Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Im Lazarett

Tür, hinter der sich Menschen zu bewegen schienen, und fiel, als ich sie öffnete,
fast in die Stube, Ich sah etwas, das mich an ein Schlachthaus erinnerte, viel
Fleisch und Blut, und Menschen, die mit blutenden Händen um andern Menschen
hernmschnitten, die bleich auf einem lauge" Tische lagen. "Hinaus!" "Tür zu!"
scholl es mir entgegen, und ich wankte zurück, mechanisch wieder die Ecke aufsuchend,
in der ich ebenso unwillkürlich in Hockstellung zusammensank. Ein scharfer Ruck an
der Schulter. "Auf, Gefreiter! Was hockst du da herum? Was hast du hier zu
tun?" rief mir eine rauhe Stimme ins Ohr. Ich besann mich, daß ich schon
längere Zeit da zusannneugesunken gekauert haben mußte, deun ich war jetzt noch
kälter als vorhin und klapperte hörbar mit den Zähnen. Wieder ein Ruck. "Kerl,
schläfst du?" -- noch rauher als vorhin. Jetzt sah ich einen Lazarettdicuer vor
mir stehn, besann mich dunkel auf den Ärmelnmschlag des Mantels, worin mein
Überweisungsschein in das Lazarett steckte, konnte ihn aber mit meinen blauen, blut¬
losen Fingern nicht mehr fassen, deutete nur darauf.

Der Lazarettdieuer riß ihn heraus, warf einen Blick darauf und ging mit ein
paar unverständlichen Worten die Treppe hinauf. Jetzt mußte ich alle meine Kräfte
zusammen nehmen, mich nicht ans das Steinpflaster zu strecken; ich machte eine
letzte Anstrengung und fiel die Treppe mehr hinauf, als ich ging. Dann erschien
der Lazarettdieuer wieder, riß mich mehr hinauf, als er mich führte, stieß mich in
eine Tür hinein und drückte mir meinen Schein in die Hand. Ich stand wieder
wie gebannt, da Kälte und Schwindel mir das Gehn unmöglich machten; ich fürchtete
bei jedem Schritt vorwärts lang hin auf das Gesicht zu fallen, tastete mit der
Hand nach der Wand und hob mit der andern meinen Schein in die Höhe, um
gesehen zu werden. Mit meinem Ztthueklapperu, das den breit verbundnen Kopf
in rhythmische Bewegung versetzte, muß ich einen lächerlichen Eindruck gemacht haben.
Aus einem weiten Kreis von Lazarettgenossen, die um eiuen glühenden Ofen saßen,
lösten sich Gestalten los, die lachend auf mich zukamen, mir Gewehr und Helm
nbuahmeu, dann aber mit Ausdrücke" des Mitleids, als sie meine blauen, starren
Hände anfaßten, mich an ein leeres Bett führten, in das sie mich halbausgekleidet
hineinsteckten. Die Erinnerung an das Zittern des Feldbetts unter meinem vom
Fieber auf und ab geschleuderten Körper, und das Wort einer nicht freundlichen
Stimme: Ich habe geglaubt, es sei ein Preuß, weil er gleich über uns räsonniert
hat! sind meine letzten Erinnerungen.

Als ich nach dreitägigen Fieber wieder denken konnte und mich zu erinnern
begann, war ich in einem andern, größern und Hellem Saal, wo drei lange Reihen
Betten mit Verwundeten und Kranken standen. Ich richtete mich auf. Über meinem
Kopfe hing ein schwarzes Täfelchen mit Gefreiter X, fünftes Regiment, zweite Kom¬
pagnie, Kopfschuß, schwer. 38". Ich schaute mich in dem Saale um und sah eine
ganze Anzahl von Augen auf mich gerichtet. Wer in Lazaretten gelegen hat, kennt
diese stillen Blicke, die von Gesichtern nusgehn, die tief in die Kissen gedrückt sind,
in denen die Begierde liegt, zu sehen, zu erlebe", die Leere dieses Kraukendaseius
auszufüllen; sie bitten, sie fragen, oft folgt ein verständnisvolles Winden, und dann
nach ewiger Zeit wendet sich der Kranke um und sieht nach der andern Seite und
atmet tief auf, wie enttäuscht von der Vergeblichkeit dieses Ansschanens.

