage
nicht nahe an den Feind, und doch hieß es: Wir haben die Schlacht gewonnen.
Welche Schlacht? Nun, diese. Keiner war, der sich eine Schlacht so gedacht hätte:
Marschieren, Stehn, Marschiere», Liegen, einige Granaten, Aufspringen, wieder
Marschieren. Wo war der Elan, wo das Vordringen? Geduld, Schweigen war die
Tugend, die gefordert wurde. Das Fragen hatte man längst vergessen, denn niemand
wußte etwas.

Die schwarzen Schlangen, die dort in die fahle Dämmerung hiueinziehn, immer
breiter zusammenfließend, das ist der Feind? Das einzige, was wir von ihm gesehen
haben! Wir folgen ihm nicht, wir bleiben stehn, wir legen uns in die nassen Furchen,
wo gerade keine Pfütze stand. Wenn wir gewußt hätte», daß sei» Rückzug nur ein
Ausholen zum Stoß mit stärkern Kräften war, würden wir weniger ruhig geschlafen
haben. Am dunkeln Frühmorgen wurden wir alarmiert, es war noch kein Schimmer
von Dämmerung am Himmel, keiner sah den andern. Unsre Führer waren Stimmen
ohne Gesicht und Gestalt, Kommandorufe, denen man in der schwarzen Dunkelheit


Grenzboten II 1903
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[0289] Hin Lazarett die Spitze seiner Truppen stelle, die er zu leiten habe, mit seinem Leben die beste Karte ausspiele, die er bis zuletzt in der Hand behalten sollte. Was ist nun seine Truppe ohne ihn, wenn er fällt? Ihm muß der Mut anerzogen sein, sich nicht auszusetzen. Der Tod aus der Bresche, der für den Soldaten der höchste ist, ist für ihn viel zu billig! — Also, sagten nur, zieht er vor, im Bett zu sterben. Wenn wir von einer Höhe zurücksahen, sah ein Regiment im Marsch wie eine Kette von Schafherden aus; der Unteroffizier, ein Studierter, sagte: Wie eine Schlange, die sich in ihre Glieder auflöst. Mir war dieser Anblick doppelt unangenehm, denn ich wußte, daß eine Herde Schafe ordentlicher beisammen bleibt. Da sah man, daß jeder Einzelne eine andre Richtung und ein andres Tempo angenommen haben würde, wenn nicht der Trieb zu leben einen an den andern gefesselt hätte. Aber dieser Trieb genügt nicht ster die äußersten Fälle, in denen es sich zeigte, daß wir kein Vertrauen zu unsern Führern hatten. Wir merkten bei jedem anstrengenden Marsche, daß die Maschine zu neu war, die Teile stießen einander, wenn man sie in Betrieb setzte, ein Rad rieb sich am andern. Die Soldaten erzählten sich, daß Chcmzy weder obere noch untere Offiziere an den Stellen bei den Vorposten angetroffen habe, die er ihnen zugewiesen hätte. Je mehr solche Dinge umliefen, desto lockrer wurde der Zusammenhalt der Herde. Mangel an Vertrauen ist eine Krankheit des Herzens, die lahmt und schwächt. Als unser Major eines Tages mit einer neuen Rosette im Knopfloch, die ihm eben verliehen worden war, vor die Front trat, ging ein lautes Hohnlachen durch die Reihen. Man fragte: Wo hat der Philosoph das verdient? Es war vergeblich, daß man die Gendarmerie vermehrte, um am Schlacht¬ tag die Ausreißer durch eine Postenkette hinter der Front aufzuhalten. Chanzy wußte, wie die nahe Stadt die Sehnsucht nach Zimmern, Betten, beleuchteten Straßen, die entfernte Hoffnung anf besseres Essen und Trinken, auf geflickte Kleider und ueubesohlte Schuhe erweckte; er soll sogar beabsichtigt haben, im Falle der Schlacht die Brücke abzubrechen, um den Rückzug in die Stadt unmöglich zu machen, der vielen als das willkommenste Ende des Krieges erschien. Im Januar kam der Feind näher; wir sahen ihn nicht, aber es hieß, er sei mir noch einen Tag entfernt. Doch kamen wir nicht gleich mit ihm in Berührung. Wir hörten in der Ferne die Geschütze donnern, sahen Verwundete, die zurück¬ transportiert wurden, und ließen todmüde und ausgehungerte Regimenter an uns vorüberziehn, die rückwärts verlegt wurden, weil sie entmutigt waren. So wird es uns auch eines Tags gehn! An einem Morgen nahmen wir eine Stellung hinter den breiten Höhen vor Le Mans ein. Das Wetter war schlecht, die Erde weich. Das Bataillon wurde auseinandergezogen, die Sektionen postierten sich hinter Deckungen. Der Major zeigte uns die Richtung, woher der Feind kommen mußte, und sagte, von unserm Festhalten hinge das Schicksal von Le Mans ab. Was kümmerte uns Le Mans, das wir bisher nicht einmal betreten dursten? Nie¬ mand begriff, warum wir gerade hier kämpfen sollten. Wir kamen an diesem Tage nicht nahe an den Feind, und doch hieß es: Wir haben die Schlacht gewonnen. Welche Schlacht? Nun, diese. Keiner war, der sich eine Schlacht so gedacht hätte: Marschieren, Stehn, Marschiere», Liegen, einige Granaten, Aufspringen, wieder Marschieren. Wo war der Elan, wo das Vordringen? Geduld, Schweigen war die Tugend, die gefordert wurde. Das Fragen hatte man längst vergessen, denn niemand wußte etwas. Die schwarzen Schlangen, die dort in die fahle Dämmerung hiueinziehn, immer breiter zusammenfließend, das ist der Feind? Das einzige, was wir von ihm gesehen haben! Wir folgen ihm nicht, wir bleiben stehn, wir legen uns in die nassen Furchen, wo gerade keine Pfütze stand. Wenn wir gewußt hätte», daß sei» Rückzug nur ein Ausholen zum Stoß mit stärkern Kräften war, würden wir weniger ruhig geschlafen haben. Am dunkeln Frühmorgen wurden wir alarmiert, es war noch kein Schimmer von Dämmerung am Himmel, keiner sah den andern. Unsre Führer waren Stimmen ohne Gesicht und Gestalt, Kommandorufe, denen man in der schwarzen Dunkelheit Grenzboten II 1903

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/289>, abgerufen am 28.08.2024.