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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Das englische Rechtswesen

den andern Höfen das Gegenteil geschah. Das viele Schreibwerk war nicht
dazu angetan, das Urteil zu beschleunigen oder die Kosten niedrig zu halten.
Dazu war es oft nötig, eine verwickelte Sache erst im Kanzleihofe auszufechten,
um den Weg für eine Klage in einem Hofe des gemeinen Rechts zu ebnen.
Jahrhundertelang hat dieser Zwiespalt allgemeine Abneigung erfahren, jahr-
hundertelang haben die Engländer gegen den Kanzleigerichtshof gezetert, aber
erst 1876 haben sie sich ein Herz gefaßt und aufgeräumt.

Die neue Gerichtsverfassung von 1876 hat jedoch den Kanzleigerichtshof
nicht aufgehoben, sie hat nur die Scheidewand, die ihn von deu Höfen des
gemeinen Rechts trennte, niedergerissen und alle zu einem Gerichtshofe, dein
14izb Lourt ot" -InZtios, von drei Abteilungen verschmolzen. Die Abteilungen
find die der Kanzlei unter dem Lordkanzler mit sechs Richtern, die Königs¬
bank unter dem Lordoberrichter mit vierzehn Richter" und die Abteilung für
Testameutsfrageu, Ehescheidungen und Admiralitätssachen mit zwei Richtern,
von denen der eine den Titel Präsident führt. Die dritte Abteilung mit dem
sonderbaren Gemisch von richterlichen Pflichten ist ans zwei andern Gerichts¬
höfen hervorgegangen, die früher für sich bestanden. Testamente und Ehe¬
scheidungen gehörten ehemals ausschließlich vor das geistliche Gericht der eng¬
lischen Staatskirche. Im Jahre 1857 wurden sie der Kirche entzogen und
einem neuen weltlichen Gerichtshof übergeben. Die Ehescheidung ist jedoch
dadurch nicht leichter geworden. Sie erfolgt nur bei dein Ehebruch des einen
Teiles, und dem Manne muß außerdem nachgewiesen werden, daß er die Frau
mißhandelt oder mindestens zwei Jahre lang verlassen habe. Sind beide Teile des
Ehebruchs schuldig, oder hat der eine dem Vergehen des andern Vorschub geleistet
in der Absicht einer Scheidung, so bleiben sie zur Strafe ungeschieden. Mit diesem
weltlichem Gerichtshofe wurde dann bei der Neuordnung der alte Admiralität-
gerichtshvf, der auf Edward den Vierten zurückgeht, zu einer Abteilung vereinigt.

Soweit bezieht sich die neue Ordnung nur ans Äußerliches. Sachen, die
früher dem Kauzleigerichtshofe zustanden, werden auch heute noch von der
Kanzleiabteilung nach deu alten Grundsätzen und ohne Zuziehung von Ge¬
schwornen behandelt. Die Sache", die früher vor das alte Reichsgericht ge¬
hörten, alle Schuld- und Schadenersatzforderungeu, die Wahlaufechtungen (das
Parlament befaßt sich uicht mit Wahlprüfungen), kurz, die bürgerlichen Nechts-
fülle gehören vor die darum zahlreicher besetzte Königsbank, der auch die
Strafrechtspflege zusteht. Die Arbeit der dritten Abteilung wird schon dnrch
ihren Namen bezeichnet. Die Verteilung der Arbeit ist also gegen früher nicht
geändert. Das Neue und Bessere liegt darin, daß das Billigkcitsrecht nicht
länger ein Monopol des Kanzlcigcrichtshofes ist. Alle Abteilungen des HiAb
Lourt entscheiden nach gemeinem Rechte wie nach Billigkeit. Dadurch wird
die Notwendigkeit zweier verschiedner Verhandlungen in derselben Sache ver¬
mieden und eine große Vereinfachn"", des Verfahrens erzielt.

