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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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metaphysischein Wege" gefunden hätte. Nur um diesem Apparat wird Lcilmizens
Forderung, daß die ganze Kraft in dem stoßenden Körper völlig ausgelöscht
werden und in dem gestoßenen unvermindert wiedererstehn müsse, augenscheinlich
erfüllt: die Kugel, die man herabfallen läßt, bleibt unten still liegen, die an-
gestoßne schwingt in einem Bogen zu der Höhe, von der die anstoßende ge¬
kommen ist, und das Spiel wiederholt sich, bis der Luftwiderstand es zur
Ruhe bringt. Auch in diesem Falle tritt also die Äquivalenz nicht voll¬
kommen in die Erscheinung, weil der Luftwiderstand bewirkt, daß jeder spätere
Schwingungsbogen um ein unmerkliches kleiner ist als der vorhergehende. In
den allermeisten Fällen bewirken Reibung und andre Umstünde, daß die Ur¬
sache und die sichtbare Wirkung von sehr ungleicher Größe sind. Aber Leibniz
läßt sich durch den Augenschein nicht irre machen; ihm steht das Gesetz der
Äquivalenz, das unter dem Namen des Gesetzes der Erhaltung der Energie
von Robert Mayer aufs neue formuliert worden ist, g. priori fest. Er schreibt
in einem Briefe (an Clarke): "Man wendet mir ein, daß unelastische Körper
beim Zusammenstoß Kraft verlieren. Dies ist jedoch nicht der Fall. Es ist
wahr, daß die Körper an Massenbewegung verlieren; das für die Bewegung
Verlorne wird jedoch auf die innern Teile übertragen, und die Differenz ist
somit nur scheinbar. Die Kräfte werden nicht zerstört, sondern in den kleinen
Teilen zerstreut, sodaß kein Verlust stattfindet, sondern der Gesamtvorgang
sich etwa der Umwechslung vou Geld vergleichen läßt." Daß sich uns die
Bewegung der kleinen Teile, die Molekularbewegung, in die ein Teil der
Ortsbewegung umgesetzt wird, als Wärme offenbart, scheint Leibniz noch nicht
bemerkt zu haben, aber der Satz von der Erhaltung der Kraft war in dem
angeführten Satze ausgesprochen, und der Fortschritt zur Erkenntnis der Um¬
wandlung der Energieformen ineinander nur noch eine Frage der Zeit.

So hat sich auch hier die apriorische Methode als die Kunst bewährt, die
Erscheinungen so zu buchstabieren, daß sie als Erfahrung gelesen werden
konnten. Nachdem die Überzeugung, daß sich alle Veränderungen auf Be¬
wegung zurückführen lassen und meßbar sein müßten, zur Herrschaft gelangt
war, hatten die Physiker so lange Hypothesen über die Umwandlung auf¬
zustellen, bis es gelang, die Äquivalenz der Wirkungen verschiedner Energie¬
formen zu ermitteln. Helmholtz hat die von Leibniz im Umriß entworsne
mechanistische Naturerklärung vollends ausgebaut. Ob sie von der neusten
Energetik, die fordert, daß man auf anschaulich machende Hypothesen wie
Atherschwingungen verzichte, verdrängt werden wird, bleibt abzuwarten. Um
Anschaulichkeit war es gerade Leibnizen am wenigsten zu tun. Er hat die
Mathematik gepriesen, daß sie ihn durch die Infinitesimalrechnung von der
Gewohnheit, anschaulich, geometrisch zu denken, befreit habe. Die damalige
Armut an wissenschaftlichem Erfahrungsstoff brachte es mit sich, daß er mit
seinen Untersuchungen über das Gebiet des Anschaulichem, der mechanischen
Bewegung, nicht hinauskam. Von Kepler übernahm er noch zur Vervoll¬
ständigung seiner Körperlehre den Begriff der Masse. Wenn man sich, zeigte
er, wie Cartesius bei der Betrachtung der Körper auf Ausdehnung und Be¬
wegung beschränke, so bleibe man in der Geometrie stecken. Und auch die


