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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

heilen mögen die katholischen Theologen unter sich ausfechten. Anstatt darauf ein-
zugehn, wollen wir unsre den Gegenstand betreffenden Grundsätze noch einmal kurz
aussprechen. Erstens: die Kasuistik darf in den wissenschaftlichen Büchern und im
Unterricht die Darstellung der Sittenlehre nicht beherrschen, aber zu entbehren ist
sie nicht, auch nicht außerhalb des Moralunterrichts, wo immer Gegenstände der
Moral in Frage kommen. Denken wir uns, der Lehrer liest mit seinen Sekun¬
danern oder Primanern den Tell und sieht die Augen der Jünglinge von Be¬
geisterung stammen; und denken wir uns, es geschieht in der Zeit nach 1806 oder
in der Zeit der Demagogenriecherei (jetzt wollen alle studierenden Jünglinge Reserve-
leutuants werden, und kaum einer steht in Gefahr, zur Revolution verführt zu
werden). In ihren Augen liegt auch eine Frage. Der Lehrer würde sehr wenig
gewissenhaft handeln, wenn er die Schüler auf ihren autonomen kategorischen Im¬
perativ verwiese, anstatt die Frage mit ihnen zu erörtern, ob und unter welchen
Umständen Verschwörungen erlaubt seien. Und heutige Väter, möchten sie auch
ordentliche Professoren der Philosophie sein und zu Kants Fahne schwören, würden
einem Lehrer kaum Dank wissen, der ihre Söhne sür die Freiheit begeistern wollte,
ohne kasuistisch das quis, "znick, ubi, quibuZ xmxiliis, our, quomocko, qnÄnclo zu er¬
örtern. Zweitens: namentlich der Seelsorger darf als Berater die Kasuistik nicht
verschmähen, denn es sind ja eben e-isus <zon"viam.t,la,s, wegen deren er befragt wird.
Aber die Rolle des Richters, die die katholische Kirche ihren Beichtvätern zuweist,
und die hauptsächlich die Kasuistik notwendig machen soll, erkennen wir nicht an.
Wir halten es für Frevel, wenn ein Mensch sich anmaßt, in einem eorum iutsruum
an Gottes Stelle über einen Mitmenschen zu richten, und für unvernünftig, wenn
er sich einbildet, entscheiden zu können, ob eine Sünde vor Gott als Todsünde oder
als läßliche Sünde gilt. Damit soll nicht behauptet werden, daß alle Sünden
gleich seien, oder daß der Mensch nicht imstande sei, größere Verschuldungen von
geringern zu unterscheiden, wie das ja auch der weltliche Richter tut. Nur daß
ein Mensch einen entscheidenden Spruch fällen, den Zustand und den Wert einer
Seele genau taxieren und so dem Urteile Gottes vorgreifen könne und dürfe,
leugnen wir entschieden. Mit dem Richteramt im Beichtstuhl und mit dem kirch¬
lichen Ehegericht, das heute nicht mehr notwendig ist, würde für die Geistlichen
der Zwang zu gewissen peinlichen Untersuchungen wegfallen, die allerdings dem
Richter und dem Gerichtsarzt nicht erspart werden können. Drittens: wo immer
die Kasuistik in der Theorie die Grundideen und Grundsätze überwuchert oder in
der Praxis in Unfug ausartet, muß beides energisch bekämpft werden.

