Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

die verzerrte und verkrümmte Lage, in denen der Körper mitten im Kampf mit
der entfliehenden Seele plötzlich erstarrt zu sein scheint, gibt es hier nicht. Auch
wiegt in der Farbe der Gesichter und der Hände die gelbliche Blaßheit des blutlosen,
zu lange der frischen Luft entzognen Lebens über die bläulichen und schwärzlichen
Töne der Todesnähe vor. Die blauen Ringe um die Augen, die schwärzlichen
Lippen, der fahlblau stiere Blick sind selten; auch das gedunsene Vlänlichrot manches
dem Tode verfallnen Antlitzes sieht man glücklicherweise nicht oft. Aus den leben¬
digen Augen der Kranken, die einander still fragend ansehen, strählen, so trüb sie
manchmal blicken mögen, eine Lebenshoffnung und Lebenslust in die gedrückte Luft
der Säle eines Lazaretts ans, und nnr wie ein letztes Wetterleuchten des Auf-
bäumens gegen das Schicksal zuckt es schmerzlich um manchen Mund.

Dieses Lazarett hier, in einem großen Mittelpunkte des Verkehrs, beherbergt
schwer und leicht Verwundete, Genesende und auch einige Anfgegebne; die einen
sind da, weil es sich uicht lohnt, sie weiter zu befördern, die andern, um auf
Weitersendung in die größern Krankenhäuser weiter rückwärts zu warten. Es ist
ein Zufall, daß in unserm Saale keine Franzosen sind, aber von Deutschen sind
alle Stämme und alle Waffengattungen vertreten, und die Altersstufen heben sich
von einem weißhaarigen Schleswig-holsteinischen Marketender bis zu dem achtzehn¬
jährigen Schiller einer Unterosfizierschule ab, der den linken Arm verloren hat.
Es ist eine furchtbare Summe von Sorgen und Schmerzen, die hier versammelt
ist. Wenige werden den äußern Frieden, der über dein Ganzen liegt, mit sich,
in sich tragen, wenn sie dieses Haus verlassen. Für die meisten wird es ein stiller
Durchgnngspunkt zwischen zwei Stürmen gewesen sein; sie ahnen das wohl und
dämmern diese Pause so hiu. Für die Fieberkranken ist es anders. Die unter den
schwersten Formen litten, lagen nicht in demselben Saal. Aber bei meinem Nachbar
zur Rechten entwickelte sich das dumpfe Brüten und Schlummern in unsäglicher
Müdigkeit zu einem regelrechten Thphns, dessen Fieberhitze ihn Nachts ans dem
Bett und auf die Gänge hinaustrieb, sodaß wir ihn oft mit Gewalt zurück¬
führen lind ins Bett bringen mußten. Zweimal fand ich ihn des Morgens neben
seinem Bette auf dem Boden liegen oder kauern. Mein Nachbar zur Linken ging
in fast beständiger Bewußtlosigkeit gleicherweise dem Tode entgegen; ihm hatte
ein Schuß quer durchs Gesicht beide Augen und das obere Stück des Nasenbeins
glatt herausgerissen. Ich übte mich im Anschauen einer der grauenhaftesten Wunden,
indem ich mehrmals um Tage bei seinem Verbände half.

Daß beide Nachbarn meiner Hilfe so nötig bedurften, übte einen sehr günstigen
Einfluß auf mein eignes Befinden, denn nachdem die ersten Fiebertaumel vorüber
waren, stand ich so oft wie möglich von meinem Lager auf, um ihnen kleine Dienste
zu leisten, und gewöhnte mich sehr bald daran, von früh bis spät tätig zu sein.
Mein rechter Nachbar mit der Schußwunde im Gesicht war wohl auch im gesunden
Zustand kein Adonis gewesen, darauf ließen seiue Knollennase lind seine entsprechend
ausgeworfnen Lippen schließen; ich konnte mir den kleinen, breiten Füsilier auch
nicht als Heldengestalt vorstellen. Wenn ich mich nun mit jedem Tage mehr an
diesen stummen Gast anschloß und mich innig freute, daß er meine Hand nicht mehr
loslassen wollte, wenn ich ihm Stirn oder Hände berührte, hatte ich Anlaß,
darüber nachzudenken, daß es nicht bloß eine Ästhetik des Häßlichen, sondern auch
eine Ethik des Häßlichen, eine Verklärung durch die Seele gibt, die sich gleichsam
herausringt und sich über abstoßende Züge lagert.