Dieses erstemal bliebe" aber alle Blicke an mir haften, denn ich war ja
ein "Neuer," man hatte mich bisher nur tief in den Kissen liegen sehen und
höchstens im Fieber sprechen hören. Von ganz hinten her rief sogar eine Stimme:
"Guten Tag, Fünfer. Bist aufgewacht?"

Ich sah deu Rufer nicht, antwortete: "Ja, fast," wobei ich bemerkte, daß meine
Stimme ihren Klang verloren hatte, und daß die aufgerichtete Lage mich schon
müde machte. Ich streckte mich wieder hin. Nach einiger Zeit legte sich eine
warme Hand auf die meine; es war der Stabsarzt, der mir den Puls fühlte, die
Zunge beschaute, die feuchte Stiru betastete und zu dem Krankenwärter sagte, er
möge heute Abend genau die Wärme aufzeichnen. Das Fieber sei im Abzug, und
für morgen sei das Material zur Erneuerung des Verbands zu besorgen.


Im Lazarett

Tür, hinter der sich Menschen zu bewegen schienen, und fiel, als ich sie öffnete,
fast in die Stube, Ich sah etwas, das mich an ein Schlachthaus erinnerte, viel
Fleisch und Blut, und Menschen, die mit blutenden Händen um andern Menschen
hernmschnitten, die bleich auf einem lauge» Tische lagen. „Hinaus!" „Tür zu!"
scholl es mir entgegen, und ich wankte zurück, mechanisch wieder die Ecke aufsuchend,
in der ich ebenso unwillkürlich in Hockstellung zusammensank. Ein scharfer Ruck an
der Schulter. „Auf, Gefreiter! Was hockst du da herum? Was hast du hier zu
tun?" rief mir eine rauhe Stimme ins Ohr. Ich besann mich, daß ich schon
längere Zeit da zusannneugesunken gekauert haben mußte, deun ich war jetzt noch
kälter als vorhin und klapperte hörbar mit den Zähnen. Wieder ein Ruck. „Kerl,
schläfst du?" — noch rauher als vorhin. Jetzt sah ich einen Lazarettdicuer vor
mir stehn, besann mich dunkel auf den Ärmelnmschlag des Mantels, worin mein
Überweisungsschein in das Lazarett steckte, konnte ihn aber mit meinen blauen, blut¬
losen Fingern nicht mehr fassen, deutete nur darauf.

Der Lazarettdieuer riß ihn heraus, warf einen Blick darauf und ging mit ein
paar unverständlichen Worten die Treppe hinauf. Jetzt mußte ich alle meine Kräfte
zusammen nehmen, mich nicht ans das Steinpflaster zu strecken; ich machte eine
letzte Anstrengung und fiel die Treppe mehr hinauf, als ich ging. Dann erschien
der Lazarettdieuer wieder, riß mich mehr hinauf, als er mich führte, stieß mich in
eine Tür hinein und drückte mir meinen Schein in die Hand. Ich stand wieder
wie gebannt, da Kälte und Schwindel mir das Gehn unmöglich machten; ich fürchtete
bei jedem Schritt vorwärts lang hin auf das Gesicht zu fallen, tastete mit der
Hand nach der Wand und hob mit der andern meinen Schein in die Höhe, um
gesehen zu werden. Mit meinem Ztthueklapperu, das den breit verbundnen Kopf
in rhythmische Bewegung versetzte, muß ich einen lächerlichen Eindruck gemacht haben.
Aus einem weiten Kreis von Lazarettgenossen, die um eiuen glühenden Ofen saßen,
lösten sich Gestalten los, die lachend auf mich zukamen, mir Gewehr und Helm
nbuahmeu, dann aber mit Ausdrücke» des Mitleids, als sie meine blauen, starren
Hände anfaßten, mich an ein leeres Bett führten, in das sie mich halbausgekleidet
hineinsteckten. Die Erinnerung an das Zittern des Feldbetts unter meinem vom
Fieber auf und ab geschleuderten Körper, und das Wort einer nicht freundlichen
Stimme: Ich habe geglaubt, es sei ein Preuß, weil er gleich über uns räsonniert
hat! sind meine letzten Erinnerungen.

