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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Im Lazarett

Wirtshaus Most trinken. Alles schaut ihn so freundlich, so glücklich an, er hat das
Gefühl, als winkten sie ihn mit den freundlichen Augen zu sich hin, und den Tod hat
er vergessen, wollte nur noch gern sein, wo es so hell und schön, und wo alles
Vergangne und Vergängliche so gegenwärtig und so frisch war. Er beschrieb die
Schärfe und die Deutlichkeit dieser unzähligen Bilder in Linien und Farben als
etwas ganz außerordentliches. Als er sich aber ergriffen, getragen und aufgeweckt
fühlte, ohne sich doch dem Schlummer ganz entreißen zu können, schmerzte es ihn,
daß das Tor in die Ewigkeit zuging, durch das er diesen schönen Blick gewonnen
hatte. Nur eine Erinnerung aus der Wirklichkeit habe er später damit vergleiche"
mögen, nämlich den Blick in die hellerleuchteten Weihnnchtsstuben mit dem brennenden
Christbaum in seiner Kindheit.

Es wurde an diesem Abend noch von manchen Todesarten gesprochen, auch
von weniger milden. Der Lazarettgehilfe, der still, vielleicht bei manchen Er¬
zählungen zweifelnd, zugehört hatte, schilderte das ächzende, heisere Gepfeife der Luft, die
durch durchbohrte Lungenflügel zieht, für das Leben verwüstend wie ein Sturm,
an dessen Stimme dieser unheimliche Laut erinnert, und erzählte, wie ein Haupt-
mann in der Tobsucht gestorben sei, weil man ihm den Spiegel verweigert habe,
in dem er sein blatternzerfetztes Gesicht betrachten wollte. Der Theologe aber, sein
freiwilliger Gehilfe, kam noch einmal auf Erlebnisse zurück, die beweisen, daß die
Nähe des Todes gewaltige und plötzliche Veränderungen in einer Seele hervor¬
bringt, die den Tod kommen sieht. Es ist, sagte er, wie ein plötzliches Losgerissen¬
werden von der Klippe, an der sie bisher gehangen hatte, und ein Hinaufgetrageu-
werden oder Hinabgerissenwerden mit den Wellen und in den Wellen, ehe sie in
die Tiefe geht. Geisteskranke, die seit Jahren die Gegenwart nicht erkannt und
das Vergangne vollständig vergessen hatten, erwachen einen Tag, zwei Tage vor
ihrem Tode zum vollen Bewußtsein, bedauern Fehler, die sie im Zustande der
Krankheit begangen haben, beklagen die Verlornen Jahre, bereiten sich in voller
Geistesklarheit auf den Tod vor. Man hat solche Leute sagen hören: Ich werde
gesund, um mich zum Sterben vorzubereiten. Geistliche haben Beichten von einer
wunderbar klaren Erinnerung und einer tiefen Selbsterkenntnis von Sterbenden
empfangen, die vorher nicht imstande gewesen waren, eine Gedankenkette zu flechten.
Die Fiebernden, die tagelang, vielleicht wochenlang phantasiert hatten, in vielen
Fällen laut und störend, ja gewalttätig, sah man vor ihrem letzten Augenblick zu
sich kommen und bei klarem Bewußtsein ruhig sterben. Wo bin ich denn bisher ge¬
wesen? Welche dunkeln Wolken umdrnuten mich, ans denen ich keinen Ausweg fand?
Nun ist es auf einmal hell, und dieses Licht ist so mild, so wohltuend, flüstert
wohl einer von ihnen, und ein paar Augenblicke darauf geht er friedlich aus dem
Leben. Mit den Verwundeten ist es ja anders, bei ihnen, wenn sie draußen auf
dem Feld liegen und sich nicht regen und nicht rufen können, geht das Leben langsam
in einen Traum über, dem nicht selten der lange Schlaf bald folgt. Wenn sie
aber wieder erwachen und ihre Gedanken erzählen, wundert man sich, auf was für
Idee" der Mensch nicht kommt, der mit dem Vink sein Leben so langsam hin¬
strömen fühlt, und seine Glieder sind wie gelähmt, er kann den Strom nicht stillen.
Halb mag er es nicht, denn es wird immer dcimmriger, traumhafter um ihn her,
und diesen Zustand will er festhalten. So lange sein Bewußtsein noch klar ist,
schließt er den Mund, atmet so leise wie möglich, bemüht sich, nichts zu denken,
damit nicht der Körper an Kraft verliere. Es gelingt ihm vielleicht, die Gedanke"
von den fernen Dingen abzuwenden; in der Ferne mag es wohl manches geben, woran
er nun gerade nicht denken will. Aber nun berührt vielleicht Blut seine Lippen, und ein
dessen laue Süßigkeit knüpft sich sofort eine Reihe sonderbarer Gedanken. Nie ist
mir aufgefallen, daß das Blut so süß ist. Wie fade schmeckt der Lebenssaft. Das
ist gar kein Lebenssaft, das Leben ist ebenso wenig darin, wie es in dem Öl ist,
ohne daß die Maschine stille steht. Das Leben steht der Beurteilung durch unsre
Sinne zu hoch, und nun erst durch den Geschmackssinn. Da verliert sich der Go-