Für den zweiten Teil, der "Die katholische Gesamtauffassung der Sittlichkeit
und der Protestantismus" überschrieben ist, werden alle ehrlichen Protestanten dem
Verfasser dankbar sein, weil ihnen seine kurzgefaßte, klare und quellenmäßige Dar¬
stellung für die Polemik und, was wichtiger ist, für die Verständigung eine be¬
queme und zuverlässige Grundlage darbietet, an der es bisher hier und da gefehlt
zu haben scheint. Luthern wird er natürlich nicht gerecht, das kann und darf ein
katholischer Theologe vorläufig noch nicht. Aber seine Rechtfertigung der katholischen
Morallehrer ist so überzeugend, daß sich gewisse Anklagen, die gegen sie erhoben
zu werden pflegen, schlechterdings nicht mehr aufrecht erhalten lassen. Wir führen
nur dreierlei an. Man wirft der katholischen Moral gröbste Heteronomie vor:
gut ist, was der Beichtvater oder was der Papst befiehlt. Mausbach führt da¬
gegen u. a. einen Ausspruch des Thomas Von Aquin an, und da das Kapitel, dem
er entnommen ist, den Kern und Stern der offiziellen katholischen Moral enthält,
so wollen wir den Inhalt dieses ganzen Kapitels abgekürzt mitteilen. Das
128. Kapitel des 3. Buches der Summa ocmtrk xsntilizs handelt von dem Ver¬
halten des Menschen zum Nebenmenschen, wie es durch das göttliche Gesetz ge¬
ordnet wird ((jnomoäo "seunänm IgFvm ohl nomo a,Ä xroximnm oräms-or). "Das
göttliche Gesetz verpflichtet den Menschen, in Beziehung auf alle Dinge, die er für
sich verwenden kann, die vernunftgemäße Ordnung inne zu halten. Unter diesen
Dingen sind die Mitmenschen die vornehmsten. Denn der Mensch ist von Natur


Maßgebliches und Unmaßgebliches

heilen mögen die katholischen Theologen unter sich ausfechten. Anstatt darauf ein-
zugehn, wollen wir unsre den Gegenstand betreffenden Grundsätze noch einmal kurz
aussprechen. Erstens: die Kasuistik darf in den wissenschaftlichen Büchern und im
Unterricht die Darstellung der Sittenlehre nicht beherrschen, aber zu entbehren ist
sie nicht, auch nicht außerhalb des Moralunterrichts, wo immer Gegenstände der
Moral in Frage kommen. Denken wir uns, der Lehrer liest mit seinen Sekun¬
danern oder Primanern den Tell und sieht die Augen der Jünglinge von Be¬
geisterung stammen; und denken wir uns, es geschieht in der Zeit nach 1806 oder
in der Zeit der Demagogenriecherei (jetzt wollen alle studierenden Jünglinge Reserve-
leutuants werden, und kaum einer steht in Gefahr, zur Revolution verführt zu
werden). In ihren Augen liegt auch eine Frage. Der Lehrer würde sehr wenig
gewissenhaft handeln, wenn er die Schüler auf ihren autonomen kategorischen Im¬
perativ verwiese, anstatt die Frage mit ihnen zu erörtern, ob und unter welchen
Umständen Verschwörungen erlaubt seien. Und heutige Väter, möchten sie auch
ordentliche Professoren der Philosophie sein und zu Kants Fahne schwören, würden
einem Lehrer kaum Dank wissen, der ihre Söhne sür die Freiheit begeistern wollte,
ohne kasuistisch das quis, «znick, ubi, quibuZ xmxiliis, our, quomocko, qnÄnclo zu er¬
örtern. Zweitens: namentlich der Seelsorger darf als Berater die Kasuistik nicht
verschmähen, denn es sind ja eben e-isus <zon«viam.t,la,s, wegen deren er befragt wird.
Aber die Rolle des Richters, die die katholische Kirche ihren Beichtvätern zuweist,
und die hauptsächlich die Kasuistik notwendig machen soll, erkennen wir nicht an.