Als ich nach dreitägigen Fieber wieder denken konnte und mich zu erinnern
begann, war ich in einem andern, größern und Hellem Saal, wo drei lange Reihen
Betten mit Verwundeten und Kranken standen. Ich richtete mich auf. Über meinem
Kopfe hing ein schwarzes Täfelchen mit Gefreiter X, fünftes Regiment, zweite Kom¬
pagnie, Kopfschuß, schwer. 38". Ich schaute mich in dem Saale um und sah eine
ganze Anzahl von Augen auf mich gerichtet. Wer in Lazaretten gelegen hat, kennt
diese stillen Blicke, die von Gesichtern nusgehn, die tief in die Kissen gedrückt sind,
in denen die Begierde liegt, zu sehen, zu erlebe», die Leere dieses Kraukendaseius
auszufüllen; sie bitten, sie fragen, oft folgt ein verständnisvolles Winden, und dann
nach ewiger Zeit wendet sich der Kranke um und sieht nach der andern Seite und
atmet tief auf, wie enttäuscht von der Vergeblichkeit dieses Ansschanens.

Dieses erstemal bliebe» aber alle Blicke an mir haften, denn ich war ja
ein „Neuer," man hatte mich bisher nur tief in den Kissen liegen sehen und
höchstens im Fieber sprechen hören. Von ganz hinten her rief sogar eine Stimme:
„Guten Tag, Fünfer. Bist aufgewacht?"

