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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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von Wahrnehmungen, von Kenntnissen ist keine Erfahrung im wissenschaft¬
lichen Sinne, Die rohe Empirie kann zum methodischen Denken anregen, aber
ohne dieses ist sie noch nicht das, was die moderne Wissenschaft Erfahrung
nennt. Wenn nun auch der Idealismus klar macht, daß die Menschenseele
selbst der geheimnisvolle Schoß ist, ans dem ihre Welt quillt, die sie mit
Hilfe ihrer von deu Außendingen angeregten Sinne erzeugt, so bringt er doch
den Besonnenen nicht in Gefahr, Illusionist oder Skeptiker zu werden. Die
Sinne täuschen uicht, lehrt Leilmiz. Die Einbildung und die Fehlschlusse des
nicht methodisch denkenden Kindes, des gemeinen Mannes sind es, die ver¬
leiten, in die Dinge hineinzulegen, was nur für die wahrnehmende Seele einen
Sinn hat, wie Farbe, Ton und Wohlgeruch, und den von einer Tischecke er-
littnen Stoß für die Wirkung einer starren innerlich ungelenke" Masse zu
halten, während sie von der Abstoßung unzähliger unzusammenhängender Massen¬
teilchen hervorgebracht wird. Wie die Dinge einem anders organisierten Wesen,
wie sie Gott erscheinen mögen, und wie es zugeht, daß uns überhaupt die
Dinge erscheinen, das heißt, von uns wahrgenommen werden, danach zu fragen,
meint Leibniz, sei nicht wissenschaftlich.

Weit wichtiger als die Bestätigung des Idealismus, der dem Philosophen
schon ohnehin feststand, ist der Dienst, den ihm der Begriff des Unendlichen und
besonders des unendlich Kleinen als ein Schlüssel zur Erschließung des Innern
der Natur leistete. Da alles Erscheinende aus unendlich kleinen Teilen be¬
stehe, meinte Leibniz, so müsse man, um ins Innere der Natur einzudringen,
überall die kleinsten Teile aufsuchen, und er ging nun folgendermaßen vor.
Cartesius hatte alles Leben den: Geist allein zugesprochen, die Körperwelt
als einen starren und toten Mechanismus beschriebe"?, dem Körper als einzige
Eigenschaft die Räumlichkeit oder Ausdehnung beigelegt und die Ausdehnung
als Größe definiert. Leibniz wies nun zunächst nach, daß die Größe keineswegs
den Raumgrößen ausschließlich zukomme, daß auch die Zahl, die Bewegung,
die Kraftwirkung teilbar und meßbar seien. So bildete er den Begriff der
Intensität aus und gesellte der extensiven Größe die intensive bei. Dann wandte
er den Apriorismus auch auf den Raum an und zeigte, daß uicht allein die
sekundären Eigenschaften der Körper wie Farbe und Temperatur Schöpfungen
der Seele sind, sondern daß das auch von der bis dahin für primär gehaltenen
Eigenschaft der Räumlichkeit gilt. Weder gibt es einen absoluten Raum, in
den die Körper hineingesetzt würden, noch ist der Raum, den ein Körper ein¬
nimmt, etwas ein für allemal fertiges und unveränderliches. Die Räumlichkeit
ist eine Norstellnng, die die Seele bildet, um die zugleich wahrgenommenen
Dinge zu ordnen, jedem seine Lage, seinen Ort anzuweisen, und damit die
Lagenverhältnisse der Dinge zueinander festzustellen. Der Raum ist demnach
eine vom Verstand erzeugte Ordnung vou Lagen und Lagenverhältnissen.
Nun kann ein Ort schon dnrch einen Punkt bestimmt werden. Der Punkt
ist also etwas räumlich vorgestelltes, obwohl er gar keine Ausdehnung hat.