Grcnzbow, II 1903
Im Lazarett

Wirtshaus Most trinken. Alles schaut ihn so freundlich, so glücklich an, er hat das
Gefühl, als winkten sie ihn mit den freundlichen Augen zu sich hin, und den Tod hat
er vergessen, wollte nur noch gern sein, wo es so hell und schön, und wo alles
Vergangne und Vergängliche so gegenwärtig und so frisch war. Er beschrieb die
Schärfe und die Deutlichkeit dieser unzähligen Bilder in Linien und Farben als
etwas ganz außerordentliches. Als er sich aber ergriffen, getragen und aufgeweckt
fühlte, ohne sich doch dem Schlummer ganz entreißen zu können, schmerzte es ihn,
daß das Tor in die Ewigkeit zuging, durch das er diesen schönen Blick gewonnen
hatte. Nur eine Erinnerung aus der Wirklichkeit habe er später damit vergleiche»
mögen, nämlich den Blick in die hellerleuchteten Weihnnchtsstuben mit dem brennenden
Christbaum in seiner Kindheit.

Es wurde an diesem Abend noch von manchen Todesarten gesprochen, auch
von weniger milden. Der Lazarettgehilfe, der still, vielleicht bei manchen Er¬
zählungen zweifelnd, zugehört hatte, schilderte das ächzende, heisere Gepfeife der Luft, die
durch durchbohrte Lungenflügel zieht, für das Leben verwüstend wie ein Sturm,
an dessen Stimme dieser unheimliche Laut erinnert, und erzählte, wie ein Haupt-
mann in der Tobsucht gestorben sei, weil man ihm den Spiegel verweigert habe,
in dem er sein blatternzerfetztes Gesicht betrachten wollte. Der Theologe aber, sein
freiwilliger Gehilfe, kam noch einmal auf Erlebnisse zurück, die beweisen, daß die
Nähe des Todes gewaltige und plötzliche Veränderungen in einer Seele hervor¬
bringt, die den Tod kommen sieht. Es ist, sagte er, wie ein plötzliches Losgerissen¬
werden von der Klippe, an der sie bisher gehangen hatte, und ein Hinaufgetrageu-
werden oder Hinabgerissenwerden mit den Wellen und in den Wellen, ehe sie in
die Tiefe geht. Geisteskranke, die seit Jahren die Gegenwart nicht erkannt und
das Vergangne vollständig vergessen hatten, erwachen einen Tag, zwei Tage vor
ihrem Tode zum vollen Bewußtsein, bedauern Fehler, die sie im Zustande der
Krankheit begangen haben, beklagen die Verlornen Jahre, bereiten sich in voller
Geistesklarheit auf den Tod vor. Man hat solche Leute sagen hören: Ich werde
gesund, um mich zum Sterben vorzubereiten. Geistliche haben Beichten von einer
wunderbar klaren Erinnerung und einer tiefen Selbsterkenntnis von Sterbenden
empfangen, die vorher nicht imstande gewesen waren, eine Gedankenkette zu flechten.
Die Fiebernden, die tagelang, vielleicht wochenlang phantasiert hatten, in vielen
Fällen laut und störend, ja gewalttätig, sah man vor ihrem letzten Augenblick zu
sich kommen und bei klarem Bewußtsein ruhig sterben. Wo bin ich denn bisher ge¬
wesen? Welche dunkeln Wolken umdrnuten mich, ans denen ich keinen Ausweg fand?
Nun ist es auf einmal hell, und dieses Licht ist so mild, so wohltuend, flüstert
wohl einer von ihnen, und ein paar Augenblicke darauf geht er friedlich aus dem
Leben. Mit den Verwundeten ist es ja anders, bei ihnen, wenn sie draußen auf
dem Feld liegen und sich nicht regen und nicht rufen können, geht das Leben langsam
in einen Traum über, dem nicht selten der lange Schlaf bald folgt. Wenn sie
aber wieder erwachen und ihre Gedanken erzählen, wundert man sich, auf was für
Idee» der Mensch nicht kommt, der mit dem Vink sein Leben so langsam hin¬
strömen fühlt, und seine Glieder sind wie gelähmt, er kann den Strom nicht stillen.
Halb mag er es nicht, denn es wird immer dcimmriger, traumhafter um ihn her,
und diesen Zustand will er festhalten. So lange sein Bewußtsein noch klar ist,
schließt er den Mund, atmet so leise wie möglich, bemüht sich, nichts zu denken,
damit nicht der Körper an Kraft verliere. Es gelingt ihm vielleicht, die Gedanke»
von den fernen Dingen abzuwenden; in der Ferne mag es wohl manches geben, woran
er nun gerade nicht denken will. Aber nun berührt vielleicht Blut seine Lippen, und ein
dessen laue Süßigkeit knüpft sich sofort eine Reihe sonderbarer Gedanken. Nie ist
mir aufgefallen, daß das Blut so süß ist. Wie fade schmeckt der Lebenssaft. Das
ist gar kein Lebenssaft, das Leben ist ebenso wenig darin, wie es in dem Öl ist,
ohne daß die Maschine stille steht. Das Leben steht der Beurteilung durch unsre
Sinne zu hoch, und nun erst durch den Geschmackssinn. Da verliert sich der Go-


Grcnzbow, II 1903
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[0229] Im Lazarett Wirtshaus Most trinken. Alles schaut ihn so freundlich, so glücklich an, er hat das Gefühl, als winkten sie ihn mit den freundlichen Augen zu sich hin, und den Tod hat er vergessen, wollte nur noch gern sein, wo es so hell und schön, und wo alles Vergangne und Vergängliche so gegenwärtig und so frisch war. Er beschrieb die Schärfe und die Deutlichkeit dieser unzähligen Bilder in Linien und Farben als etwas ganz außerordentliches. Als er sich aber ergriffen, getragen und aufgeweckt fühlte, ohne sich doch dem Schlummer ganz entreißen zu können, schmerzte es ihn, daß das Tor in die Ewigkeit zuging, durch das er diesen schönen Blick gewonnen hatte. Nur eine Erinnerung aus der Wirklichkeit habe er später damit vergleiche» mögen, nämlich den Blick in die hellerleuchteten Weihnnchtsstuben mit dem brennenden Christbaum in seiner Kindheit. Es wurde an diesem Abend noch von manchen Todesarten gesprochen, auch von weniger milden. Der Lazarettgehilfe, der still, vielleicht bei manchen Er¬ zählungen zweifelnd, zugehört hatte, schilderte das ächzende, heisere Gepfeife der Luft, die durch durchbohrte Lungenflügel zieht, für das Leben verwüstend wie ein Sturm, an dessen Stimme dieser unheimliche Laut erinnert, und erzählte, wie ein Haupt- mann in der Tobsucht gestorben sei, weil man ihm den Spiegel verweigert habe, in dem er sein blatternzerfetztes Gesicht betrachten wollte. Der Theologe aber, sein freiwilliger Gehilfe, kam noch einmal auf Erlebnisse zurück, die beweisen, daß die Nähe des Todes gewaltige und plötzliche Veränderungen in einer Seele hervor¬ bringt, die den Tod kommen sieht. Es ist, sagte er, wie ein plötzliches Losgerissen¬ werden von der Klippe, an der sie bisher gehangen hatte, und ein Hinaufgetrageu- werden oder Hinabgerissenwerden mit den Wellen und in den Wellen, ehe sie in die Tiefe geht. Geisteskranke, die seit Jahren die Gegenwart nicht erkannt und das Vergangne vollständig vergessen hatten, erwachen einen Tag, zwei Tage vor ihrem Tode zum vollen Bewußtsein, bedauern Fehler, die sie im Zustande der Krankheit begangen haben, beklagen die Verlornen Jahre, bereiten sich in voller Geistesklarheit auf den Tod vor. Man hat solche Leute sagen hören: Ich werde gesund, um mich zum Sterben vorzubereiten. Geistliche haben Beichten von einer wunderbar klaren Erinnerung und einer tiefen Selbsterkenntnis von Sterbenden empfangen, die vorher nicht imstande gewesen waren, eine Gedankenkette zu flechten. Die Fiebernden, die tagelang, vielleicht wochenlang phantasiert hatten, in vielen Fällen laut und störend, ja gewalttätig, sah man vor ihrem letzten Augenblick zu sich kommen und bei klarem Bewußtsein ruhig sterben. Wo bin ich denn bisher ge¬ wesen? Welche dunkeln Wolken umdrnuten mich, ans denen ich keinen Ausweg fand? Nun ist es auf einmal hell, und dieses Licht ist so mild, so wohltuend, flüstert wohl einer von ihnen, und ein paar Augenblicke darauf geht er friedlich aus dem Leben. Mit den Verwundeten ist es ja anders, bei ihnen, wenn sie draußen auf dem Feld liegen und sich nicht regen und nicht rufen können, geht das Leben langsam in einen Traum über, dem nicht selten der lange Schlaf bald folgt. Wenn sie aber wieder erwachen und ihre Gedanken erzählen, wundert man sich, auf was für Idee» der Mensch nicht kommt, der mit dem Vink sein Leben so langsam hin¬ strömen fühlt, und seine Glieder sind wie gelähmt, er kann den Strom nicht stillen. Halb mag er es nicht, denn es wird immer dcimmriger, traumhafter um ihn her, und diesen Zustand will er festhalten. So lange sein Bewußtsein noch klar ist, schließt er den Mund, atmet so leise wie möglich, bemüht sich, nichts zu denken, damit nicht der Körper an Kraft verliere. Es gelingt ihm vielleicht, die Gedanke» von den fernen Dingen abzuwenden; in der Ferne mag es wohl manches geben, woran er nun gerade nicht denken will. Aber nun berührt vielleicht Blut seine Lippen, und ein dessen laue Süßigkeit knüpft sich sofort eine Reihe sonderbarer Gedanken. Nie ist mir aufgefallen, daß das Blut so süß ist. Wie fade schmeckt der Lebenssaft. Das ist gar kein Lebenssaft, das Leben ist ebenso wenig darin, wie es in dem Öl ist, ohne daß die Maschine stille steht. Das Leben steht der Beurteilung durch unsre Sinne zu hoch, und nun erst durch den Geschmackssinn. Da verliert sich der Go- Grcnzbow, II 1903

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/229>, abgerufen am 23.07.2024.