Wir halten es für Frevel, wenn ein Mensch sich anmaßt, in einem eorum iutsruum
an Gottes Stelle über einen Mitmenschen zu richten, und für unvernünftig, wenn
er sich einbildet, entscheiden zu können, ob eine Sünde vor Gott als Todsünde oder
als läßliche Sünde gilt. Damit soll nicht behauptet werden, daß alle Sünden
gleich seien, oder daß der Mensch nicht imstande sei, größere Verschuldungen von
geringern zu unterscheiden, wie das ja auch der weltliche Richter tut. Nur daß
ein Mensch einen entscheidenden Spruch fällen, den Zustand und den Wert einer
Seele genau taxieren und so dem Urteile Gottes vorgreifen könne und dürfe,
leugnen wir entschieden. Mit dem Richteramt im Beichtstuhl und mit dem kirch¬
lichen Ehegericht, das heute nicht mehr notwendig ist, würde für die Geistlichen
der Zwang zu gewissen peinlichen Untersuchungen wegfallen, die allerdings dem
Richter und dem Gerichtsarzt nicht erspart werden können. Drittens: wo immer
die Kasuistik in der Theorie die Grundideen und Grundsätze überwuchert oder in
der Praxis in Unfug ausartet, muß beides energisch bekämpft werden.

Für den zweiten Teil, der „Die katholische Gesamtauffassung der Sittlichkeit
und der Protestantismus" überschrieben ist, werden alle ehrlichen Protestanten dem
Verfasser dankbar sein, weil ihnen seine kurzgefaßte, klare und quellenmäßige Dar¬
stellung für die Polemik und, was wichtiger ist, für die Verständigung eine be¬
queme und zuverlässige Grundlage darbietet, an der es bisher hier und da gefehlt
zu haben scheint. Luthern wird er natürlich nicht gerecht, das kann und darf ein
katholischer Theologe vorläufig noch nicht. Aber seine Rechtfertigung der katholischen
Morallehrer ist so überzeugend, daß sich gewisse Anklagen, die gegen sie erhoben
zu werden pflegen, schlechterdings nicht mehr aufrecht erhalten lassen. Wir führen
nur dreierlei an. Man wirft der katholischen Moral gröbste Heteronomie vor:
gut ist, was der Beichtvater oder was der Papst befiehlt. Mausbach führt da¬
gegen u. a. einen Ausspruch des Thomas Von Aquin an, und da das Kapitel, dem
er entnommen ist, den Kern und Stern der offiziellen katholischen Moral enthält,
so wollen wir den Inhalt dieses ganzen Kapitels abgekürzt mitteilen. Das
128. Kapitel des 3. Buches der Summa ocmtrk xsntilizs handelt von dem Ver¬
halten des Menschen zum Nebenmenschen, wie es durch das göttliche Gesetz ge¬
ordnet wird ((jnomoäo «seunänm IgFvm ohl nomo a,Ä xroximnm oräms-or). „Das
göttliche Gesetz verpflichtet den Menschen, in Beziehung auf alle Dinge, die er für
sich verwenden kann, die vernunftgemäße Ordnung inne zu halten. Unter diesen
Dingen sind die Mitmenschen die vornehmsten. Denn der Mensch ist von Natur


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[0818] Maßgebliches und Unmaßgebliches heilen mögen die katholischen Theologen unter sich ausfechten. Anstatt darauf ein- zugehn, wollen wir unsre den Gegenstand betreffenden Grundsätze noch einmal kurz aussprechen. Erstens: die Kasuistik darf in den wissenschaftlichen Büchern und im Unterricht die Darstellung der Sittenlehre nicht beherrschen, aber zu entbehren ist sie nicht, auch nicht außerhalb des Moralunterrichts, wo immer Gegenstände der Moral in Frage kommen. Denken wir uns, der Lehrer liest mit seinen Sekun¬ danern oder Primanern den Tell und sieht die Augen der Jünglinge von Be¬ geisterung stammen; und denken wir uns, es geschieht in der Zeit nach 1806 oder in der Zeit der Demagogenriecherei (jetzt wollen alle studierenden Jünglinge Reserve- leutuants werden, und kaum einer steht in Gefahr, zur Revolution verführt zu werden). In ihren Augen liegt auch eine