Häusern nicht untergebracht werden können, so ist das Gemeindesache, und wenn ein solcher Zustand in mehreren, in vielen Gemeinden vorkommen sollte, so müßte der Staat nachsehen, wie diese Gemeinden mit diesen Schwierigkeiten fertig werden, Oder vielleicht auch das Reich, wenn, wie in Hamburg, Stadt und Staat zusammenfallen, besonders, da das Reich zum Teil an den dortigen Übelständen schuld ist. Des Zollanschlusses wegen mußte vor fünfzehn Jahren der ganze Stadtteil Steinwärder rasiert werden. Sechstausend Familien wurden obdachlos und mußten meistens in das durch seine luftlosen Gänge und Höfe berüchtigte Viertel ziehn. Dessen Häuser wurden nun durch Über¬ füllung sehr ertragreich. Da kam die Cholera, und die allgemeine Meinung erzwang einen Sanierungsplan, für den zunächst 7^ Millionen Mark be¬ willigt wurden. Wie der Frankfurter Zeitung aus Hamburg geschrieben wird (siehe die Nummer vom 18. Januar), hat die Grundbesitzerpartei die Aus¬ führung des Plans solange wie möglich verzögert. Vor zwei Jahren soll sogar ein Mitglied der Bürgerschaft offenherzig bekannt haben, die Sanierung sei nur zur Beschwichtigung der öffentlichen Meinung versprochen, aber nicht im Ernste beabsichtigt gewesen. Mittlerweile hat man jedoch damit den An¬ fang gemacht, und sogar die .Hausbesitzerpartei soll sich jetzt davon überzeugt haben, daß das ganze Gangviertel beseitigt werden müsse. Aber dabei tauchen immer neue Schwierigkeiten auf -- infolge der nachlässigen Behandlung der Angelegenheit und des langen Zögerns, behauptet der Korrespondent der Frankfurter Zeitung. Zwei "Sanieruugsbezirke" seien schon abgebrochen worden; am 1. April solle mit dem Abbruch des dritten begonnen werden, aber die für dessen Bewohner in Aussicht genommenen Arbeiterhäuser seien größtenteils schon von andern Mietern besetzt worden, sodaß man wieder zu den Cholerabaracken seine Zuflucht werde nehmen müssen. Gewiß ist das Wohnungmieten eine persönliche Angelegenheit, aber ein paar tausend persön¬ liche Angelegenheiten von gleicher und zwar schlimmer Art machen eine öffent¬ liche Angelegenheit. Das allerprivatestc Bedürfnis, das es überhaupt gibt, darf seit etwa fünfzig Jahren in keiner großen und keiner Mittelstadt mehr nach privatem Belieben befriedigt werden; eine der größten kommunalen Ver¬ anstaltungen, die Kanalisation, ordnet die Art der Befriedigung. In einer Stadt von 20000 Einwohnern sind fünfhundert Erkrankungen verschiedner Art ebensoviel persönliche wie Familienangelegenheiten; aber tausend Er¬ krankungen derselben Art, z. B. an Cholera oder Typhus, oder an den Pocken oder Masern nennt man eine Epidemie, und die wird unter allgemeiner Zu¬ stimmung als eine öffentliche Angelegenheit behandelt. Wenn Grüvell hervor¬ hebt, daß die Wohnungsnot nur lokal sei, so ist das freilich richtig. Keine Not tritt in der vierten Dimension, sondern jede tritt an irdischen Orten "uf; es fragt sich nur, ob die Orte so bedeutend und so zahlreich sind, daß die Sorge des Staates um sie gerechtfertigt erscheint; die Mehrzahl der Be¬ hörden scheint die Frage zu bejahen. Wenn dann aber Grüvell weiter meint, der Staat könne nichts dagegen tun, weil er die lokalen Ursachen der Not nicht zu heben vermöge, so ist das falsch, wie wir an Neapel gesehen haben "ut an Hamburg sehen würden, wenn es eine preußische Provinzstadt wäre,
Die Baugenossenschaften und die Wohnungsfrage
