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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Zum neuen Jahr

u der Gruppierung und in dein Verhältnis der großen Mächte
hat dus vergangne Jahr nichts wesentliches geändert. Europa
hat sich daran gewöhnt, daß hier zwei Gruppen von Gro߬
mächten, der wieder erneuerte mitteleuropäische Dreibund und der
französisch-russische Zweibund, mehr neben- als gegeneinander
stehn, mehr einander das Gleichgewicht und damit den Weltfrieden erhaltend,
als zu einem verheerenden Entscheidungsknmpfe rüstend, und daß England
nieder zu der einen noch zu der andern Verbindung gehört, ohne doch in
der frühern szllsnäiZ Isolation zu verharren. Es hat sich auch darein gefunden,
daß einerseits jeder Genosse des eine" oder des andern Bündnisses außerhalb
der gemeinsamen Zwecke seine selbständige Politik treiben kann, anderseits das
Bündnis zuweilen auch über diese Zwecke, über Europa hinaus wirksam wird.

Unzweifelhaft hat Italien eine gewisse Annäherung an Frankreich voll¬
zöge", um sich für den Fall neuer Erschütterungen der Türkei den Anspruch
auf Tripolis zu sichern, nachdem es dus viel wichtigere Tunis um Frankreich
hat überlassen müssen, ohne es verschmerzt zu haben, nud es sucht mit Nu߬
land anzuknüpfen, um in demselben Falle an der Ostküste der Adria etwaigen
österreichischen Plänen ans Albanien, das es keiner andern Großmacht über¬
lassen darf, entgegentreten zu können. Der bevorstehende Besuch des Zaren in
Rom wird ein solches Einverständnis besiegeln oder fördern und zugleich aufs
neue Rom als Hauptstadt des Königreichs feierlich anerkennen, während die
Vatikanische Politik jedem katholischen Staatsoberhaupte deu Besuch Roms ver¬
bietet. Ob deshalb Loubet hier erscheinen kann, ist sehr zweifelhaft. Dann
aber wird der junge König von Italien auch Paris uicht besuche", so wenig
wie Wien. Denn das berechtigte Selbstgefühl der Nation fordert immer
nachdrücklicher, daß ihre Nachbarn und Bundesgenossen Rom als ihre Haupt-
rückhaltlos anerkennen und sich nicht an die Proteste des Vatikans kehren,
^ete langer Zeit besteht das Einvernehmen Italiens mit England. Denn in
dem Fall eines Znsammenstoßes mit Frankreich würde die italienische Flotte
allein die langgestreckten Küsten der Halbinsel schwerlich decken können, und
England hat in Italien eine wertvolle Stütze für seine Mittelmeerstellung, die


Grenzboten I 1903 , ,


Zum neuen Jahr

u der Gruppierung und in dein Verhältnis der großen Mächte
hat dus vergangne Jahr nichts wesentliches geändert. Europa
hat sich daran gewöhnt, daß hier zwei Gruppen von Gro߬
mächten, der wieder erneuerte mitteleuropäische Dreibund und der
französisch-russische Zweibund, mehr neben- als gegeneinander
stehn, mehr einander das Gleichgewicht und damit den Weltfrieden erhaltend,
als zu einem verheerenden Entscheidungsknmpfe rüstend, und daß England
nieder zu der einen noch zu der andern Verbindung gehört, ohne doch in
der frühern szllsnäiZ Isolation zu verharren. Es hat sich auch darein gefunden,
daß einerseits jeder Genosse des eine» oder des andern Bündnisses außerhalb
der gemeinsamen Zwecke seine selbständige Politik treiben kann, anderseits das
Bündnis zuweilen auch über diese Zwecke, über Europa hinaus wirksam wird.

