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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Zur neuen Rechtschreibung

le neue deutsche Rechtschreibung, nach den Beschlüssen der ortho¬
graphischen Junikonferenz des Jahres 1901 von Deutschland,
Österreich, der Schweiz und den Deutschen Nordamerikas an¬
genommen, ist nunmehr zur Tatsache geworden. Die Behörden
sind dieses mal mit dem guten Beispiele vorangegangen, sie richten
sich schon seit dem 1. Januar dieses Jahres nach ihr, und für Ostern steht
die Einführung in den Schulen bevor. Wie viel Jubelhymnen in gebundner
und ungebundner Rede sind schon erklungen, daß die Rechtschreibung jetzt ein¬
heitlich geregelt ist, "so weit die deutsche Zunge klingt." Und wer wollte sich
nicht herzlich darüber freuen, daß damit wieder ein Bollwerk gefallen ist, wo
hinein sich deutsche Sondertümelei flüchten konnte? Wohl war schon 1880
der orthographischen Willkür, die bis dahin im Deutschen Reiche geherrscht hatte,
dadurch ein Riegel vorgeschoben worden, daß die höchsten Behörden für die
Schulen eine bestimmte Rechtschreibung, die sogenannte Puttkamcrsche oder,
wie man treffender sagen sollte, die Raumersche, vorschrieben. Wer aber da¬
mals gehofft hatte, damit sei die Absicht verbunden, bei der Jugend anzu¬
fangen, damit die Erwachsenen allmählich nachfolgen sollten, der sah sich bitter
enttäuscht. Im Gegenteil, dieselben höchsten Behörden, von denen die An¬
ordnung ausgegangen war, und alle unter ihnen stehenden Ämter, staatliche
sowohl als städtische, verhielten sich schroff ablehnend dagegen; und wer in
den letzten zwei Jahrzehnten in den öffentlichen Dienst trat, sah sich genötigt,
das in der Schule Gelernte so schnell wie möglich wieder zu vergessen. Selt¬
sam genug: das Ausland zeigte uns die rechte Verwertung dessen, was deutscher
Gelehrtenfleiß geschaffen hatte, Österreich und die Schweiz nahmen 1839 und
1892 die Schulrechtschreibung des Deutschen Reichs mit wenigen Abweichungen
an, machten sie aber zugleich auch maßgebend für den amtlichen Verkehr. Im
Deutschen Reiche selber dagegen bestand der unnatürliche und unwürdige Zu¬
stand weiter fort, und es war kein Wunder, daß sich auch einzelne Zeitungen,
Zeitschriften und Druckereien nicht veranlaßt sahen, ihre oft wohlerwognen
und folgerichtig durchgeführten Hansorthographien aufzugeben. Ja es fehlte
wenig daran, daß ein gutgemeinter Versuch, dem deutschen Volke zu einer
einheitlichen Rechtschreibung zu verhelfen, aus Versehen eine dieser Hausortho-
gwphieu, nämlich die der Reichsdruckerei, wie sie im neuen Bürgerlichen Gesetz¬
buch Anwendung gefunden hatte, zur Neichsorthographie erhob!

Gewiß, die Freude über das Erreichte ist, besonders dem frühern Wirrwarr
gegenüber, vollauf berechtigt. Auch die Grenzboten teilen sie und haben sich pünkt¬
lich am 1. Januar die neue Rechtschreibung angeeignet, nicht weil sie in ihr das




Zur neuen Rechtschreibung

le neue deutsche Rechtschreibung, nach den Beschlüssen der ortho¬
graphischen Junikonferenz des Jahres 1901 von Deutschland,
Österreich, der Schweiz und den Deutschen Nordamerikas an¬
genommen, ist nunmehr zur Tatsache geworden. Die Behörden
sind dieses mal mit dem guten Beispiele vorangegangen, sie richten
sich schon seit dem 1. Januar dieses Jahres nach ihr, und für Ostern steht
die Einführung in den Schulen bevor. Wie viel Jubelhymnen in gebundner
und ungebundner Rede sind schon erklungen, daß die Rechtschreibung jetzt ein¬
heitlich geregelt ist, „so weit die deutsche Zunge klingt." Und wer wollte sich
nicht herzlich darüber freuen, daß damit wieder ein Bollwerk gefallen ist, wo
hinein sich deutsche Sondertümelei flüchten konnte? Wohl war schon 1880
der orthographischen Willkür, die bis dahin im Deutschen Reiche geherrscht hatte,
dadurch ein Riegel vorgeschoben worden, daß die höchsten Behörden für die
Schulen eine bestimmte Rechtschreibung, die sogenannte Puttkamcrsche oder,
wie man treffender sagen sollte, die Raumersche, vorschrieben. Wer aber da¬
mals gehofft hatte, damit sei die Absicht verbunden, bei der Jugend anzu¬
fangen, damit die Erwachsenen allmählich nachfolgen sollten, der sah sich bitter
enttäuscht. Im Gegenteil, dieselben höchsten Behörden, von denen die An¬
ordnung ausgegangen war, und alle unter ihnen stehenden Ämter, staatliche
sowohl als städtische, verhielten sich schroff ablehnend dagegen; und wer in
den letzten zwei Jahrzehnten in den öffentlichen Dienst trat, sah sich genötigt,
das in der Schule Gelernte so schnell wie möglich wieder zu vergessen. Selt¬
sam genug: das Ausland zeigte uns die rechte Verwertung dessen, was deutscher
Gelehrtenfleiß geschaffen hatte, Österreich und die Schweiz nahmen 1839 und
1892 die Schulrechtschreibung des Deutschen Reichs mit wenigen Abweichungen
an, machten sie aber zugleich auch maßgebend für den amtlichen Verkehr. Im
Deutschen Reiche selber dagegen bestand der unnatürliche und unwürdige Zu¬
stand weiter fort, und es war kein Wunder, daß sich auch einzelne Zeitungen,
Zeitschriften und Druckereien nicht veranlaßt sahen, ihre oft wohlerwognen
und folgerichtig durchgeführten Hansorthographien aufzugeben. Ja es fehlte
wenig daran, daß ein gutgemeinter Versuch, dem deutschen Volke zu einer
einheitlichen Rechtschreibung zu verhelfen, aus Versehen eine dieser Hausortho-
gwphieu, nämlich die der Reichsdruckerei, wie sie im neuen Bürgerlichen Gesetz¬
buch Anwendung gefunden hatte, zur Neichsorthographie erhob!

Gewiß, die Freude über das Erreichte ist, besonders dem frühern Wirrwarr
gegenüber, vollauf berechtigt. Auch die Grenzboten teilen sie und haben sich pünkt¬
lich am 1. Januar die neue Rechtschreibung angeeignet, nicht weil sie in ihr das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/787>, abgerufen am 24.11.2024.