(Schluß folgt)




Das englische Rechtswesen

den andern Höfen das Gegenteil geschah. Das viele Schreibwerk war nicht
dazu angetan, das Urteil zu beschleunigen oder die Kosten niedrig zu halten.
Dazu war es oft nötig, eine verwickelte Sache erst im Kanzleihofe auszufechten,
um den Weg für eine Klage in einem Hofe des gemeinen Rechts zu ebnen.
Jahrhundertelang hat dieser Zwiespalt allgemeine Abneigung erfahren, jahr-
hundertelang haben die Engländer gegen den Kanzleigerichtshof gezetert, aber
erst 1876 haben sie sich ein Herz gefaßt und aufgeräumt.

Die neue Gerichtsverfassung von 1876 hat jedoch den Kanzleigerichtshof
nicht aufgehoben, sie hat nur die Scheidewand, die ihn von deu Höfen des
gemeinen Rechts trennte, niedergerissen und alle zu einem Gerichtshofe, dein
14izb Lourt ot" -InZtios, von drei Abteilungen verschmolzen. Die Abteilungen
find die der Kanzlei unter dem Lordkanzler mit sechs Richtern, die Königs¬
bank unter dem Lordoberrichter mit vierzehn Richter» und die Abteilung für
Testameutsfrageu, Ehescheidungen und Admiralitätssachen mit zwei Richtern,
von denen der eine den Titel Präsident führt. Die dritte Abteilung mit dem
sonderbaren Gemisch von richterlichen Pflichten ist ans zwei andern Gerichts¬
höfen hervorgegangen, die früher für sich bestanden. Testamente und Ehe¬
scheidungen gehörten ehemals ausschließlich vor das geistliche Gericht der eng¬
lischen Staatskirche. Im Jahre 1857 wurden sie der Kirche entzogen und
einem neuen weltlichen Gerichtshof übergeben. Die Ehescheidung ist jedoch
dadurch nicht leichter geworden. Sie erfolgt nur bei dein Ehebruch des einen
Teiles, und dem Manne muß außerdem nachgewiesen werden, daß er die Frau
mißhandelt oder mindestens zwei Jahre lang verlassen habe. Sind beide Teile des
Ehebruchs schuldig, oder hat der eine dem Vergehen des andern Vorschub geleistet
in der Absicht einer Scheidung, so bleiben sie zur Strafe ungeschieden. Mit diesem
weltlichem Gerichtshofe wurde dann bei der Neuordnung der alte Admiralität-
gerichtshvf, der auf Edward den Vierten zurückgeht, zu einer Abteilung vereinigt.

Soweit bezieht sich die neue Ordnung nur ans Äußerliches. Sachen, die
früher dem Kauzleigerichtshofe zustanden, werden auch heute noch von der
Kanzleiabteilung nach deu alten Grundsätzen und ohne Zuziehung von Ge¬
schwornen behandelt. Die Sache», die früher vor das alte Reichsgericht ge¬
hörten, alle Schuld- und Schadenersatzforderungeu, die Wahlaufechtungen (das
Parlament befaßt sich uicht mit Wahlprüfungen), kurz, die bürgerlichen Nechts-
fülle gehören vor die darum zahlreicher besetzte Königsbank, der auch die
Strafrechtspflege zusteht. Die Arbeit der dritten Abteilung wird schon dnrch
ihren Namen bezeichnet. Die Verteilung der Arbeit ist also gegen früher nicht
geändert. Das Neue und Bessere liegt darin, daß das Billigkcitsrecht nicht
länger ein Monopol des Kanzlcigcrichtshofes ist. Alle Abteilungen des HiAb
Lourt entscheiden nach gemeinem Rechte wie nach Billigkeit. Dadurch wird
die Notwendigkeit zweier verschiedner Verhandlungen in derselben Sache ver¬
mieden und eine große Vereinfachn»«, des Verfahrens erzielt.

