Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.Irgendwo .11" Horizont ist unbeobachtet ein neuer Stern aufgeglüht, gelb¬ Nicht ich fahre dem Morgen entgegen, es ist der liebe, frische Morgen, der Steif von dem langen Fahren in der Winterluft. unsicher" Tritts infolge deo Irgendwo .11» Horizont ist unbeobachtet ein neuer Stern aufgeglüht, gelb¬ Nicht ich fahre dem Morgen entgegen, es ist der liebe, frische Morgen, der Steif von dem langen Fahren in der Winterluft. unsicher» Tritts infolge deo <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0163" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/240545"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_798"> Irgendwo .11» Horizont ist unbeobachtet ein neuer Stern aufgeglüht, gelb¬<lb/> rötlicher als die andern, das kann nur ein Herdfeuer sein, das Frühaufgestaudue<lb/> entzündet haben. Am Himmel ist der Hintergrund Heller und sind die Wollen<lb/> dunkler geworden; am Osthimmel ziehn sie schon deutlich, die langgestreckte», auf<lb/> dem Lager sich reckenden Nachtwollcn. Darunter jetzt ein Purpnrlicht, das durch<lb/> Woltenlückeu scheint, bald hier bald dort deutlicher verglüht »ut dort sich neu ent¬<lb/> zündet. Nun färbt es die obern Wollenrändcr, und gleich darauf ist ein milder<lb/> Widerschein davon im Zenith, Ans Pnrpnrfäden gehn Goldstreifen hervor. Wie<lb/> mich das alles so weich »ut wohlig anmutet, vergesse ich über der Sonne, die<lb/> nun heraufsteigt, Krieg und Dienst.</p><lb/> <p xml:id="ID_799"> Nicht ich fahre dem Morgen entgegen, es ist der liebe, frische Morgen, der<lb/> mir so freundlich entgegenkommt, der mir alle diese fremden Dörfer vergoldet, durch<lb/> die wir in rascher Fahrt dahinrvllcn, und der in jedem unbekannten Fenster eine<lb/> bekannte, wohltuende Glut entzündet. Nichts ist fremd, wo die Sonne hinleuchtet!<lb/> Es ist zwar wahrscheinlich ein vergebliches Bemühn, ans die Dauer diese fahle<lb/> Herbstlandschaft dem kalten Winter zu entreißen, aber du bist redlich bemüht, mein<lb/> lieber Morgen. eS auch heute wieder zu versuchen. Dn breitest einen Glanz dar¬<lb/> über, der die Knhlheit der Stoppeln und die Lanblosigteit der Bäume vergessen<lb/> macht, und scheinst selbst einige Bauern und Mädchen, die uns freundlich grüßen,<lb/> die Verdrossenheit über diese Zeit vergessen zu machen, die schwer auf ihnen lastet.<lb/> Wir rasseln auf der langen Landstraße dahin, die fast verödet ist; in diesen<lb/> Kriegszeiten hat eben der Verkehr fast ganz aufgehört. Wir überholen einige leere<lb/> Proviantwagen, dann einen Wagen mit Kranken, die sich unsrer Kelle anschließen.<lb/> Ein Dvrfarzt kommt uns entgegen in einem leichten Eiuspännerchen, das eine<lb/> mächtige Fahne mit dem Genfer Kreuz trägt, hält a» und erneuert einem von<lb/> »us den Verband, der in Unordnung geraten ist; ein Geistlicher mit dem Rosen¬<lb/> kranz wandert um uns vorbei, der vielleicht anch Kranke in einem von den vielen<lb/> zerstreut liegenden Höfen besuchen will. Den Doppelposten am Ein- und am Ans-<lb/> gnng einiger Dörfer werden Grüße und Scherzworte zugerufen, und an den Häusern<lb/> entziffert man die Kreide- oder Kohlcinschriften der Quartiermacher. Ju der Stadt<lb/> verkleinert sich unser Zug rasch, ich werde zuletzt allein nach einem Lazarett ge¬<lb/> fahren, das im „Lycee"'eingerichtet ist. Dunkles Haus mit laugen Reihen staub¬<lb/> bedeckter Fenster, alter Bau/ aus dessen Fundament die feuchten Stellen wie erd¬<lb/> entsteigende Wollen am Gemäuer hinauswachsen; darauf, daß es einst ein Kloster<lb/> gewesen ist, scheint die Kleinheit des Eingangs zu deuten, eines fast verborgnen<lb/> Tores, durch das man in eine» dunkeln Raum tritt, der gleich wieder eine Tür<lb/> >" einen Hof hat, worin Neste von sänlengetragnen Hallen an den alten Umgang<lb/> "»es Klvsterhvfs und ein eingefrorner Springbrunnen in der Mitte an eiusUge<lb/> Gartenanlagen erinnern. Nirgends ein Mensch. Nur daß die nach dem Hof<lb/> schonenden Fenster nicht so bestäubt sind, wie die nach der Straße, konnte als<lb/> Lebenszeichen gedeutet werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_800" next="#ID_801"> Steif von dem langen Fahren in der Winterluft. unsicher» Tritts infolge deo<lb/> Blutverlustes und des vielleicht schon herannahenden Wnndfiebcrs wanke ich die<lb/> Treppe hinauf, mich des Gewehrs wie eines Stabes bedienend. Noch immer alles<lb/> still. Ich lehne mich auf dem ersten Treppenabsatz in die Mauerecke. da ich vor<lb/> Schwindel keine Stufe mehr unterscheide, und muß eine Zeit laug dn geträumt<lb/> haben. Deal als ich erwachte, lag mein Tornister und mein Faschinenmesser neben<lb/> Mir, die ich im Wagen gelassen hatte, und mir gegenüber stand in einem Eimer<lb/> um menschliches Bein, über dem Knie abgeschnitten, das vorhin nicht dagewesen<lb/> Wnr. Ich rieb mir die Augen; Frost und Fieber schüttelten mich, doch hatte ich<lb/> "och Gedanken genng. das nackte Bein zu bedauern, das da in der Kalte stand,<lb/> und den zu beneide», der es verloren hatte, da er nun voraussichtlich in einem<lb/> warmen Bette lag. Ich hätte mein Bein darum gegeben, wenn ich mich hatte zur<lb/> ^"he legen können! Mit dem Aufgebot der letzten Kräfte tastete ich mich an die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0163]
Irgendwo .11» Horizont ist unbeobachtet ein neuer Stern aufgeglüht, gelb¬
rötlicher als die andern, das kann nur ein Herdfeuer sein, das Frühaufgestaudue
entzündet haben. Am Himmel ist der Hintergrund Heller und sind die Wollen
dunkler geworden; am Osthimmel ziehn sie schon deutlich, die langgestreckte», auf
dem Lager sich reckenden Nachtwollcn. Darunter jetzt ein Purpnrlicht, das durch
Woltenlückeu scheint, bald hier bald dort deutlicher verglüht »ut dort sich neu ent¬
zündet. Nun färbt es die obern Wollenrändcr, und gleich darauf ist ein milder
Widerschein davon im Zenith, Ans Pnrpnrfäden gehn Goldstreifen hervor. Wie
mich das alles so weich »ut wohlig anmutet, vergesse ich über der Sonne, die
nun heraufsteigt, Krieg und Dienst.
