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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Über den Einfluß der Wissenschaft auf die Literatur

schritt der menschlichen Gesellschaft neue Verhältnisse zutage treten und hat
deshalb die Aufgabe, sie in die Rechtsordnung einzufügen. Sonst wird das
größte Recht die größte Ungerechtigkeit. Ist die Gesellschaft in ihrem Kern
gesund, so vermag sie die Aufgabe zu lösen, ist sie angefault, so erringt sich
das Neue die rechtliche Anerkennung durch gewaltsame Umwälzung. Von
ernsten Störungen ist auch die englische Gesellschaft nicht verschont geblieben,
aber durch rechtzeitiges Einlenken hat sie noch immer verstanden, das Recht
in Einklang mit den Forderungen der Zeit zu bringe".




Über den Ginfluß der Wissenschaft auf die Literatur
in der letzten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
Gerhard Gran in Lhristiania Don

ur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende und ein gutes Stück in
das neunzehnte Jahrhundert hinein war es die Poesie, die die
Hegemonie in der Welt der Geistesmächte hatte. Sogar die
Wissenschaften mußten sich vor ihrer Herrschaft beugen, sodaß
man zu dieser Zeit gut von einer poetischen (oder romantischen)
Physik, einer poetischen Geologie, einer poetischen Soziologie, einer poetischen
Medizin usw. sprechen konnte. Auch innerhalb der Fächer, die heute zu den
sattesten gerechnet werden, waren die Forscher von den Dichtern und den
Dichterdeuteru angesteckt, und sie sahen ihre Aufgaben nicht so sehr darin, Tät¬
lichen aufzuklären, als darin, diese zu Hypothesen, die in der Regel ans der
lockersten Wirklichkeitsgrtindlage geträumt waren, zusammenzubinden.

Dies gilt nicht bloß von Männern, deren natürliche Begabung zwischen
Achtung und Wissenschaft lag. wie von Steffens, Schelling und dem phantastischen
Physiker I. W. Ritter, sondern auch die nüchternsten Forscher, wie zum Beispiel
H- C. Orsted, mußten der Zeitrichtung ihren Tribut zahlen. Als dieser 1807
"ut die folgenden Jahre Vorlesungen über Naturlehre hielt, legte er nur wenig
Gewicht darauf, seinen Zuhörern die physikalischen und die chemischen Einzel¬
heiten einzuprägen, sondern er suchte vor allein ihre Anfmerksamkeit ans das
tteheimnisvollc Band hinzulenken, womit alle Erscheinungen trotz des unend¬
lichen Unterschieds auf der Oberfläche innerlich zusammengeknüpft sind. Er
Mg von der Elektrizität aus und wies immer auf die beiden Grundkräfte hin,
die überall die polaren Gegensätze in der Natur darstellen. Diese Grundkräfte
fand er in allen Teilen der unorganischen und der organischen Natur wieder --
auf den Geschlechtsunterschied bei Pflanzen und Tieren, bis auf die Liebe
und den Haß unter deu Menschen. Und er fand für diese Gedanken Worte,
^ so geheimnisvoll und unklar waren, daß sie die mysteriendurstigen Seelen
romantischsten Studenten sättigten.

Später im neunzehnten Jahrhundert aber, nachdem die Wissenschaft auf
sichren Wege der Untersuchung ihren Erfahrungsschatz vergrößert hatte,


Über den Einfluß der Wissenschaft auf die Literatur

schritt der menschlichen Gesellschaft neue Verhältnisse zutage treten und hat
deshalb die Aufgabe, sie in die Rechtsordnung einzufügen. Sonst wird das
größte Recht die größte Ungerechtigkeit. Ist die Gesellschaft in ihrem Kern
gesund, so vermag sie die Aufgabe zu lösen, ist sie angefault, so erringt sich
das Neue die rechtliche Anerkennung durch gewaltsame Umwälzung. Von
ernsten Störungen ist auch die englische Gesellschaft nicht verschont geblieben,
aber durch rechtzeitiges Einlenken hat sie noch immer verstanden, das Recht
in Einklang mit den Forderungen der Zeit zu bringe».




Über den Ginfluß der Wissenschaft auf die Literatur
in der letzten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
Gerhard Gran in Lhristiania Don

ur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende und ein gutes Stück in
das neunzehnte Jahrhundert hinein war es die Poesie, die die
Hegemonie in der Welt der Geistesmächte hatte. Sogar die
Wissenschaften mußten sich vor ihrer Herrschaft beugen, sodaß
man zu dieser Zeit gut von einer poetischen (oder romantischen)
Physik, einer poetischen Geologie, einer poetischen Soziologie, einer poetischen
Medizin usw. sprechen konnte. Auch innerhalb der Fächer, die heute zu den
sattesten gerechnet werden, waren die Forscher von den Dichtern und den
Dichterdeuteru angesteckt, und sie sahen ihre Aufgaben nicht so sehr darin, Tät¬
lichen aufzuklären, als darin, diese zu Hypothesen, die in der Regel ans der
lockersten Wirklichkeitsgrtindlage geträumt waren, zusammenzubinden.

Dies gilt nicht bloß von Männern, deren natürliche Begabung zwischen
Achtung und Wissenschaft lag. wie von Steffens, Schelling und dem phantastischen
Physiker I. W. Ritter, sondern auch die nüchternsten Forscher, wie zum Beispiel
H- C. Orsted, mußten der Zeitrichtung ihren Tribut zahlen. Als dieser 1807
»ut die folgenden Jahre Vorlesungen über Naturlehre hielt, legte er nur wenig
Gewicht darauf, seinen Zuhörern die physikalischen und die chemischen Einzel¬
heiten einzuprägen, sondern er suchte vor allein ihre Anfmerksamkeit ans das
tteheimnisvollc Band hinzulenken, womit alle Erscheinungen trotz des unend¬
lichen Unterschieds auf der Oberfläche innerlich zusammengeknüpft sind. Er
Mg von der Elektrizität aus und wies immer auf die beiden Grundkräfte hin,
die überall die polaren Gegensätze in der Natur darstellen. Diese Grundkräfte
fand er in allen Teilen der unorganischen und der organischen Natur wieder —
auf den Geschlechtsunterschied bei Pflanzen und Tieren, bis auf die Liebe
und den Haß unter deu Menschen. Und er fand für diese Gedanken Worte,
^ so geheimnisvoll und unklar waren, daß sie die mysteriendurstigen Seelen
romantischsten Studenten sättigten.

Später im neunzehnten Jahrhundert aber, nachdem die Wissenschaft auf
sichren Wege der Untersuchung ihren Erfahrungsschatz vergrößert hatte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/209>, abgerufen am 22.07.2024.