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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Eduard Mörike als Künstler

Zum Schluß zwei Beispiele für die Art, wie Mörike künstlerisch gestaltete.
In dem Teil des Nachlasses, den mir des Dichters Familie zur Verfügung
gestellt hat, finden sich zwei bisher ungedruckte Gedichte, die als Beispiel be¬
sonders geeignet sind; das eine ist überschrieben "Zu Neujahr 1845," das
andre "A. W.," d. h. An Wilhelm (gemeint ist Hartlaub), "Cleversulzbach,
3. Februar 1842"; es lautet wörtlich:

Du klagst, o Lieber, daß dich die züchtigste
Der Frauen verschmäht, die fromme Theresia:
Geduld! noch leben wir im Jenner,
Aber nicht stets wird der Weißflog stöbern.
Im Winkel, wo sich einsam des Daches Trans
In morscher Rinne sickernd vereiniget,
Starkmannsdick, zuckerkandelartig
schimmernd ein sechsfach verwachsener Eiszapf,
Bald wehen holde Lüfte den Frühling her,
Die Viper sonnt am bröckelndem Felsen sich,
Es blüht die Aristolochie
Purpurn dem Tage, der dich geboren.
Wenn dann von jenem eisigen Ungetüm
Auch nur die kleinste Spur noch zu finden ist,
Will ich echt Hagelsperger Kröpfe
Kriegen und gehn auf des Grünspechts Füßen,

Die Ode ist, wie sie dasteht, nur dem Dichter und seiner nächsten Um¬
gebung verständlich, sie hat für jenen und für diese vor allem persönlichen,
lebensgeschichtlicher Wert; sie ist also ein Gelegenheitsgedicht, das der Er¬
klärung bedarf, wenn es andre versteh" sollen. Das Ganze ist ein Scherz,
der auf Hartlaub gemünzt war. Die in der ersten Strophe genannte fromme
Theresia war die Frau von Mörikes damaligem Hausarzt, genannt der Wei߬
flog, der in der rauhen Jahreszeit im weißen Flause nuszufahren pflegte und
zu dieser Zeit den Namen der Giftpflanze Aristolochie bestündig im Munde
führte; die "Viper" enthält ebenfalls eine persönliche Anspielung, die Hagels¬
perger Kröpfe scheinen für besonders ansehnlich gegolten zu haben, und die
letzte Zeile bekam für Hartlaub dadurch eine besondre Färbung, daß sie an
des Dichters Zornüußernng erinnerte: "Da möchte einer ja gleich Knotenfüße
kriegen." In Wirklichkeit wurde die "fromme Theresia" dem Freunde Hart¬
laub durch ihre liebenswürdige Aufdringlichkeit lästig, hier stellt ihn der Schalk
als den Verliebten hin.

Indem später der Künstler Mörike alles bloß Subjektive abstieß, das
vermeintliche Liebesobjekt verjüngte, die Form abrundete und dem Naturvor¬
gänge dadurch eine größere Fülle verlieh, daß er hinter der dritten Strophe
ein Bruchstück, das sich ebenfalls im Nachlaß findet, einschob, machte er aus
dem Gelegenheitsstück -- hier gleichsam sein Modell -- ein kleines Kunstwerk,
dessen Anfang deutlich genug einen horazischen Anklang zeigt. Nun lautet
das Gedicht (Sammlung S. 295) folgendermaßen:

An einen Liebenden,
Du klagst mir, Freund, daß immer die Mutter noch
Des schönen Kindes gleich unerbittlich sei,
Geduld! noch leben wir im Jenner,
Aber nicht stets wird der Eiswind schnauben.

Eduard Mörike als Künstler

Zum Schluß zwei Beispiele für die Art, wie Mörike künstlerisch gestaltete.
In dem Teil des Nachlasses, den mir des Dichters Familie zur Verfügung
gestellt hat, finden sich zwei bisher ungedruckte Gedichte, die als Beispiel be¬
sonders geeignet sind; das eine ist überschrieben „Zu Neujahr 1845," das
andre „A. W.," d. h. An Wilhelm (gemeint ist Hartlaub), „Cleversulzbach,
3. Februar 1842"; es lautet wörtlich:

Du klagst, o Lieber, daß dich die züchtigste
Der Frauen verschmäht, die fromme Theresia:
Geduld! noch leben wir im Jenner,
Aber nicht stets wird der Weißflog stöbern.
Im Winkel, wo sich einsam des Daches Trans
In morscher Rinne sickernd vereiniget,
Starkmannsdick, zuckerkandelartig
schimmernd ein sechsfach verwachsener Eiszapf,
Bald wehen holde Lüfte den Frühling her,
Die Viper sonnt am bröckelndem Felsen sich,
Es blüht die Aristolochie
Purpurn dem Tage, der dich geboren.
Wenn dann von jenem eisigen Ungetüm
Auch nur die kleinste Spur noch zu finden ist,
Will ich echt Hagelsperger Kröpfe
Kriegen und gehn auf des Grünspechts Füßen,

