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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Kur neuen Rechtschreibung

denn auch an, daß eine vollständigere Zusammenfassung der Grundsätze unsrer
Rechtschreibung in dem alten Leitsätze Adelungs enthalte!? sein würde: "Mau
schreibe das Deutsche mit den eingeführten Schriftzeichen, so wie man spricht,
der allgemeinen besten Aussprache gemäß, mit Beobachtung der erweislichen
nächsten Abstammung und des allgemeinen Gebrauchs," in der Tat eine Haupt¬
regel, die an Unbestimmtheit nichts zu wünschen laßt, die aber gerade des¬
wegen für unsre Rechtschreibung sehr bezeichnend sein würde. Es ist eben
. unmöglich, einen einigermaßen zutreffenden einheitlichen Grundsatz für sie auf¬
zustellen, da sie das Ergebnis einer jahrhundertelangen und durch mannigfache
Rücksichten beeinflußten Entwicklung ist, wie denn mich das neue Negelbuch
gleich als "Zweite Hauptregel" ein Zugeständnis an die historische Richtung
hinzufügt.

Mehr noch als das Mißverhältnis zwischen Lauten und Buchstabe" ist
es etwas andres, was diese "Erste Hauptregel" wertlos, ja sogar bedenklich
erscheinen läßt, nämlich die Voraussetzung richtiger Aussprache. Was soll der
Schüler hiermit anfangen? Haben wir dem? überhaupt eine allgemein giltige
richtige Aussprache? Die in den amtlichen Bestimmungen der ersten Haupt¬
regel beigegebnen sechs Beispiele sind gmiz gewiß mit peinlichster Sorgfalt
ausgewühlt worden, um die Regel nach Möglichkeit zu stützen. Drei davon,
die sich auf die Aussprache von Selbstlauter beziehn, lassen wir uns gefallen:
Kiste -- Küste, liegen -- lügen, heilen -- heulen, allenfalls auch noch: be¬
gleiten bekleiden. Dann aber: weiser -- weißer, da ist ausschließlich der
norddeutschen, und beim sechsten Beispiele: Fluch -- Flug -- Pflug ist ein¬
seitig der süddeutschen Aussprache Rechnung getragen, und auch dieser nur bis
etwa südlich vom Neckar bei Heilbronn; was darüber hiunuswohnt, macht im
Sprechen keinen Unterschied zwischen Fluch und Flug. Wonach soll sich also
der gewissenhafte Besolger der ersten Hauptregel richte"? Halt, da kommt
uns ein rettender Gedanke. Willst d" genau erfahren, was sich ziemt, so frage
nur -- bei der Kommission zur Regelung der deutscheu Bühnenaussprache an,
die vom 14. bis 16. April 1893 in Berlin getagt hat, die muß es doch wissen.
Also gut, wir nehmen die bekannte Broschüre von Professor sichs in Greifs¬
wald zur Hand, in der die Ergebnisse dieser Beratungen niedergelegt sind,
und blättern darin. Da lesen wir: "Langes ö (weder zu dumpf noch zu hell)
^ zu sprechen, wo die Schreibung aa, ah oder t(h)a zeigt -- langes ge¬
schlossenes i, wenn die Schreibung le oder ich zeigt -- gehauchtes oder stimm¬
loses t, wo t (es) oder et (de) geschrieben wird usw." Also die Aussprache¬
kommission verweist uns, natürlich auch wieder mit vielen Ausnahmen - - ans
die Rechtschreibung! Somit wären wir in der schönsten Kreisbewegung drin,
aber -- es ist ein elrvulus vitiosus.