Frage. Der Lehrer würde sehr wenig gewissenhaft handeln, wenn er die Schüler auf ihren autonomen kategorischen Im¬ perativ verwiese, anstatt die Frage mit ihnen zu erörtern, ob und unter welchen Umständen Verschwörungen erlaubt seien. Und heutige Väter, möchten sie auch ordentliche Professoren der Philosophie sein und zu Kants Fahne schwören, würden einem Lehrer kaum Dank wissen, der ihre Söhne sür die Freiheit begeistern wollte, ohne kasuistisch das quis, «znick, ubi, quibuZ xmxiliis, our, quomocko, qnÄnclo zu er¬ örtern. Zweitens: namentlich der Seelsorger darf als Berater die Kasuistik nicht verschmähen, denn es sind ja eben e-isus <zon«viam.t,la,s, wegen deren er befragt wird. Aber die Rolle des Richters, die die katholische Kirche ihren Beichtvätern zuweist, und die hauptsächlich die Kasuistik notwendig machen soll, erkennen wir nicht an. Wir halten es für Frevel, wenn ein Mensch sich anmaßt, in einem eorum iutsruum an Gottes Stelle über einen Mitmenschen zu richten, und für unvernünftig, wenn er sich einbildet, entscheiden zu können, ob eine Sünde vor Gott als Todsünde oder als läßliche Sünde gilt. Damit soll nicht behauptet werden, daß alle Sünden gleich seien, oder daß der Mensch nicht imstande sei, größere Verschuldungen von geringern zu unterscheiden, wie das ja auch der weltliche Richter tut. Nur daß ein Mensch einen entscheidenden Spruch fällen, den Zustand und den Wert einer Seele genau taxieren und so dem Urteile Gottes vorgreifen könne und dürfe, leugnen wir entschieden. Mit dem Richteramt im Beichtstuhl und mit dem kirch¬ lichen Ehegericht, das heute nicht mehr notwendig ist, würde für die Geistlichen der Zwang zu gewissen peinlichen Untersuchungen wegfallen, die allerdings dem Richter und dem Gerichtsarzt nicht erspart werden können. Drittens: wo immer die Kasuistik in der Theorie die Grundideen und Grundsätze überwuchert oder in der Praxis in Unfug ausartet, muß beides energisch bekämpft werden. Für den zweiten Teil, der „Die katholische Gesamtauffassung der Sittlichkeit und der Protestantismus" überschrieben ist, werden alle ehrlichen Protestanten dem Verfasser dankbar sein, weil ihnen seine kurzgefaßte, klare und quellenmäßige Dar¬ stellung für die Polemik und, was wichtiger ist, für die Verständigung eine be¬ queme und zuverlässige Grundlage darbietet, an der es bisher hier und da gefehlt zu haben scheint. Luthern wird er natürlich nicht gerecht, das kann und darf ein katholischer Theologe vorläufig noch nicht. Aber seine Rechtfertigung der katholischen Morallehrer ist so überzeugend, daß sich gewisse Anklagen, die gegen sie erhoben zu werden pflegen, schlechterdings nicht mehr aufrecht erhalten lassen. Wir führen nur dreierlei an. Man wirft der katholischen Moral gröbste Heteronomie vor: gut ist, was der Beichtvater oder was der Papst befiehlt. Mausbach führt da¬ gegen u. a. einen Ausspruch des Thomas Von Aquin an, und da das Kapitel, dem er entnommen ist, den Kern und Stern der offiziellen katholischen Moral enthält, so wollen wir den Inhalt dieses ganzen Kapitels abgekürzt mitteilen. Das 128. Kapitel des 3. Buches der Summa ocmtrk xsntilizs handelt von dem Ver¬ halten des Menschen zum Nebenmenschen, wie es durch das göttliche Gesetz ge¬ ordnet wird ((jnomoäo «seunänm IgFvm ohl nomo a,Ä xroximnm oräms-or). „Das göttliche Gesetz verpflichtet den Menschen, in Beziehung auf alle Dinge, die er für sich verwenden kann, die vernunftgemäße Ordnung inne zu halten. Unter diesen Dingen sind die Mitmenschen die vornehmsten. Denn der Mensch ist von Natur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/818>, abgerufen am 24.11.2024.