Grenzboten I 1908 12
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metaphysischein Wege" gefunden hätte. Nur um diesem Apparat wird Lcilmizens
Forderung, daß die ganze Kraft in dem stoßenden Körper völlig ausgelöscht
werden und in dem gestoßenen unvermindert wiedererstehn müsse, augenscheinlich
erfüllt: die Kugel, die man herabfallen läßt, bleibt unten still liegen, die an-
gestoßne schwingt in einem Bogen zu der Höhe, von der die anstoßende ge¬
kommen ist, und das Spiel wiederholt sich, bis der Luftwiderstand es zur
Ruhe bringt. Auch in diesem Falle tritt also die Äquivalenz nicht voll¬
kommen in die Erscheinung, weil der Luftwiderstand bewirkt, daß jeder spätere
Schwingungsbogen um ein unmerkliches kleiner ist als der vorhergehende. In
den allermeisten Fällen bewirken Reibung und andre Umstünde, daß die Ur¬
sache und die sichtbare Wirkung von sehr ungleicher Größe sind. Aber Leibniz
läßt sich durch den Augenschein nicht irre machen; ihm steht das Gesetz der
Äquivalenz, das unter dem Namen des Gesetzes der Erhaltung der Energie
von Robert Mayer aufs neue formuliert worden ist, g. priori fest. Er schreibt
in einem Briefe (an Clarke): „Man wendet mir ein, daß unelastische Körper
beim Zusammenstoß Kraft verlieren. Dies ist jedoch nicht der Fall. Es ist
wahr, daß die Körper an Massenbewegung verlieren; das für die Bewegung
Verlorne wird jedoch auf die innern Teile übertragen, und die Differenz ist
somit nur scheinbar. Die Kräfte werden nicht zerstört, sondern in den kleinen
Teilen zerstreut, sodaß kein Verlust stattfindet, sondern der Gesamtvorgang
sich etwa der Umwechslung vou Geld vergleichen läßt." Daß sich uns die
Bewegung der kleinen Teile, die Molekularbewegung, in die ein Teil der
Ortsbewegung umgesetzt wird, als Wärme offenbart, scheint Leibniz noch nicht
bemerkt zu haben, aber der Satz von der Erhaltung der Kraft war in dem
angeführten Satze ausgesprochen, und der Fortschritt zur Erkenntnis der Um¬
wandlung der Energieformen ineinander nur noch eine Frage der Zeit.

So hat sich auch hier die apriorische Methode als die Kunst bewährt, die
Erscheinungen so zu buchstabieren, daß sie als Erfahrung gelesen werden
konnten. Nachdem die Überzeugung, daß sich alle Veränderungen auf Be¬
wegung zurückführen lassen und meßbar sein müßten, zur Herrschaft gelangt
war, hatten die Physiker so lange Hypothesen über die Umwandlung auf¬
zustellen, bis es gelang, die Äquivalenz der Wirkungen verschiedner Energie¬
formen zu ermitteln. Helmholtz hat die von Leibniz im Umriß entworsne
mechanistische Naturerklärung vollends ausgebaut. Ob sie von der neusten
Energetik, die fordert, daß man auf anschaulich machende Hypothesen wie
Atherschwingungen verzichte, verdrängt werden wird, bleibt abzuwarten. Um
Anschaulichkeit war es gerade Leibnizen am wenigsten zu tun. Er hat die
Mathematik gepriesen, daß sie ihn durch die Infinitesimalrechnung von der
Gewohnheit, anschaulich, geometrisch zu denken, befreit habe. Die damalige
Armut an wissenschaftlichem Erfahrungsstoff brachte es mit sich, daß er mit
seinen Untersuchungen über das Gebiet des Anschaulichem, der mechanischen
Bewegung, nicht hinauskam. Von Kepler übernahm er noch zur Vervoll¬
ständigung seiner Körperlehre den Begriff der Masse. Wenn man sich, zeigte
er, wie Cartesius bei der Betrachtung der Körper auf Ausdehnung und Be¬
wegung beschränke, so bleibe man in der Geometrie stecken. Und auch die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/93>, abgerufen am 24.11.2024.