Und er ist das wichtigste Naumelement, denn aus ihm gehn alle andern
hervor. Der sich bewegende Punkt zeichnet eine Linie, und wie die Linie die
Bahn des Pnnkts, so ist die Fläche die Bahn der Linie, der Körper die Bahn


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von Wahrnehmungen, von Kenntnissen ist keine Erfahrung im wissenschaft¬
lichen Sinne, Die rohe Empirie kann zum methodischen Denken anregen, aber
ohne dieses ist sie noch nicht das, was die moderne Wissenschaft Erfahrung
nennt. Wenn nun auch der Idealismus klar macht, daß die Menschenseele
selbst der geheimnisvolle Schoß ist, ans dem ihre Welt quillt, die sie mit
Hilfe ihrer von deu Außendingen angeregten Sinne erzeugt, so bringt er doch
den Besonnenen nicht in Gefahr, Illusionist oder Skeptiker zu werden. Die
Sinne täuschen uicht, lehrt Leilmiz. Die Einbildung und die Fehlschlusse des
nicht methodisch denkenden Kindes, des gemeinen Mannes sind es, die ver¬
leiten, in die Dinge hineinzulegen, was nur für die wahrnehmende Seele einen
Sinn hat, wie Farbe, Ton und Wohlgeruch, und den von einer Tischecke er-
littnen Stoß für die Wirkung einer starren innerlich ungelenke« Masse zu
halten, während sie von der Abstoßung unzähliger unzusammenhängender Massen¬
teilchen hervorgebracht wird. Wie die Dinge einem anders organisierten Wesen,
wie sie Gott erscheinen mögen, und wie es zugeht, daß uns überhaupt die
Dinge erscheinen, das heißt, von uns wahrgenommen werden, danach zu fragen,
meint Leibniz, sei nicht wissenschaftlich.

Weit wichtiger als die Bestätigung des Idealismus, der dem Philosophen
schon ohnehin feststand, ist der Dienst, den ihm der Begriff des Unendlichen und
besonders des unendlich Kleinen als ein Schlüssel zur Erschließung des Innern
der Natur leistete. Da alles Erscheinende aus unendlich kleinen Teilen be¬
stehe, meinte Leibniz, so müsse man, um ins Innere der Natur einzudringen,
überall die kleinsten Teile aufsuchen, und er ging nun folgendermaßen vor.
Cartesius hatte alles Leben den: Geist allein zugesprochen, die Körperwelt
als einen starren und toten Mechanismus beschriebe»?, dem Körper als einzige
Eigenschaft die Räumlichkeit oder Ausdehnung beigelegt und die Ausdehnung
als Größe definiert. Leibniz wies nun zunächst nach, daß die Größe keineswegs
den Raumgrößen ausschließlich zukomme, daß auch die Zahl, die Bewegung,
die Kraftwirkung teilbar und meßbar seien. So bildete er den Begriff der
Intensität aus und gesellte der extensiven Größe die intensive bei. Dann wandte
er den Apriorismus auch auf den Raum an und zeigte, daß uicht allein die
sekundären Eigenschaften der Körper wie Farbe und Temperatur Schöpfungen
der Seele sind, sondern daß das auch von der bis dahin für primär gehaltenen
Eigenschaft der Räumlichkeit gilt. Weder gibt es einen absoluten Raum, in
den die Körper hineingesetzt würden, noch ist der Raum, den ein Körper ein¬
nimmt, etwas ein für allemal fertiges und unveränderliches. Die Räumlichkeit
ist eine Norstellnng, die die Seele bildet, um die zugleich wahrgenommenen
Dinge zu ordnen, jedem seine Lage, seinen Ort anzuweisen, und damit die
Lagenverhältnisse der Dinge zueinander festzustellen. Der Raum ist demnach
eine vom Verstand erzeugte Ordnung vou Lagen und Lagenverhältnissen.
Nun kann ein Ort schon dnrch einen Punkt bestimmt werden. Der Punkt
ist also etwas räumlich vorgestelltes, obwohl er gar keine Ausdehnung hat.