Eines Morgens sehr früh trug man diesen Armen hinaus, der still hinüber¬
geschlummert war, wie er dagelegen hatte; das einzige, was ich von ihm noch ver¬
nommen hatte, war das Ächzen seines Bettes, als er sich sterbend ausstreckte.
Mein Nachbar zur Linken war in den Zustand unsäglicher Müdigkeit zurück¬
verfallen, in den ein schwerer Typhus ausläuft, und brauchte so sorgsame Pflege,
daß er in einen besondern Saal umquartiert wurde, wo barmherzige Schwestern
der schwere" Aufgabe der Wartung fast unbeweglicher Rekonvnleszenten oblagen.


die verzerrte und verkrümmte Lage, in denen der Körper mitten im Kampf mit
der entfliehenden Seele plötzlich erstarrt zu sein scheint, gibt es hier nicht. Auch
wiegt in der Farbe der Gesichter und der Hände die gelbliche Blaßheit des blutlosen,
zu lange der frischen Luft entzognen Lebens über die bläulichen und schwärzlichen
Töne der Todesnähe vor. Die blauen Ringe um die Augen, die schwärzlichen
Lippen, der fahlblau stiere Blick sind selten; auch das gedunsene Vlänlichrot manches
dem Tode verfallnen Antlitzes sieht man glücklicherweise nicht oft. Aus den leben¬
digen Augen der Kranken, die einander still fragend ansehen, strählen, so trüb sie
manchmal blicken mögen, eine Lebenshoffnung und Lebenslust in die gedrückte Luft
der Säle eines Lazaretts ans, und nnr wie ein letztes Wetterleuchten des Auf-
bäumens gegen das Schicksal zuckt es schmerzlich um manchen Mund.

Dieses Lazarett hier, in einem großen Mittelpunkte des Verkehrs, beherbergt
schwer und leicht Verwundete, Genesende und auch einige Anfgegebne; die einen
sind da, weil es sich uicht lohnt, sie weiter zu befördern, die andern, um auf
Weitersendung in die größern Krankenhäuser weiter rückwärts zu warten. Es ist
ein Zufall, daß in unserm Saale keine Franzosen sind, aber von Deutschen sind
alle Stämme und alle Waffengattungen vertreten, und die Altersstufen heben sich
von einem weißhaarigen Schleswig-holsteinischen Marketender bis zu dem achtzehn¬
jährigen Schiller einer Unterosfizierschule ab, der den linken Arm verloren hat.
Es ist eine furchtbare Summe von Sorgen und Schmerzen, die hier versammelt
ist. Wenige werden den äußern Frieden, der über dein Ganzen liegt, mit sich,
in sich tragen, wenn sie dieses Haus verlassen. Für die meisten wird es ein stiller
Durchgnngspunkt zwischen zwei Stürmen gewesen sein; sie ahnen das wohl und
dämmern diese Pause so hiu. Für die Fieberkranken ist es anders. Die unter den
schwersten Formen litten, lagen nicht in demselben Saal. Aber bei meinem Nachbar
zur Rechten entwickelte sich das dumpfe Brüten und Schlummern in unsäglicher
Müdigkeit zu einem regelrechten Thphns, dessen Fieberhitze ihn Nachts ans dem
Bett und auf die Gänge hinaustrieb, sodaß wir ihn oft mit Gewalt zurück¬
führen lind ins Bett bringen mußten. Zweimal fand ich ihn des Morgens neben
seinem Bette auf dem Boden liegen oder kauern. Mein Nachbar zur Linken ging
in fast beständiger Bewußtlosigkeit gleicherweise dem Tode entgegen; ihm hatte
ein Schuß quer durchs Gesicht beide Augen und das obere Stück des Nasenbeins
glatt herausgerissen. Ich übte mich im Anschauen einer der grauenhaftesten Wunden,
indem ich mehrmals um Tage bei seinem Verbände half.