Uns liegt nichts ferner, als der Kommission hieraus einen Vorwurf zu
wachen; im Gegenteil, sie ist in ihrem vollen Rechte. Die Sache liegt doch
so- Die Sprache ist natürlich älter als die Schrift, diese sucht das gesprochne
Wort so genau als möglich wiederzugeben, wird aber ihren Zweck immer nur
bis zu einem gewissen Grade erreichen. Dagegen die über den landschaftlichen
Verschiedenheiten stehende Aussprache der Gebildeten oder der Bühnen, soweit


Kur neuen Rechtschreibung

denn auch an, daß eine vollständigere Zusammenfassung der Grundsätze unsrer
Rechtschreibung in dem alten Leitsätze Adelungs enthalte!? sein würde: „Mau
schreibe das Deutsche mit den eingeführten Schriftzeichen, so wie man spricht,
der allgemeinen besten Aussprache gemäß, mit Beobachtung der erweislichen
nächsten Abstammung und des allgemeinen Gebrauchs," in der Tat eine Haupt¬
regel, die an Unbestimmtheit nichts zu wünschen laßt, die aber gerade des¬
wegen für unsre Rechtschreibung sehr bezeichnend sein würde. Es ist eben
. unmöglich, einen einigermaßen zutreffenden einheitlichen Grundsatz für sie auf¬
zustellen, da sie das Ergebnis einer jahrhundertelangen und durch mannigfache
Rücksichten beeinflußten Entwicklung ist, wie denn mich das neue Negelbuch
gleich als „Zweite Hauptregel" ein Zugeständnis an die historische Richtung
hinzufügt.

Mehr noch als das Mißverhältnis zwischen Lauten und Buchstabe» ist
es etwas andres, was diese „Erste Hauptregel" wertlos, ja sogar bedenklich
erscheinen läßt, nämlich die Voraussetzung richtiger Aussprache. Was soll der
Schüler hiermit anfangen? Haben wir dem? überhaupt eine allgemein giltige
richtige Aussprache? Die in den amtlichen Bestimmungen der ersten Haupt¬
regel beigegebnen sechs Beispiele sind gmiz gewiß mit peinlichster Sorgfalt
ausgewühlt worden, um die Regel nach Möglichkeit zu stützen. Drei davon,
die sich auf die Aussprache von Selbstlauter beziehn, lassen wir uns gefallen:
Kiste — Küste, liegen — lügen, heilen — heulen, allenfalls auch noch: be¬
gleiten bekleiden. Dann aber: weiser — weißer, da ist ausschließlich der
norddeutschen, und beim sechsten Beispiele: Fluch — Flug — Pflug ist ein¬
seitig der süddeutschen Aussprache Rechnung getragen, und auch dieser nur bis
etwa südlich vom Neckar bei Heilbronn; was darüber hiunuswohnt, macht im
Sprechen keinen Unterschied zwischen Fluch und Flug. Wonach soll sich also
der gewissenhafte Besolger der ersten Hauptregel richte»? Halt, da kommt
uns ein rettender Gedanke. Willst d» genau erfahren, was sich ziemt, so frage
nur — bei der Kommission zur Regelung der deutscheu Bühnenaussprache an,
die vom 14. bis 16. April 1893 in Berlin getagt hat, die muß es doch wissen.
Also gut, wir nehmen die bekannte Broschüre von Professor sichs in Greifs¬
wald zur Hand, in der die Ergebnisse dieser Beratungen niedergelegt sind,
und blättern darin. Da lesen wir: „Langes ö (weder zu dumpf noch zu hell)
^ zu sprechen, wo die Schreibung aa, ah oder t(h)a zeigt — langes ge¬
schlossenes i, wenn die Schreibung le oder ich zeigt — gehauchtes oder stimm¬
loses t, wo t (es) oder et (de) geschrieben wird usw." Also die Aussprache¬
kommission verweist uns, natürlich auch wieder mit vielen Ausnahmen - - ans
die Rechtschreibung! Somit wären wir in der schönsten Kreisbewegung drin,
aber — es ist ein elrvulus vitiosus.