Und er ist das wichtigste Naumelement, denn aus ihm gehn alle andern
hervor. Der sich bewegende Punkt zeichnet eine Linie, und wie die Linie die
Bahn des Pnnkts, so ist die Fläche die Bahn der Linie, der Körper die Bahn


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[0090] LÄlmn von Wahrnehmungen, von Kenntnissen ist keine Erfahrung im wissenschaft¬ lichen Sinne, Die rohe Empirie kann zum methodischen Denken anregen, aber ohne dieses ist sie noch nicht das, was die moderne Wissenschaft Erfahrung nennt. Wenn nun auch der Idealismus klar macht, daß die Menschenseele selbst der geheimnisvolle Schoß ist, ans dem ihre Welt quillt, die sie mit Hilfe ihrer von deu Außendingen angeregten Sinne erzeugt, so bringt er doch den Besonnenen nicht in Gefahr, Illusionist oder Skeptiker zu werden. Die Sinne täuschen uicht, lehrt Leilmiz. Die Einbildung und die Fehlschlusse des nicht methodisch denkenden Kindes, des gemeinen Mannes sind es, die ver¬ leiten, in die Dinge hineinzulegen, was nur für die wahrnehmende Seele einen Sinn hat, wie Farbe, Ton und Wohlgeruch, und den von einer Tischecke er- littnen Stoß für die Wirkung einer starren innerlich ungelenke« Masse zu halten, während sie von der Abstoßung unzähliger unzusammenhängender Massen¬ teilchen hervorgebracht wird. Wie die Dinge einem anders organisierten Wesen, wie sie Gott erscheinen mögen, und wie es zugeht, daß uns überhaupt die Dinge erscheinen, das heißt, von uns wahrgenommen werden, danach zu fragen, meint Leibniz, sei nicht wissenschaftlich. Weit wichtiger als die Bestätigung des Idealismus, der dem Philosophen schon ohnehin feststand, ist der Dienst, den ihm der Begriff des Unendlichen und besonders des unendlich Kleinen als ein Schlüssel zur Erschließung des Innern der Natur leistete. Da alles Erscheinende aus unendlich kleinen Teilen be¬ stehe, meinte Leibniz, so müsse man, um ins Innere der Natur einzudringen, überall die kleinsten Teile aufsuchen, und er ging nun folgendermaßen vor. Cartesius hatte alles Leben den: Geist allein zugesprochen, die Körperwelt als einen starren und toten Mechanismus beschriebe»?, dem Körper als einzige Eigenschaft die Räumlichkeit oder Ausdehnung beigelegt und die Ausdehnung als Größe definiert. Leibniz wies nun zunächst nach, daß die Größe keineswegs den Raumgrößen ausschließlich zukomme, daß auch die Zahl, die Bewegung, die Kraftwirkung teilbar und meßbar seien. So bildete er den Begriff der Intensität aus und gesellte der extensiven Größe die intensive bei. Dann wandte er den Apriorismus auch auf den Raum an und zeigte, daß uicht allein die sekundären Eigenschaften der Körper wie Farbe und Temperatur Schöpfungen der Seele sind, sondern daß das auch von der bis dahin für primär gehaltenen Eigenschaft der Räumlichkeit gilt. Weder gibt es einen absoluten Raum, in den die Körper hineingesetzt würden, noch ist der Raum, den ein Körper ein¬ nimmt, etwas ein für allemal fertiges und unveränderliches. Die Räumlichkeit ist eine Norstellnng, die die Seele bildet, um die zugleich wahrgenommenen Dinge zu ordnen, jedem seine Lage, seinen Ort anzuweisen, und damit die Lagenverhältnisse der Dinge zueinander festzustellen. Der Raum ist demnach eine vom Verstand erzeugte Ordnung vou Lagen und Lagenverhältnissen. Nun kann ein Ort schon dnrch einen Punkt bestimmt werden. Der Punkt ist also etwas räumlich vorgestelltes, obwohl er gar keine Ausdehnung hat. Und er ist das wichtigste Naumelement, denn aus ihm gehn alle andern hervor. Der sich bewegende Punkt zeichnet eine Linie, und wie die Linie die Bahn des Pnnkts, so ist die Fläche die Bahn der Linie, der Körper die Bahn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/90>, abgerufen am 24.11.2024.