Die Ode ist, wie sie dasteht, nur dem Dichter und seiner nächsten Um¬
gebung verständlich, sie hat für jenen und für diese vor allem persönlichen,
lebensgeschichtlicher Wert; sie ist also ein Gelegenheitsgedicht, das der Er¬
klärung bedarf, wenn es andre versteh« sollen. Das Ganze ist ein Scherz,
der auf Hartlaub gemünzt war. Die in der ersten Strophe genannte fromme
Theresia war die Frau von Mörikes damaligem Hausarzt, genannt der Wei߬
flog, der in der rauhen Jahreszeit im weißen Flause nuszufahren pflegte und
zu dieser Zeit den Namen der Giftpflanze Aristolochie bestündig im Munde
führte; die „Viper" enthält ebenfalls eine persönliche Anspielung, die Hagels¬
perger Kröpfe scheinen für besonders ansehnlich gegolten zu haben, und die
letzte Zeile bekam für Hartlaub dadurch eine besondre Färbung, daß sie an
des Dichters Zornüußernng erinnerte: „Da möchte einer ja gleich Knotenfüße
kriegen." In Wirklichkeit wurde die „fromme Theresia" dem Freunde Hart¬
laub durch ihre liebenswürdige Aufdringlichkeit lästig, hier stellt ihn der Schalk
als den Verliebten hin.

Indem später der Künstler Mörike alles bloß Subjektive abstieß, das
vermeintliche Liebesobjekt verjüngte, die Form abrundete und dem Naturvor¬
gänge dadurch eine größere Fülle verlieh, daß er hinter der dritten Strophe
ein Bruchstück, das sich ebenfalls im Nachlaß findet, einschob, machte er aus
dem Gelegenheitsstück — hier gleichsam sein Modell — ein kleines Kunstwerk,
dessen Anfang deutlich genug einen horazischen Anklang zeigt. Nun lautet
das Gedicht (Sammlung S. 295) folgendermaßen:

An einen Liebenden,
Du klagst mir, Freund, daß immer die Mutter noch
Des schönen Kindes gleich unerbittlich sei,
Geduld! noch leben wir im Jenner,
Aber nicht stets wird der Eiswind schnauben.

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[0730] Eduard Mörike als Künstler Zum Schluß zwei Beispiele für die Art, wie Mörike künstlerisch gestaltete. In dem Teil des Nachlasses, den mir des Dichters Familie zur Verfügung gestellt hat, finden sich zwei bisher ungedruckte Gedichte, die als Beispiel be¬ sonders geeignet sind; das eine ist überschrieben „Zu Neujahr 1845," das andre „A. W.," d. h. An Wilhelm (gemeint ist Hartlaub), „Cleversulzbach, 3. Februar 1842"; es lautet wörtlich: Du klagst, o Lieber, daß dich die züchtigste Der Frauen verschmäht, die fromme Theresia: Geduld! noch leben wir im Jenner, Aber nicht stets wird der Weißflog stöbern. Im Winkel, wo sich einsam des Daches Trans In morscher Rinne sickernd vereiniget, Starkmannsdick, zuckerkandelartig schimmernd ein sechsfach verwachsener Eiszapf, Bald wehen holde Lüfte den Frühling her, Die Viper sonnt am bröckelndem Felsen sich, Es blüht die Aristolochie Purpurn dem Tage, der dich geboren. Wenn dann von jenem eisigen Ungetüm Auch nur die kleinste Spur noch zu finden ist, Will ich echt Hagelsperger Kröpfe Kriegen und gehn auf des Grünspechts Füßen, Die Ode ist, wie sie dasteht, nur dem Dichter und seiner nächsten Um¬ gebung verständlich, sie hat für jenen und für diese vor allem persönlichen, lebensgeschichtlicher Wert; sie ist also ein Gelegenheitsgedicht, das der Er¬ klärung bedarf, wenn es andre versteh« sollen. Das Ganze ist ein Scherz, der auf Hartlaub gemünzt war. Die in der ersten Strophe genannte fromme Theresia war die Frau von Mörikes damaligem Hausarzt, genannt der Wei߬ flog, der in der rauhen Jahreszeit im weißen Flause nuszufahren pflegte und zu dieser Zeit den Namen der Giftpflanze Aristolochie bestündig im Munde führte; die „Viper" enthält ebenfalls eine persönliche Anspielung, die Hagels¬ perger Kröpfe scheinen für besonders ansehnlich gegolten zu haben, und die letzte Zeile bekam für Hartlaub dadurch eine besondre Färbung, daß sie an des Dichters Zornüußernng erinnerte: „Da möchte einer ja gleich Knotenfüße kriegen." In Wirklichkeit wurde die „fromme Theresia" dem Freunde Hart¬ laub durch ihre liebenswürdige Aufdringlichkeit lästig, hier stellt ihn der Schalk als den Verliebten hin. Indem später der Künstler Mörike alles bloß Subjektive abstieß, das vermeintliche Liebesobjekt verjüngte, die Form abrundete und dem Naturvor¬ gänge dadurch eine größere Fülle verlieh, daß er hinter der dritten Strophe ein Bruchstück, das sich ebenfalls im Nachlaß findet, einschob, machte er aus dem Gelegenheitsstück — hier gleichsam sein Modell — ein kleines Kunstwerk, dessen Anfang deutlich genug einen horazischen Anklang zeigt. Nun lautet das Gedicht (Sammlung S. 295) folgendermaßen: An einen Liebenden, Du klagst mir, Freund, daß immer die Mutter noch Des schönen Kindes gleich unerbittlich sei, Geduld! noch leben wir im Jenner, Aber nicht stets wird der Eiswind schnauben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/730>, abgerufen am 24.11.2024.