Daß beide Nachbarn meiner Hilfe so nötig bedurften, übte einen sehr günstigen
Einfluß auf mein eignes Befinden, denn nachdem die ersten Fiebertaumel vorüber
waren, stand ich so oft wie möglich von meinem Lager auf, um ihnen kleine Dienste
zu leisten, und gewöhnte mich sehr bald daran, von früh bis spät tätig zu sein.
Mein rechter Nachbar mit der Schußwunde im Gesicht war wohl auch im gesunden
Zustand kein Adonis gewesen, darauf ließen seiue Knollennase lind seine entsprechend
ausgeworfnen Lippen schließen; ich konnte mir den kleinen, breiten Füsilier auch
nicht als Heldengestalt vorstellen. Wenn ich mich nun mit jedem Tage mehr an
diesen stummen Gast anschloß und mich innig freute, daß er meine Hand nicht mehr
loslassen wollte, wenn ich ihm Stirn oder Hände berührte, hatte ich Anlaß,
darüber nachzudenken, daß es nicht bloß eine Ästhetik des Häßlichen, sondern auch
eine Ethik des Häßlichen, eine Verklärung durch die Seele gibt, die sich gleichsam
herausringt und sich über abstoßende Züge lagert.

Eines Morgens sehr früh trug man diesen Armen hinaus, der still hinüber¬
geschlummert war, wie er dagelegen hatte; das einzige, was ich von ihm noch ver¬
nommen hatte, war das Ächzen seines Bettes, als er sich sterbend ausstreckte.
Mein Nachbar zur Linken war in den Zustand unsäglicher Müdigkeit zurück¬
verfallen, in den ein schwerer Typhus ausläuft, und brauchte so sorgsame Pflege,
daß er in einen besondern Saal umquartiert wurde, wo barmherzige Schwestern
der schwere» Aufgabe der Wartung fast unbeweglicher Rekonvnleszenten oblagen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0166" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/240548"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_810" prev="#ID_809"> die verzerrte und verkrümmte Lage, in denen der Körper mitten im Kampf mit<lb/>
der entfliehenden Seele plötzlich erstarrt zu sein scheint, gibt es hier nicht. Auch<lb/>
wiegt in der Farbe der Gesichter und der Hände die gelbliche Blaßheit des blutlosen,<lb/>
zu lange der frischen Luft entzognen Lebens über die bläulichen und schwärzlichen<lb/>
Töne der Todesnähe vor. Die blauen Ringe um die Augen, die schwärzlichen<lb/>
Lippen, der fahlblau stiere Blick sind selten; auch das gedunsene Vlänlichrot manches<lb/>
dem Tode verfallnen Antlitzes sieht man glücklicherweise nicht oft. Aus den leben¬<lb/>
digen Augen der Kranken, die einander still fragend ansehen, strählen, so trüb sie<lb/>
manchmal blicken mögen, eine Lebenshoffnung und Lebenslust in die gedrückte Luft<lb/>
der Säle eines Lazaretts ans, und nnr wie ein letztes Wetterleuchten des Auf-<lb/>
bäumens gegen das Schicksal zuckt es schmerzlich um manchen Mund.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_811"> Dieses Lazarett hier, in einem großen Mittelpunkte des Verkehrs, beherbergt<lb/>
schwer und leicht Verwundete, Genesende und auch einige Anfgegebne; die einen<lb/>
sind da, weil es sich uicht lohnt, sie weiter zu befördern, die andern, um auf<lb/>
Weitersendung in die größern Krankenhäuser weiter rückwärts zu warten. Es ist<lb/>
ein Zufall, daß in unserm Saale keine Franzosen sind, aber von Deutschen sind<lb/>
alle Stämme und alle Waffengattungen vertreten, und die Altersstufen heben sich<lb/>
von einem weißhaarigen Schleswig-holsteinischen Marketender bis zu dem achtzehn¬<lb/>
jährigen Schiller einer Unterosfizierschule ab, der den linken Arm verloren hat.<lb/>
Es ist eine furchtbare Summe von Sorgen und Schmerzen, die hier versammelt<lb/>
ist. Wenige werden den äußern Frieden, der über dein Ganzen liegt, mit sich,<lb/>