Ich sah deu Rufer nicht, antwortete: „Ja, fast," wobei ich bemerkte, daß meine
Stimme ihren Klang verloren hatte, und daß die aufgerichtete Lage mich schon
müde machte. Ich streckte mich wieder hin. Nach einiger Zeit legte sich eine
warme Hand auf die meine; es war der Stabsarzt, der mir den Puls fühlte, die
Zunge beschaute, die feuchte Stiru betastete und zu dem Krankenwärter sagte, er
möge heute Abend genau die Wärme aufzeichnen. Das Fieber sei im Abzug, und
für morgen sei das Material zur Erneuerung des Verbands zu besorgen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0164" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/240546"/>
          <fw type="header" place="top"> Im Lazarett</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_801" prev="#ID_800"> Tür, hinter der sich Menschen zu bewegen schienen, und fiel, als ich sie öffnete,<lb/>
fast in die Stube, Ich sah etwas, das mich an ein Schlachthaus erinnerte, viel<lb/>
Fleisch und Blut, und Menschen, die mit blutenden Händen um andern Menschen<lb/>
hernmschnitten, die bleich auf einem lauge» Tische lagen. &#x201E;Hinaus!" &#x201E;Tür zu!"<lb/>
scholl es mir entgegen, und ich wankte zurück, mechanisch wieder die Ecke aufsuchend,<lb/>
in der ich ebenso unwillkürlich in Hockstellung zusammensank. Ein scharfer Ruck an<lb/>
der Schulter. &#x201E;Auf, Gefreiter! Was hockst du da herum? Was hast du hier zu<lb/>
tun?" rief mir eine rauhe Stimme ins Ohr. Ich besann mich, daß ich schon<lb/>
längere Zeit da zusannneugesunken gekauert haben mußte, deun ich war jetzt noch<lb/>
kälter als vorhin und klapperte hörbar mit den Zähnen. Wieder ein Ruck. &#x201E;Kerl,<lb/>
schläfst du?" &#x2014; noch rauher als vorhin. Jetzt sah ich einen Lazarettdicuer vor<lb/>
mir stehn, besann mich dunkel auf den Ärmelnmschlag des Mantels, worin mein<lb/>
Überweisungsschein in das Lazarett steckte, konnte ihn aber mit meinen blauen, blut¬<lb/>
losen Fingern nicht mehr fassen, deutete nur darauf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_802"> Der Lazarettdieuer riß ihn heraus, warf einen Blick darauf und ging mit ein<lb/>
paar unverständlichen Worten die Treppe hinauf. Jetzt mußte ich alle meine Kräfte<lb/>
zusammen nehmen, mich nicht ans das Steinpflaster zu strecken; ich machte eine<lb/>
letzte Anstrengung und fiel die Treppe mehr hinauf, als ich ging. Dann erschien<lb/>
der Lazarettdieuer wieder, riß mich mehr hinauf, als er mich führte, stieß mich in<lb/>
eine Tür hinein und drückte mir meinen Schein in die Hand. Ich stand wieder<lb/>
wie gebannt, da Kälte und Schwindel mir das Gehn unmöglich machten; ich fürchtete<lb/>
bei jedem Schritt vorwärts lang hin auf das Gesicht zu fallen, tastete mit der<lb/>
Hand nach der Wand und hob mit der andern meinen Schein in die Höhe, um<lb/>
gesehen zu werden. Mit meinem Ztthueklapperu, das den breit verbundnen Kopf<lb/>
in rhythmische Bewegung versetzte, muß ich einen lächerlichen Eindruck gemacht haben.<lb/>
Aus einem weiten Kreis von Lazarettgenossen, die um eiuen glühenden Ofen saßen,<lb/>
lösten sich Gestalten los, die lachend auf mich zukamen, mir Gewehr und Helm<lb/>
nbuahmeu, dann aber mit Ausdrücke» des Mitleids, als sie meine blauen, starren<lb/>
Hände anfaßten, mich an ein leeres Bett führten, in das sie mich halbausgekleidet<lb/>
hineinsteckten. Die Erinnerung an das Zittern des Feldbetts unter meinem vom<lb/>
Fieber auf und ab geschleuderten Körper, und das Wort einer nicht freundlichen<lb/>
Stimme: Ich habe geglaubt, es sei ein Preuß, weil er gleich über uns räsonniert<lb/>
hat! sind meine letzten Erinnerungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_803"> Als ich nach dreitägigen Fieber wieder denken konnte und mich zu erinnern<lb/>
begann, war ich in einem andern, größern und Hellem Saal, wo drei lange Reihen<lb/>
Betten mit Verwundeten und Kranken standen. Ich richtete mich auf. Über meinem<lb/>
Kopfe hing ein schwarzes Täfelchen mit Gefreiter X, fünftes Regiment, zweite Kom¬<lb/>
pagnie, Kopfschuß, schwer. 38". Ich schaute mich in dem Saale um und sah eine<lb/>
ganze Anzahl von Augen auf mich gerichtet. Wer in Lazaretten gelegen hat, kennt<lb/>
diese stillen Blicke, die von Gesichtern nusgehn, die tief in die Kissen gedrückt sind,<lb/>
in denen die Begierde liegt, zu sehen, zu erlebe», die Leere dieses Kraukendaseius<lb/>
auszufüllen; sie bitten, sie fragen, oft folgt ein verständnisvolles Winden, und dann<lb/>
nach ewiger Zeit wendet sich der Kranke um und sieht nach der andern Seite und<lb/>
atmet tief auf, wie enttäuscht von der Vergeblichkeit dieses Ansschanens.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_804"> Dieses erstemal bliebe» aber alle Blicke an mir haften, denn ich war ja<lb/>
ein &#x201E;Neuer," man hatte mich bisher nur tief in den Kissen liegen sehen und<lb/>
höchstens im Fieber sprechen hören. Von ganz hinten her rief sogar eine Stimme:<lb/>
&#x201E;Guten Tag, Fünfer.  Bist aufgewacht?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_805"> Ich sah deu Rufer nicht, antwortete: &#x201E;Ja, fast," wobei ich bemerkte, daß meine<lb/>