Unzweifelhaft hat Italien eine gewisse Annäherung an Frankreich voll¬
zöge», um sich für den Fall neuer Erschütterungen der Türkei den Anspruch
auf Tripolis zu sichern, nachdem es dus viel wichtigere Tunis um Frankreich
hat überlassen müssen, ohne es verschmerzt zu haben, nud es sucht mit Nu߬
land anzuknüpfen, um in demselben Falle an der Ostküste der Adria etwaigen
österreichischen Plänen ans Albanien, das es keiner andern Großmacht über¬
lassen darf, entgegentreten zu können. Der bevorstehende Besuch des Zaren in
Rom wird ein solches Einverständnis besiegeln oder fördern und zugleich aufs
neue Rom als Hauptstadt des Königreichs feierlich anerkennen, während die
Vatikanische Politik jedem katholischen Staatsoberhaupte deu Besuch Roms ver¬
bietet. Ob deshalb Loubet hier erscheinen kann, ist sehr zweifelhaft. Dann
aber wird der junge König von Italien auch Paris uicht besuche», so wenig
wie Wien. Denn das berechtigte Selbstgefühl der Nation fordert immer
nachdrücklicher, daß ihre Nachbarn und Bundesgenossen Rom als ihre Haupt-
rückhaltlos anerkennen und sich nicht an die Proteste des Vatikans kehren,
^ete langer Zeit besteht das Einvernehmen Italiens mit England. Denn in
dem Fall eines Znsammenstoßes mit Frankreich würde die italienische Flotte
allein die langgestreckten Küsten der Halbinsel schwerlich decken können, und
England hat in Italien eine wertvolle Stütze für seine Mittelmeerstellung, die


Grenzboten I 1903 , ,
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[0009] [Abbildung] Zum neuen Jahr u der Gruppierung und in dein Verhältnis der großen Mächte hat dus vergangne Jahr nichts wesentliches geändert. Europa hat sich daran gewöhnt, daß hier zwei Gruppen von Gro߬ mächten, der wieder erneuerte mitteleuropäische Dreibund und der französisch-russische Zweibund, mehr neben- als gegeneinander stehn, mehr einander das Gleichgewicht und damit den Weltfrieden erhaltend, als zu einem verheerenden Entscheidungsknmpfe rüstend, und daß England nieder zu der einen noch zu der andern Verbindung gehört, ohne doch in der frühern szllsnäiZ Isolation zu verharren. Es hat sich auch darein gefunden, daß einerseits jeder Genosse des eine» oder des andern Bündnisses außerhalb der gemeinsamen Zwecke seine selbständige Politik treiben kann, anderseits das Bündnis zuweilen auch über diese Zwecke, über Europa hinaus wirksam wird. Unzweifelhaft hat Italien eine gewisse Annäherung an Frankreich voll¬ zöge», um sich für den Fall neuer Erschütterungen der Türkei den Anspruch auf Tripolis zu sichern, nachdem es dus viel wichtigere Tunis um Frankreich hat überlassen müssen, ohne es verschmerzt zu haben, nud es sucht mit Nu߬ land anzuknüpfen, um in demselben Falle an der Ostküste der Adria etwaigen österreichischen Plänen ans Albanien, das es keiner andern Großmacht über¬ lassen darf, entgegentreten zu können. Der bevorstehende Besuch des Zaren in Rom wird ein solches Einverständnis besiegeln oder fördern und zugleich aufs neue Rom als Hauptstadt des Königreichs feierlich anerkennen, während die Vatikanische Politik jedem katholischen Staatsoberhaupte deu Besuch Roms ver¬ bietet. Ob deshalb Loubet hier erscheinen kann, ist sehr zweifelhaft. Dann aber wird der junge König von Italien auch Paris uicht besuche», so wenig wie Wien. Denn das berechtigte Selbstgefühl der Nation fordert immer nachdrücklicher, daß ihre Nachbarn und Bundesgenossen Rom als ihre Haupt- rückhaltlos anerkennen und sich nicht an die Proteste des Vatikans kehren, ^ete langer Zeit besteht das Einvernehmen Italiens mit England. Denn in dem Fall eines Znsammenstoßes mit Frankreich würde die italienische Flotte allein die langgestreckten Küsten der Halbinsel schwerlich decken können, und England hat in Italien eine wertvolle Stütze für seine Mittelmeerstellung, die Grenzboten I 1903 , ,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/9>, abgerufen am 24.11.2024.