Häusern nicht untergebracht werden können, so ist das Gemeindesache, und wenn ein solcher Zustand in mehreren, in vielen Gemeinden vorkommen sollte, so müßte der Staat nachsehen, wie diese Gemeinden mit diesen Schwierigkeiten fertig werden, Oder vielleicht auch das Reich, wenn, wie in Hamburg, Stadt und Staat zusammenfallen, besonders, da das Reich zum Teil an den dortigen Übelständen schuld ist. Des Zollanschlusses wegen mußte vor fünfzehn Jahren der ganze Stadtteil Steinwärder rasiert werden. Sechstausend Familien wurden obdachlos und mußten meistens in das durch seine luftlosen Gänge und Höfe berüchtigte Viertel ziehn. Dessen Häuser wurden nun durch Über¬ füllung sehr ertragreich. Da kam die Cholera, und die allgemeine Meinung erzwang einen Sanierungsplan, für den zunächst 7^ Millionen Mark be¬ willigt wurden. Wie der Frankfurter Zeitung aus Hamburg geschrieben wird (siehe die Nummer vom 18. Januar), hat die Grundbesitzerpartei die Aus¬ führung des Plans solange wie möglich verzögert. Vor zwei Jahren soll sogar ein Mitglied der Bürgerschaft offenherzig bekannt haben, die Sanierung sei nur zur Beschwichtigung der öffentlichen Meinung versprochen, aber nicht im Ernste beabsichtigt gewesen. Mittlerweile hat man jedoch damit den An¬ fang gemacht, und sogar die .Hausbesitzerpartei soll sich jetzt davon überzeugt haben, daß das ganze Gangviertel beseitigt werden müsse. Aber dabei tauchen immer neue Schwierigkeiten auf — infolge der nachlässigen Behandlung der Angelegenheit und des langen Zögerns, behauptet der Korrespondent der Frankfurter Zeitung. Zwei „Sanieruugsbezirke" seien schon abgebrochen worden; am 1. April solle mit dem Abbruch des dritten begonnen werden, aber die für dessen Bewohner in Aussicht genommenen Arbeiterhäuser seien größtenteils schon von andern Mietern besetzt worden, sodaß man wieder zu den Cholerabaracken seine Zuflucht werde nehmen müssen. Gewiß ist das Wohnungmieten eine persönliche Angelegenheit, aber ein paar tausend persön¬ liche Angelegenheiten von gleicher und zwar schlimmer Art machen eine öffent¬ liche Angelegenheit. Das allerprivatestc Bedürfnis, das es überhaupt gibt, darf seit etwa fünfzig Jahren in keiner großen und keiner Mittelstadt mehr nach privatem Belieben befriedigt werden; eine der größten kommunalen Ver¬ anstaltungen, die Kanalisation, ordnet die Art der Befriedigung. In einer Stadt von 20000 Einwohnern sind fünfhundert Erkrankungen verschiedner Art ebensoviel persönliche wie Familienangelegenheiten; aber tausend Er¬ krankungen derselben Art, z. B. an Cholera oder Typhus, oder an den Pocken oder Masern nennt man eine Epidemie, und die wird unter allgemeiner Zu¬ stimmung als eine öffentliche Angelegenheit behandelt. Wenn Grüvell hervor¬ hebt, daß die Wohnungsnot nur lokal sei, so ist das freilich richtig. Keine Not tritt in der vierten Dimension, sondern jede tritt an irdischen Orten "uf; es fragt sich nur, ob die Orte so bedeutend und so zahlreich sind, daß die Sorge des Staates um sie gerechtfertigt erscheint; die Mehrzahl der Be¬ hörden scheint die Frage zu bejahen. Wenn dann aber Grüvell weiter meint, der Staat könne nichts dagegen tun, weil er die lokalen Ursachen der Not nicht zu heben vermöge, so ist das falsch, wie wir an Neapel gesehen haben "ut an Hamburg sehen würden, wenn es eine preußische Provinzstadt wäre,
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[0709]
Die Baugenossenschaften und die Wohnungsfrage
Häusern nicht untergebracht werden können, so ist das Gemeindesache, und