Nicht ich fahre dem Morgen entgegen, es ist der liebe, frische Morgen, der
mir so freundlich entgegenkommt, der mir alle diese fremden Dörfer vergoldet, durch
die wir in rascher Fahrt dahinrvllcn, und der in jedem unbekannten Fenster eine
bekannte, wohltuende Glut entzündet. Nichts ist fremd, wo die Sonne hinleuchtet!
Es ist zwar wahrscheinlich ein vergebliches Bemühn, ans die Dauer diese fahle
Herbstlandschaft dem kalten Winter zu entreißen, aber du bist redlich bemüht, mein
lieber Morgen. eS auch heute wieder zu versuchen. Dn breitest einen Glanz dar¬
über, der die Knhlheit der Stoppeln und die Lanblosigteit der Bäume vergessen
macht, und scheinst selbst einige Bauern und Mädchen, die uns freundlich grüßen,
die Verdrossenheit über diese Zeit vergessen zu machen, die schwer auf ihnen lastet.
Wir rasseln auf der langen Landstraße dahin, die fast verödet ist; in diesen
Kriegszeiten hat eben der Verkehr fast ganz aufgehört. Wir überholen einige leere
Proviantwagen, dann einen Wagen mit Kranken, die sich unsrer Kelle anschließen.
Ein Dvrfarzt kommt uns entgegen in einem leichten Eiuspännerchen, das eine
mächtige Fahne mit dem Genfer Kreuz trägt, hält a» und erneuert einem von
»us den Verband, der in Unordnung geraten ist; ein Geistlicher mit dem Rosen¬
kranz wandert um uns vorbei, der vielleicht anch Kranke in einem von den vielen
zerstreut liegenden Höfen besuchen will. Den Doppelposten am Ein- und am Ans-
gnng einiger Dörfer werden Grüße und Scherzworte zugerufen, und an den Häusern
entziffert man die Kreide- oder Kohlcinschriften der Quartiermacher. Ju der Stadt
verkleinert sich unser Zug rasch, ich werde zuletzt allein nach einem Lazarett ge¬
fahren, das im „Lycee"'eingerichtet ist. Dunkles Haus mit laugen Reihen staub¬
bedeckter Fenster, alter Bau/ aus dessen Fundament die feuchten Stellen wie erd¬
entsteigende Wollen am Gemäuer hinauswachsen; darauf, daß es einst ein Kloster
gewesen ist, scheint die Kleinheit des Eingangs zu deuten, eines fast verborgnen
Tores, durch das man in eine» dunkeln Raum tritt, der gleich wieder eine Tür
>" einen Hof hat, worin Neste von sänlengetragnen Hallen an den alten Umgang
"»es Klvsterhvfs und ein eingefrorner Springbrunnen in der Mitte an eiusUge
Gartenanlagen erinnern. Nirgends ein Mensch. Nur daß die nach dem Hof
schonenden Fenster nicht so bestäubt sind, wie die nach der Straße, konnte als
Lebenszeichen gedeutet werden.
Steif von dem langen Fahren in der Winterluft. unsicher» Tritts infolge deo
Blutverlustes und des vielleicht schon herannahenden Wnndfiebcrs wanke ich die
Treppe hinauf, mich des Gewehrs wie eines Stabes bedienend. Noch immer alles
still. Ich lehne mich auf dem ersten Treppenabsatz in die Mauerecke. da ich vor
Schwindel keine Stufe mehr unterscheide, und muß eine Zeit laug dn geträumt
haben. Deal als ich erwachte, lag mein Tornister und mein Faschinenmesser neben
Mir, die ich im Wagen gelassen hatte, und mir gegenüber stand in einem Eimer
um menschliches Bein, über dem Knie abgeschnitten, das vorhin nicht dagewesen
Wnr. Ich rieb mir die Augen; Frost und Fieber schüttelten mich, doch hatte ich
"och Gedanken genng. das nackte Bein zu bedauern, das da in der Kalte stand,
und den zu beneide», der es verloren hatte, da er nun voraussichtlich in einem
warmen Bette lag. Ich hätte mein Bein darum gegeben, wenn ich mich hatte zur
^"he legen können! Mit dem Aufgebot der letzten Kräfte tastete ich mich an die
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |