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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Deutschland vor der Reichstagswahl

ehe Woche" trennen ""s noch von der Ncichstagswahl. Soweit
sich die Verhältnisse bis jetzt übersehen lassen, ist kein einziger
Wahlkreis vorhanden, wo sich Mangel an Kandidaten zeigte.
Im Gegenteil: wohl für die meisten Wahlkreise sind drei oder
vier Männer vorhanden, die als Kandidaten auftreten, und
außerdem noch ein halbes Dutzend, die gern auftreten wurden, wenn sie irgend
welche Aussichten hätten, Stimmen zu erhalte". Wiederum einmal ein Beweis,
daß die wesentlichsten Argumente für die Diätcngewährung aus einem leeren
Faß geschöpft waren, und das; in Deutschland anch ohne Diäten die Zahl
solcher nicht gering ist, die als Abgeordnete zu wirken bereit sind, und solcher,
die sich mit dem Mandat einen Freibrief für einen vergnügten Wintcrciufenthalt
in Berlin erwerben möchten. Selbstverständlich sind unter deu Bewerbern die
bisherigen Maudatsinhaber i" der großen Mehrzahl. Aber deu Wählern dürfte
doch wohl zu empfehle" sei", die Präsenzliste" zur .Hand zu "chine" und die
bisherigen Träger ihres Vertrauens zu fragen, weshalb sie gar so selten auf
ihrem Posten gewesen sind. Nachdem der Reichstag i" der letzten Session el"
so beschämendes Bild geboten hat, ist es unmöglich, daß die Wähler daran
Mchgiltig vvrübergehli können. Ein Abgeordneter, dem el" Jagdtag wichtiger
ist als die Erfüllung seiner Mandatspflicht, ist des höchste" Ehrenamts, das der
deutsche Bürger z" vergeben hat, nicht würdig. Ein Neichstagsmitglied, das
"ur wenig Stunde" von Berlin wohnt, und dem von berufner Seite wiederholt
>'"d noch'a"f dem Bahtthofe gesagt wird, es möge in Berli" bleibe", weil es
">" "ächsten Tage auf jede einzelne Stimme ankomme -- und das dennoch
"l'fährt, "".eil einmal der Wage" bestellt und znhmisc alles vorbereitet sei,"
sollte damit das Vertraue" seiner Mitbürger verwirkt haben, und el"c Wieder¬
wahl sollte hier ausgeschlossen sei". Aber i" ähnlicher Lage ist leider ein sehr
"roßer Teil des Reichstags. Abgesehen von den Vorgängen bei den ,.'.oll-
tarifdcbatten war z. B. wie leider schon im Jahre vorher -- d,e Ver¬
handlung über den Etat des NeichsamtS des Immer" geradezu ein öffentlicher
Skandal. Wird eine Rede des Reichskanzlers über Venezuela angetlmdugt,
so to.n.ne" die Zerren vo" alle" Seite" i" Schäre" herbei, "icht etwa aus
Höflichkeit gegen de" obersten Beamten des Reichs, den sie in nider"


Grenzboten II 1303 ^



Deutschland vor der Reichstagswahl

ehe Woche» trennen »»s noch von der Ncichstagswahl. Soweit
sich die Verhältnisse bis jetzt übersehen lassen, ist kein einziger
Wahlkreis vorhanden, wo sich Mangel an Kandidaten zeigte.
Im Gegenteil: wohl für die meisten Wahlkreise sind drei oder
vier Männer vorhanden, die als Kandidaten auftreten, und
außerdem noch ein halbes Dutzend, die gern auftreten wurden, wenn sie irgend
welche Aussichten hätten, Stimmen zu erhalte». Wiederum einmal ein Beweis,
daß die wesentlichsten Argumente für die Diätcngewährung aus einem leeren
Faß geschöpft waren, und das; in Deutschland anch ohne Diäten die Zahl
solcher nicht gering ist, die als Abgeordnete zu wirken bereit sind, und solcher,
die sich mit dem Mandat einen Freibrief für einen vergnügten Wintcrciufenthalt
in Berlin erwerben möchten. Selbstverständlich sind unter deu Bewerbern die
bisherigen Maudatsinhaber i» der großen Mehrzahl. Aber deu Wählern dürfte
doch wohl zu empfehle» sei», die Präsenzliste» zur .Hand zu »chine» und die
bisherigen Träger ihres Vertrauens zu fragen, weshalb sie gar so selten auf
ihrem Posten gewesen sind. Nachdem der Reichstag i» der letzten Session el»
so beschämendes Bild geboten hat, ist es unmöglich, daß die Wähler daran
Mchgiltig vvrübergehli können. Ein Abgeordneter, dem el» Jagdtag wichtiger
ist als die Erfüllung seiner Mandatspflicht, ist des höchste» Ehrenamts, das der
deutsche Bürger z» vergeben hat, nicht würdig. Ein Neichstagsmitglied, das
"ur wenig Stunde» von Berlin wohnt, und dem von berufner Seite wiederholt
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sollte damit das Vertraue» seiner Mitbürger verwirkt haben, und el»c Wieder¬
wahl sollte hier ausgeschlossen sei». Aber i» ähnlicher Lage ist leider ein sehr
»roßer Teil des Reichstags. Abgesehen von den Vorgängen bei den ,.'.oll-
tarifdcbatten war z. B. wie leider schon im Jahre vorher — d,e Ver¬
handlung über den Etat des NeichsamtS des Immer» geradezu ein öffentlicher
Skandal. Wird eine Rede des Reichskanzlers über Venezuela angetlmdugt,
so to.n.ne» die Zerren vo» alle» Seite» i» Schäre» herbei, »icht etwa aus
Höflichkeit gegen de» obersten Beamten des Reichs, den sie in nider»


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[0125] [Abbildung] Deutschland vor der Reichstagswahl ehe Woche» trennen »»s noch von der Ncichstagswahl. Soweit sich die Verhältnisse bis jetzt übersehen lassen, ist kein einziger Wahlkreis vorhanden, wo sich Mangel an Kandidaten zeigte. Im Gegenteil: wohl für die meisten Wahlkreise sind drei oder vier Männer vorhanden, die als Kandidaten auftreten, und außerdem noch ein halbes Dutzend, die gern auftreten wurden, wenn sie irgend welche Aussichten hätten, Stimmen zu erhalte». Wiederum einmal ein Beweis, daß die wesentlichsten Argumente für die Diätcngewährung aus einem leeren Faß geschöpft waren, und das; in Deutschland anch ohne Diäten die Zahl solcher nicht gering ist, die als Abgeordnete zu wirken bereit sind, und solcher, die sich mit dem Mandat einen Freibrief für einen vergnügten Wintcrciufenthalt in Berlin erwerben möchten. Selbstverständlich sind unter deu Bewerbern die bisherigen Maudatsinhaber i» der großen Mehrzahl. Aber deu Wählern dürfte doch wohl zu empfehle» sei», die Präsenzliste» zur .Hand zu »chine» und die bisherigen Träger ihres Vertrauens zu fragen, weshalb sie gar so selten auf ihrem Posten gewesen sind. Nachdem der Reichstag i» der letzten Session el» so beschämendes Bild geboten hat, ist es unmöglich, daß die Wähler daran Mchgiltig vvrübergehli können. Ein Abgeordneter, dem el» Jagdtag wichtiger ist als die Erfüllung seiner Mandatspflicht, ist des höchste» Ehrenamts, das der deutsche Bürger z» vergeben hat, nicht würdig. Ein Neichstagsmitglied, das "ur wenig Stunde» von Berlin wohnt, und dem von berufner Seite wiederholt >'"d noch'a»f dem Bahtthofe gesagt wird, es möge in Berli» bleibe», weil es ">» »ächsten Tage auf jede einzelne Stimme ankomme — und das dennoch "l'fährt, „».eil einmal der Wage» bestellt und znhmisc alles vorbereitet sei," sollte damit das Vertraue» seiner Mitbürger verwirkt haben, und el»c Wieder¬ wahl sollte hier ausgeschlossen sei». Aber i» ähnlicher Lage ist leider ein sehr »roßer Teil des Reichstags. Abgesehen von den Vorgängen bei den ,.'.oll- tarifdcbatten war z. B. wie leider schon im Jahre vorher — d,e Ver¬ handlung über den Etat des NeichsamtS des Immer» geradezu ein öffentlicher Skandal. Wird eine Rede des Reichskanzlers über Venezuela angetlmdugt, so to.n.ne» die Zerren vo» alle» Seite» i» Schäre» herbei, »icht etwa aus Höflichkeit gegen de» obersten Beamten des Reichs, den sie in nider» Grenzboten II 1303 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/125>, abgerufen am 28.09.2024.