wenn ein solcher Zustand in mehreren, in vielen Gemeinden vorkommen sollte,
so müßte der Staat nachsehen, wie diese Gemeinden mit diesen Schwierigkeiten
fertig werden, Oder vielleicht auch das Reich, wenn, wie in Hamburg, Stadt
und Staat zusammenfallen, besonders, da das Reich zum Teil an den dortigen
Übelständen schuld ist. Des Zollanschlusses wegen mußte vor fünfzehn Jahren
der ganze Stadtteil Steinwärder rasiert werden. Sechstausend Familien
wurden obdachlos und mußten meistens in das durch seine luftlosen Gänge
und Höfe berüchtigte Viertel ziehn. Dessen Häuser wurden nun durch Über¬
füllung sehr ertragreich. Da kam die Cholera, und die allgemeine Meinung
erzwang einen Sanierungsplan, für den zunächst 7^ Millionen Mark be¬
willigt wurden. Wie der Frankfurter Zeitung aus Hamburg geschrieben wird
(siehe die Nummer vom 18. Januar), hat die Grundbesitzerpartei die Aus¬
führung des Plans solange wie möglich verzögert. Vor zwei Jahren soll
sogar ein Mitglied der Bürgerschaft offenherzig bekannt haben, die Sanierung
sei nur zur Beschwichtigung der öffentlichen Meinung versprochen, aber nicht
im Ernste beabsichtigt gewesen. Mittlerweile hat man jedoch damit den An¬
fang gemacht, und sogar die .Hausbesitzerpartei soll sich jetzt davon überzeugt
haben, daß das ganze Gangviertel beseitigt werden müsse. Aber dabei tauchen
immer neue Schwierigkeiten auf — infolge der nachlässigen Behandlung der
Angelegenheit und des langen Zögerns, behauptet der Korrespondent der
Frankfurter Zeitung. Zwei „Sanieruugsbezirke" seien schon abgebrochen
worden; am 1. April solle mit dem Abbruch des dritten begonnen werden,
aber die für dessen Bewohner in Aussicht genommenen Arbeiterhäuser seien
größtenteils schon von andern Mietern besetzt worden, sodaß man wieder zu
den Cholerabaracken seine Zuflucht werde nehmen müssen. Gewiß ist das
Wohnungmieten eine persönliche Angelegenheit, aber ein paar tausend persön¬
liche Angelegenheiten von gleicher und zwar schlimmer Art machen eine öffent¬
liche Angelegenheit. Das allerprivatestc Bedürfnis, das es überhaupt gibt,
darf seit etwa fünfzig Jahren in keiner großen und keiner Mittelstadt mehr
nach privatem Belieben befriedigt werden; eine der größten kommunalen Ver¬
anstaltungen, die Kanalisation, ordnet die Art der Befriedigung. In einer
Stadt von 20000 Einwohnern sind fünfhundert Erkrankungen verschiedner
Art ebensoviel persönliche wie Familienangelegenheiten; aber tausend Er¬
krankungen derselben Art, z. B. an Cholera oder Typhus, oder an den Pocken
oder Masern nennt man eine Epidemie, und die wird unter allgemeiner Zu¬
stimmung als eine öffentliche Angelegenheit behandelt. Wenn Grüvell hervor¬
hebt, daß die Wohnungsnot nur lokal sei, so ist das freilich richtig. Keine
Not tritt in der vierten Dimension, sondern jede tritt an irdischen Orten
"uf; es fragt sich nur, ob die Orte so bedeutend und so zahlreich sind, daß
die Sorge des Staates um sie gerechtfertigt erscheint; die Mehrzahl der Be¬
hörden scheint die Frage zu bejahen. Wenn dann aber Grüvell weiter meint,
der Staat könne nichts dagegen tun, weil er die lokalen Ursachen der Not
nicht zu heben vermöge, so ist das falsch, wie wir an Neapel gesehen haben
"ut an Hamburg sehen würden, wenn es eine preußische Provinzstadt wäre,
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/709>, abgerufen am 24.11.2024.
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