Stimme ihren Klang verloren hatte, und daß die aufgerichtete Lage mich schon<lb/>
müde machte. Ich streckte mich wieder hin. Nach einiger Zeit legte sich eine<lb/>
warme Hand auf die meine; es war der Stabsarzt, der mir den Puls fühlte, die<lb/>
Zunge beschaute, die feuchte Stiru betastete und zu dem Krankenwärter sagte, er<lb/>
möge heute Abend genau die Wärme aufzeichnen. Das Fieber sei im Abzug, und<lb/>
für morgen sei das Material zur Erneuerung des Verbands zu besorgen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0164] Im Lazarett Tür, hinter der sich Menschen zu bewegen schienen, und fiel, als ich sie öffnete, fast in die Stube, Ich sah etwas, das mich an ein Schlachthaus erinnerte, viel Fleisch und Blut, und Menschen, die mit blutenden Händen um andern Menschen hernmschnitten, die bleich auf einem lauge» Tische lagen. „Hinaus!" „Tür zu!" scholl es mir entgegen, und ich wankte zurück, mechanisch wieder die Ecke aufsuchend, in der ich ebenso unwillkürlich in Hockstellung zusammensank. Ein scharfer Ruck an der Schulter. „Auf, Gefreiter! Was hockst du da herum? Was hast du hier zu tun?" rief mir eine rauhe Stimme ins Ohr. Ich besann mich, daß ich schon längere Zeit da zusannneugesunken gekauert haben mußte, deun ich war jetzt noch kälter als vorhin und klapperte hörbar mit den Zähnen. Wieder ein Ruck. „Kerl, schläfst du?" — noch rauher als vorhin. Jetzt sah ich einen Lazarettdicuer vor mir stehn, besann mich dunkel auf den Ärmelnmschlag des Mantels, worin mein Überweisungsschein in das Lazarett steckte, konnte ihn aber mit meinen blauen, blut¬ losen Fingern nicht mehr fassen, deutete nur darauf. Der Lazarettdieuer riß ihn heraus, warf einen Blick darauf und ging mit ein paar unverständlichen Worten die Treppe hinauf. Jetzt mußte ich alle meine Kräfte zusammen nehmen, mich nicht ans das Steinpflaster zu strecken; ich machte eine letzte Anstrengung und fiel die Treppe mehr hinauf, als ich ging. Dann erschien der Lazarettdieuer wieder, riß mich mehr hinauf, als er mich führte, stieß mich in eine Tür hinein und drückte mir meinen Schein in die Hand. Ich stand wieder wie gebannt, da Kälte und Schwindel mir das Gehn unmöglich machten; ich fürchtete bei jedem Schritt vorwärts lang hin auf das Gesicht zu fallen, tastete mit der Hand nach der Wand und hob mit der andern meinen Schein in die Höhe, um gesehen zu werden. Mit meinem Ztthueklapperu, das den breit verbundnen Kopf in rhythmische Bewegung versetzte, muß ich einen lächerlichen Eindruck gemacht haben. Aus einem weiten Kreis von Lazarettgenossen, die um eiuen glühenden Ofen saßen, lösten sich Gestalten los, die lachend auf mich zukamen, mir Gewehr und Helm nbuahmeu, dann aber mit Ausdrücke» des Mitleids, als sie meine blauen, starren Hände anfaßten, mich an ein leeres Bett führten, in das sie mich halbausgekleidet hineinsteckten. Die Erinnerung an das Zittern des Feldbetts unter meinem vom Fieber auf und ab geschleuderten Körper, und das Wort einer nicht freundlichen Stimme: Ich habe geglaubt, es sei ein Preuß, weil er gleich über uns räsonniert hat! sind meine letzten Erinnerungen. Als ich nach dreitägigen Fieber wieder denken konnte und mich zu erinnern begann, war ich in einem andern, größern und Hellem Saal, wo drei lange Reihen Betten mit Verwundeten und Kranken standen. Ich richtete mich auf. Über meinem Kopfe hing ein schwarzes Täfelchen mit Gefreiter X, fünftes Regiment, zweite Kom¬ pagnie, Kopfschuß, schwer. 38". Ich schaute mich in dem Saale um und sah eine ganze Anzahl von Augen auf mich gerichtet. Wer in Lazaretten gelegen hat, kennt diese stillen Blicke, die von Gesichtern nusgehn, die tief in die Kissen gedrückt sind, in denen die Begierde liegt, zu sehen, zu erlebe», die Leere dieses Kraukendaseius auszufüllen; sie bitten, sie fragen, oft folgt ein verständnisvolles Winden, und dann nach ewiger Zeit wendet sich der Kranke um und sieht nach der andern Seite und atmet tief auf, wie enttäuscht von der Vergeblichkeit dieses Ansschanens. Dieses erstemal bliebe» aber alle Blicke an mir haften, denn ich war ja ein „Neuer," man hatte mich bisher nur tief in den Kissen liegen sehen und höchstens im Fieber sprechen hören. Von ganz hinten her rief sogar eine Stimme: „Guten Tag, Fünfer. Bist aufgewacht?" Ich sah deu Rufer nicht, antwortete: „Ja, fast," wobei ich bemerkte, daß meine Stimme ihren Klang verloren hatte, und daß die aufgerichtete Lage mich schon müde machte. Ich streckte mich wieder hin. Nach einiger Zeit legte sich eine warme Hand auf die meine; es war der Stabsarzt, der mir den Puls fühlte, die Zunge beschaute, die feuchte Stiru betastete und zu dem Krankenwärter sagte, er möge heute Abend genau die Wärme aufzeichnen. Das Fieber sei im Abzug, und für morgen sei das Material zur Erneuerung des Verbands zu besorgen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/164
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/164>, abgerufen am 22.07.2024.