in sich tragen, wenn sie dieses Haus verlassen. Für die meisten wird es ein stiller<lb/>
Durchgnngspunkt zwischen zwei Stürmen gewesen sein; sie ahnen das wohl und<lb/>
dämmern diese Pause so hiu. Für die Fieberkranken ist es anders. Die unter den<lb/>
schwersten Formen litten, lagen nicht in demselben Saal. Aber bei meinem Nachbar<lb/>
zur Rechten entwickelte sich das dumpfe Brüten und Schlummern in unsäglicher<lb/>
Müdigkeit zu einem regelrechten Thphns, dessen Fieberhitze ihn Nachts ans dem<lb/>
Bett und auf die Gänge hinaustrieb, sodaß wir ihn oft mit Gewalt zurück¬<lb/>
führen lind ins Bett bringen mußten. Zweimal fand ich ihn des Morgens neben<lb/>
seinem Bette auf dem Boden liegen oder kauern. Mein Nachbar zur Linken ging<lb/>
in fast beständiger Bewußtlosigkeit gleicherweise dem Tode entgegen; ihm hatte<lb/>
ein Schuß quer durchs Gesicht beide Augen und das obere Stück des Nasenbeins<lb/>
glatt herausgerissen. Ich übte mich im Anschauen einer der grauenhaftesten Wunden,<lb/>
indem ich mehrmals um Tage bei seinem Verbände half.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_812"> Daß beide Nachbarn meiner Hilfe so nötig bedurften, übte einen sehr günstigen<lb/>
Einfluß auf mein eignes Befinden, denn nachdem die ersten Fiebertaumel vorüber<lb/>
waren, stand ich so oft wie möglich von meinem Lager auf, um ihnen kleine Dienste<lb/>
zu leisten, und gewöhnte mich sehr bald daran, von früh bis spät tätig zu sein.<lb/>
Mein rechter Nachbar mit der Schußwunde im Gesicht war wohl auch im gesunden<lb/>
Zustand kein Adonis gewesen, darauf ließen seiue Knollennase lind seine entsprechend<lb/>
ausgeworfnen Lippen schließen; ich konnte mir den kleinen, breiten Füsilier auch<lb/>
nicht als Heldengestalt vorstellen. Wenn ich mich nun mit jedem Tage mehr an<lb/>
diesen stummen Gast anschloß und mich innig freute, daß er meine Hand nicht mehr<lb/>
loslassen wollte, wenn ich ihm Stirn oder Hände berührte, hatte ich Anlaß,<lb/>
darüber nachzudenken, daß es nicht bloß eine Ästhetik des Häßlichen, sondern auch<lb/>
eine Ethik des Häßlichen, eine Verklärung durch die Seele gibt, die sich gleichsam<lb/>
herausringt und sich über abstoßende Züge lagert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_813" next="#ID_814"> Eines Morgens sehr früh trug man diesen Armen hinaus, der still hinüber¬<lb/>
geschlummert war, wie er dagelegen hatte; das einzige, was ich von ihm noch ver¬<lb/>
nommen hatte, war das Ächzen seines Bettes, als er sich sterbend ausstreckte.<lb/>
Mein Nachbar zur Linken war in den Zustand unsäglicher Müdigkeit zurück¬<lb/>
verfallen, in den ein schwerer Typhus ausläuft, und brauchte so sorgsame Pflege,<lb/>
daß er in einen besondern Saal umquartiert wurde, wo barmherzige Schwestern<lb/>
der schwere» Aufgabe der Wartung fast unbeweglicher Rekonvnleszenten oblagen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0166] die verzerrte und verkrümmte Lage, in denen der Körper mitten im Kampf mit der entfliehenden Seele plötzlich erstarrt zu sein scheint, gibt es hier nicht. Auch wiegt in der Farbe der Gesichter und der Hände die gelbliche Blaßheit des blutlosen, zu lange der frischen Luft entzognen Lebens über die bläulichen und schwärzlichen Töne der Todesnähe vor. Die blauen Ringe um die Augen, die schwärzlichen Lippen, der fahlblau stiere Blick sind selten; auch das gedunsene Vlänlichrot manches dem Tode verfallnen Antlitzes sieht man glücklicherweise nicht oft. Aus den leben¬ digen Augen der Kranken, die einander still fragend ansehen, strählen, so trüb sie manchmal blicken mögen, eine Lebenshoffnung und Lebenslust in die gedrückte Luft der Säle eines