(Schluß folgt)




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[0148] Das englische Rechtswesen den andern Höfen das Gegenteil geschah. Das viele Schreibwerk war nicht dazu angetan, das Urteil zu beschleunigen oder die Kosten niedrig zu halten. Dazu war es oft nötig, eine verwickelte Sache erst im Kanzleihofe auszufechten, um den Weg für eine Klage in einem Hofe des gemeinen Rechts zu ebnen. Jahrhundertelang hat dieser Zwiespalt allgemeine Abneigung erfahren, jahr- hundertelang haben die Engländer gegen den Kanzleigerichtshof gezetert, aber erst 1876 haben sie sich ein Herz gefaßt und aufgeräumt. Die neue Gerichtsverfassung von 1876 hat jedoch den Kanzleigerichtshof nicht aufgehoben, sie hat nur die Scheidewand, die ihn von deu Höfen des gemeinen Rechts trennte, niedergerissen und alle zu einem Gerichtshofe, dein 14izb Lourt ot" -InZtios, von drei Abteilungen verschmolzen. Die Abteilungen find die der Kanzlei unter dem Lordkanzler mit sechs Richtern, die Königs¬ bank unter dem Lordoberrichter mit vierzehn Richter» und die Abteilung für Testameutsfrageu, Ehescheidungen und Admiralitätssachen mit zwei Richtern, von denen der eine den Titel Präsident führt. Die dritte Abteilung mit dem sonderbaren Gemisch von richterlichen Pflichten ist ans zwei andern Gerichts¬ höfen hervorgegangen, die früher für sich bestanden. Testamente und Ehe¬ scheidungen gehörten ehemals ausschließlich vor das geistliche Gericht der eng¬ lischen Staatskirche. Im Jahre 1857 wurden sie der Kirche entzogen und einem neuen weltlichen Gerichtshof übergeben. Die Ehescheidung ist jedoch dadurch nicht leichter geworden. Sie erfolgt nur bei dein Ehebruch des einen Teiles, und dem Manne muß außerdem nachgewiesen werden, daß er die Frau mißhandelt oder mindestens zwei Jahre lang verlassen habe. Sind beide Teile des Ehebruchs schuldig, oder hat der eine dem Vergehen des andern Vorschub geleistet in der Absicht einer Scheidung, so bleiben sie zur Strafe ungeschieden. Mit diesem weltlichem Gerichtshofe wurde dann bei der Neuordnung der alte Admiralität- gerichtshvf, der auf Edward den Vierten zurückgeht, zu einer Abteilung vereinigt. Soweit bezieht sich die neue Ordnung nur ans Äußerliches. Sachen, die früher dem Kauzleigerichtshofe zustanden, werden auch heute noch von der Kanzleiabteilung nach deu alten Grundsätzen und ohne Zuziehung von Ge¬ schwornen behandelt. Die Sache», die früher vor das alte Reichsgericht ge¬ hörten, alle Schuld- und Schadenersatzforderungeu, die Wahlaufechtungen (das Parlament befaßt sich uicht mit Wahlprüfungen), kurz, die bürgerlichen Nechts- fülle gehören vor die darum zahlreicher besetzte Königsbank, der auch die Strafrechtspflege zusteht. Die Arbeit der dritten Abteilung wird schon dnrch ihren Namen bezeichnet. Die Verteilung der Arbeit ist also gegen früher nicht geändert. Das Neue und Bessere liegt darin, daß das Billigkcitsrecht nicht länger ein Monopol des Kanzlcigcrichtshofes ist. Alle Abteilungen des HiAb Lourt entscheiden nach gemeinem Rechte wie nach Billigkeit. Dadurch wird die Notwendigkeit zweier verschiedner Verhandlungen in derselben Sache ver¬ mieden und eine große Vereinfachn»«, des Verfahrens erzielt. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/148>, abgerufen am 24.07.2024.