Uns liegt nichts ferner, als der Kommission hieraus einen Vorwurf zu
wachen; im Gegenteil, sie ist in ihrem vollen Rechte. Die Sache liegt doch
so- Die Sprache ist natürlich älter als die Schrift, diese sucht das gesprochne
Wort so genau als möglich wiederzugeben, wird aber ihren Zweck immer nur
bis zu einem gewissen Grade erreichen. Dagegen die über den landschaftlichen
Verschiedenheiten stehende Aussprache der Gebildeten oder der Bühnen, soweit


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[0789] Kur neuen Rechtschreibung denn auch an, daß eine vollständigere Zusammenfassung der Grundsätze unsrer Rechtschreibung in dem alten Leitsätze Adelungs enthalte!? sein würde: „Mau schreibe das Deutsche mit den eingeführten Schriftzeichen, so wie man spricht, der allgemeinen besten Aussprache gemäß, mit Beobachtung der erweislichen nächsten Abstammung und des allgemeinen Gebrauchs," in der Tat eine Haupt¬ regel, die an Unbestimmtheit nichts zu wünschen laßt, die aber gerade des¬ wegen für unsre Rechtschreibung sehr bezeichnend sein würde. Es ist eben . unmöglich, einen einigermaßen zutreffenden einheitlichen Grundsatz für sie auf¬ zustellen, da sie das Ergebnis einer jahrhundertelangen und durch mannigfache Rücksichten beeinflußten Entwicklung ist, wie denn mich das neue Negelbuch gleich als „Zweite Hauptregel" ein Zugeständnis an die historische Richtung hinzufügt. Mehr noch als das Mißverhältnis zwischen Lauten und Buchstabe» ist es etwas andres, was diese „Erste Hauptregel" wertlos, ja sogar bedenklich erscheinen läßt, nämlich die Voraussetzung richtiger Aussprache. Was soll der Schüler hiermit anfangen? Haben wir dem? überhaupt eine allgemein giltige richtige Aussprache? Die in den amtlichen Bestimmungen der ersten Haupt¬ regel beigegebnen sechs Beispiele sind gmiz gewiß mit peinlichster Sorgfalt ausgewühlt worden, um die Regel nach Möglichkeit zu stützen. Drei davon, die sich auf die Aussprache von Selbstlauter beziehn, lassen wir uns gefallen: Kiste — Küste, liegen — lügen, heilen — heulen, allenfalls auch noch: be¬ gleiten bekleiden. Dann aber: weiser — weißer, da ist ausschließlich der norddeutschen, und beim sechsten Beispiele: Fluch — Flug — Pflug ist ein¬ seitig der süddeutschen Aussprache Rechnung getragen, und auch dieser nur bis etwa südlich vom Neckar bei Heilbronn; was darüber hiunuswohnt, macht im Sprechen keinen Unterschied zwischen Fluch und Flug. Wonach soll sich also der gewissenhafte Besolger der ersten Hauptregel richte»? Halt, da kommt uns ein rettender Gedanke. Willst d» genau erfahren, was sich ziemt, so frage nur — bei der Kommission zur Regelung der deutscheu Bühnenaussprache an, die vom 14. bis 16. April 1893 in Berlin getagt hat, die muß es doch wissen. Also gut, wir nehmen die bekannte Broschüre von Professor sichs in Greifs¬ wald zur Hand, in der die Ergebnisse dieser Beratungen niedergelegt sind, und blättern darin. Da lesen wir: „Langes ö (weder zu dumpf noch zu hell) ^ zu sprechen, wo die Schreibung aa, ah oder t(h)a zeigt — langes ge¬ schlossenes i, wenn die Schreibung le oder ich zeigt — gehauchtes oder stimm¬ loses t, wo t (es) oder et (de) geschrieben wird usw." Also die Aussprache¬ kommission verweist uns, natürlich auch wieder mit vielen Ausnahmen - - ans die Rechtschreibung! Somit wären wir in der schönsten Kreisbewegung drin, aber — es ist ein elrvulus vitiosus. Uns liegt nichts ferner, als der Kommission hieraus einen Vorwurf zu wachen; im Gegenteil, sie ist in ihrem vollen Rechte. Die Sache liegt doch so- Die Sprache ist natürlich älter als die Schrift, diese sucht das gesprochne Wort so genau als möglich wiederzugeben, wird aber ihren Zweck immer nur bis zu einem gewissen Grade erreichen. Dagegen die über den landschaftlichen Verschiedenheiten stehende Aussprache der Gebildeten oder der Bühnen, soweit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/789>, abgerufen am 24.11.2024.