Lazaretts ans, und nnr wie ein letztes Wetterleuchten des Auf- bäumens gegen das Schicksal zuckt es schmerzlich um manchen Mund. Dieses Lazarett hier, in einem großen Mittelpunkte des Verkehrs, beherbergt schwer und leicht Verwundete, Genesende und auch einige Anfgegebne; die einen sind da, weil es sich uicht lohnt, sie weiter zu befördern, die andern, um auf Weitersendung in die größern Krankenhäuser weiter rückwärts zu warten. Es ist ein Zufall, daß in unserm Saale keine Franzosen sind, aber von Deutschen sind alle Stämme und alle Waffengattungen vertreten, und die Altersstufen heben sich von einem weißhaarigen Schleswig-holsteinischen Marketender bis zu dem achtzehn¬ jährigen Schiller einer Unterosfizierschule ab, der den linken Arm verloren hat. Es ist eine furchtbare Summe von Sorgen und Schmerzen, die hier versammelt ist. Wenige werden den äußern Frieden, der über dein Ganzen liegt, mit sich, in sich tragen, wenn sie dieses Haus verlassen. Für die meisten wird es ein stiller Durchgnngspunkt zwischen zwei Stürmen gewesen sein; sie ahnen das wohl und dämmern diese Pause so hiu. Für die Fieberkranken ist es anders. Die unter den schwersten Formen litten, lagen nicht in demselben Saal. Aber bei meinem Nachbar zur Rechten entwickelte sich das dumpfe Brüten und Schlummern in unsäglicher Müdigkeit zu einem regelrechten Thphns, dessen Fieberhitze ihn Nachts ans dem Bett und auf die Gänge hinaustrieb, sodaß wir ihn oft mit Gewalt zurück¬ führen lind ins Bett bringen mußten. Zweimal fand ich ihn des Morgens neben seinem Bette auf dem Boden liegen oder kauern. Mein Nachbar zur Linken ging in fast beständiger Bewußtlosigkeit gleicherweise dem Tode entgegen; ihm hatte ein Schuß quer durchs Gesicht beide Augen und das obere Stück des Nasenbeins glatt herausgerissen. Ich übte mich im Anschauen einer der grauenhaftesten Wunden, indem ich mehrmals um Tage bei seinem Verbände half. Daß beide Nachbarn meiner Hilfe so nötig bedurften, übte einen sehr günstigen Einfluß auf mein eignes Befinden, denn nachdem die ersten Fiebertaumel vorüber waren, stand ich so oft wie möglich von meinem Lager auf, um ihnen kleine Dienste zu leisten, und gewöhnte mich sehr bald daran, von früh bis spät tätig zu sein. Mein rechter Nachbar mit der Schußwunde im Gesicht war wohl auch im gesunden Zustand kein Adonis gewesen, darauf ließen seiue Knollennase lind seine entsprechend ausgeworfnen Lippen schließen; ich konnte mir den kleinen, breiten Füsilier auch nicht als Heldengestalt vorstellen. Wenn ich mich nun mit jedem Tage mehr an diesen stummen Gast anschloß und mich innig freute, daß er meine Hand nicht mehr loslassen wollte, wenn ich ihm Stirn oder Hände berührte, hatte ich Anlaß, darüber nachzudenken, daß es nicht bloß eine Ästhetik des Häßlichen, sondern auch eine Ethik des Häßlichen, eine Verklärung durch die Seele gibt, die sich gleichsam herausringt und sich über abstoßende Züge lagert. Eines Morgens sehr früh trug man diesen Armen hinaus, der still hinüber¬ geschlummert war, wie er dagelegen hatte; das einzige, was ich von ihm noch ver¬ nommen hatte, war das Ächzen seines Bettes, als er sich sterbend ausstreckte. Mein Nachbar zur Linken war in den Zustand unsäglicher Müdigkeit zurück¬ verfallen, in den ein schwerer Typhus ausläuft, und brauchte so sorgsame Pflege, daß er in einen besondern Saal umquartiert wurde, wo barmherzige Schwestern der schwere» Aufgabe der Wartung fast unbeweglicher Rekonvnleszenten oblagen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/166
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/166>, abgerufen am 22.07.2024.